https://jungle.world/artikel/2024/18/musikinstrumente-akkordeon-blockfloete-gitarre-phantome-der-kritik
Adorno befand das Akkordeon als ungeeignet für die musikalische Bildung, Ideologiekritiker bespötteln Gitarren als Klampfen, Blockflöten und Xylophone gelten als infantil. Was haben diese Instrumente ihren Verächtern angetan?
Als Student hat der Autor dieser Zeilen einmal den Fehler begangen, während eines Kneipenabends im Anschluss an einen Vortrag zu erwähnen, dass er das Chanson »Accordéon«, das Serge Gainsbourg 1962 für Juliette Gréco geschrieben hat, sehr liebe. Die versammelten Ideologiekritiker verschluckten sich an ihrem Bier und erklärten einhellig – je beharrlicher der Autor seinen Musikgeschmack verteidigte, desto vehementer –, dass es sich bei diesem Lied wie bei jeglicher Musik, bei der ein Akkordeon zum Einsatz komme, um regressiven Schund handele.
Die Nachfrage, was denn das Instrument an sich bereits zur Verkörperung von Regression mache, wurde damit beantwortet, dass in ihm Technik und Handwerk zur kulturindustriellen Ideologie des Authentischen verschmelzen würden. Hinweise auf Richard Wagner, Giacomo Puccini und Andrew Lloyd Webbers »Phantom der Oper« wurden eingestreut, und ein Adorno-Zitat über die Unbrauchbarkeit von Zieh- und Mundharmonika für die musikalische Bildung der Jugend brach die Diskussion eher ab, als sie zu beenden.
Nun ist Gainsbourgs Lied, das nach Gréco unter anderem von ihm selbst und von Alexandra interpretiert wurde, allerdings eher ein Fluch als eine Eloge auf das besungene Instrument. Das Akkordeon wird darin beschrieben als der einzige Freund des Straßenmusikanten, der beim Schlafen unter der Brücke neben ihm liegt, ihn in der Einsamkeit und im Suff begleitet und dessen penetrant-melancholischer Klang ihn mit der tyrannischen Verlässlichkeit eines Doppelgängers verfolgt, bis er seinem Leben ein Ende setzt und das Akkordeon endlich vergisst, als sich ihm der Himmel eröffnet.
Die Wurlitzer-Orgel, die als Emblem technischer Reproduzierbarkeit auch sogenannter klassischer Musik die Stummfilme in den Kinos der frühen dreißiger Jahre begleitete, war für Adorno Symptom einer zum kulturindustriellen Produkt heruntergebrachten einstmals bürgerlichen Kunst.
Zwar mögen Leute, denen die Kritische Theorie als Wurlitzer-Orgel des Geistes und der dialektische Widerspruch als Schmiermittel ihres Denkens dient, einwenden, dass Gainsbourgs Lied gerade durch solche Brechungen der Idealisierung von Armut und Kunsthandwerk zuarbeite. Das ändert aber nichts an der Originalität des Einfalls, die aufdringliche Redundanz und das Automatenhafte des Instruments zum Gegenstand wie zum Bewegungsgesetz des Liedes zu machen, mit dem Gainsbourg zugleich eine musikalische Phänomenologie des Ohrwurms als Klangformation liefert, die dem Zuhörer nicht nur sofort ein-, sondern auch unerwünscht nachgeht und in der der Refrain zum akustischen Stalking wird.
Die Wurlitzer-Orgel, die als Emblem technischer Reproduzierbarkeit auch sogenannter klassischer Musik die Stummfilme in den Kinos der frühen dreißiger Jahre begleitete, war für Adorno Symptom einer zum kulturindustriellen Produkt heruntergebrachten einstmals bürgerlichen Kunst, die alles, was im Konzert- und Kammermusiksaal Kristallisationsform individueller Geschmacksbildung gewesen ist, auf den Ungeschmack des freiwillig entmündigten Massenpublikums nivellierte. Als solches repräsentierte sie ebenso wie ihre für den Hausgebrauch produzierten handlicheren Neben- und Nachfolgeprodukte eine falsche, in sich selbst unwahre Technik.
Einer Kritik der Technik als Konstitutionsform der durch sie hervorgebrachten Musik widmete sich auch Adornos Polemik gegen die Ziehharmonika, die er in der »Einleitung in die Musiksoziologie« als Beispiel für die Zwangsversöhnung von industrieller Produktionsweise und Handwerkskunst denunzierte. Tatsächlich war das Musikinstrumentenhandwerk vor der bürgerlichen Ära, in der die Herstellung und Verwendung der verschiedenen Instrumente aufs Äußerste formsprachlich individualisiert wurden, Sache von auftragsgebundenen Handwerkern, deren Arbeit nicht an der ästhetischen Originalität der Werke gemessen wurde, die mittels ihrer Produkte entstanden, sondern an ihrer funktionalen Angemessenheit an den Zweck, für den sie hergestellt wurden. Handwerkliche Kunst und Genieästhetik, Gebrauchskunst und autonome Kunst stehen einander auch materialgeschichtlich nicht einfach gegenüber oder folgen aufeinander, sondern sie gehen auseinander hervor, koexistieren und kommen sich in die Quere.
Das auch von Adorno erwähnte süddeutsche Unternehmen Hohner, das 1857 gegründet wurde und Akkordeons, Mundharmonikas, Blockflöten und Gitarren herstellte, ist für diese Doppeldeutigkeit beispielhaft. Die durch die neuen technischen Möglichkeiten hervorgebrachte Reproduzierbarkeit des Originären, die massenhafte Produktion von Instrumenten zur Hervorbringung folkloristischer, authentischer Tonsignale war die Marktlücke, die es im Musikinstrumentenhandel besetzte. Da die Hohner-Instrumente auch im Jazz verwendet wurden, blieb dem Unternehmen der Nationalsozialismus fremd, obwohl es sich an die Machthaber anbiederte, Mundharmonikas mit Hakenkreuzen produzierte und durch die Nachfrage der Jugend-, Pfadfinder-und Sportbünde seinen Profit sicherte.
Die These einer partiellen Konvergenz zwischen US-amerikanischer und nationalsozialistischer Massenkultur, die im Kulturindustrie-Kapitel der »Dialektik der Aufklärung« zum Tragen kommt, wird insofern durch die Unternehmensgeschichte von Hohner bestätigt. Andererseits aber hat die Nähe zur populären Musik der Vereinigten Staaten den Betrieb davor bewahrt, restlos der propagandistischen Musikindustrie des »Dritten Reiches« subsumiert zu werden, und dazu beigetragen, dass Elemente des bürgerlichen Selbstverständnisses bis in die Zeit nach 1949 hinein bewahrt werden konnten. In der frühen Bundesrepublik wurde dann besonders das Akkordeon als Reminiszenz an die französische Unterhaltungskultur zum Emblem einer anarchischen Popularität, die dem deutschen Begriff von Volkskunst eher entgegenstand.
Auch Mundharmonika und Gitarre, deren Herstellung zum Portfolio von Hohner gehörten, waren nie nur Ausdruck jener rechts- und später linksvölkischen Regression, auf die eine geschichtsvergessene Ideologiekritik sie heute reduziert. Zwar haben die gesamtdeutschen Liedermacher – von Hannes Wader bis zu Wolf Biermann – seit den sechziger Jahren der Gitarre nicht nur ästhetisch, sondern nachgerade materiell irreparablen Schaden zugefügt (wer hört, wie Reinhard Mey den Saitenanschlag von Georges Brassens nachzumachen versucht, weiß, wovon die Rede ist), doch trotzdem hat sich ihre Verwendung nie in solcher Epigonalität erschöpft.
Das Ideologische, Verkehrte, Schlechte, das ihre Kritiker den Instrumenten attestieren, wohnt ihnen zwar als Tendenz, aber nicht als Telos inne.
In Westeuropa und den USA ohnehin nicht, aber auch nicht in Deutschland: Von Franz Josef Degenhardt bis zum Mundharmonikaeinsatz Funny van Dannens können Zungeninstrumente statt als Medien präfabrizierter schmalziger Kollektivität auch als Ausdrucksform nuancierter Individualität und Spontaneität gebraucht werden. Das Ideologische, Verkehrte, Schlechte, das ihre Kritiker diesen Instrumenten attestieren, wohnt ihnen zwar als Tendenz, aber nicht als Telos inne. Welchen Ausdruckswert und welche Klangfarbe sie jeweils gewinnen, lässt sich nur dem einzelnen Beispiel ablauschen.
Dass dennoch eine innere Verbundenheit der als pseudoauthentisch und folkloristisch kritisierten Instrumente mit der leeren Unendlichkeit und stumpfsinnigen Redundanz der Kulturindustrie besteht, zeigt nicht nur Gainsbourgs Chanson, in dem das Akkordeon denjenigen, dessen einziger Besitz es ist, plagt wie eine Obsession. Es zeigt sich etwa auch am Einsatz von Blockflöten, Xylophonen und anderen notorischen Schulinstrumenten in der Musik von Antifolk-Künstlern wie Kimya Dawson und Jeffrey Lewis oder im psychedelischen Folk-Pop von Coco Rosie, wo Kindermusikinstrumente sich in Wiederholungsschleifen winden, die das Moment mühsam gebannter Angst in Wiegenliedern und den Impuls der Selbstanästhesierung und -hypnotisierung im Kinderlied herausarbeiten und das Süßliche, Niedliche, Naive und Tumbe solcher Musik ins Desperate wenden.
Insofern ist der Einsatz dieser Instrumente tatsächlich, wie ihre Verächter erahnen, Zeugnis einer Wiederkehr des Falschen. Doch indem sich diese Wiederkehr der Musik und dem Hörer nötigend aufdrängt, werden die Instrumente zu mehr als nur zu einer Verdoppelung des Falschen. In ihnen wird das Hamsterrad, dessen monotones Quietschen in schlechter Musik von einer Abwechslung übertönt wird, die keine ist, in seiner ganzen Gewalt erfahrbar.