Wie prekär Musiker:innen leben – der Sammelband »Kommst du mit in den Alltag« hat Antworten

Nebenbei arbeiten

Im Sammelband »Kommst du mit in den Alltag?« sind 15 Gespräche mit Indie-Musikerinnen und -Musikern aus dem deutschsprachigen Raum versammelt, die darin über ihr oftmals wenig schillerndes Leben jenseits der Bühne Auskunft geben.

»Weißt du noch / Unter der alten Brücke / Wir hatten uns so fest geschworen / Anders zu sein als die Leute / In ihren Büros«, heißt es im Song »Kommst du mit in den Alltag?« der Band Jetzt! aus dem Jahr 1985, der jedoch größere Bekanntheit erst durch eine Coverversion von Blumfeld erlangte – ganze 14 Jahre später. Jetzt!-Sänger Michael Girke stand zu dem Zeitpunkt, als er den Song schrieb, kurz vor dem Abschluss seines Studiums und war zutiefst desillusioniert über die verpufften politischen Bemühungen der Achtundsechziger, die wenige Jahre zuvor noch zu seiner von hehren Idealen und Träumen geprägten Politisierung beigetragen hatten. Alles, was nun verblieb, war das nahende Leben in den Büros.

Neben Christiane Rösinger und Michael Girke sind unter anderem Fehlfarben-Sänger Peter Hein, Bernadette La Hengst, Tocotronic-Bassist Jan Müller, Messer-Frontmann Hendrik Otremba und Katharina Kollmann in dem Sammelband vertreten.

Doch auch heute noch träumen viele Künstler und Musiker von der Flucht vor dem Büro, von einem romantischen Ideal, nach dem sie möglichst autonom an ihrer Musik schrauben können. Zugleich ist der neoliberale Status quo wenig schillernd. »Ist das noch Boheme / Oder schon die Unterschicht?« sang die Berliner Band Britta um Sängerin und Songschreiberin Christiane Rösinger folgerichtig im Jahr 2006 in ihrem Song »Wer wird Millionär«, und weiter: »Für uns heißt es weiter /Rechnen, krebsen, wursteln, durchschlagen / Nur ganz selten kommt’s dann mal / Zu Champagner und Kokain«. Rösinger gehörte damals zu den wenigen, die die Prekarisierung von Kulturarbeitern offen thematisierten und anprangerten.

Fast 20 Jahre ist das Lied mittlerweile alt. Davon, dass sich seitdem an den darin besungenen Verhältnissen der Unterschichtboheme nur wenig geändert hat, zeugt der nach dem Jetzt!-Song benannte, kürzlich von dem Kulturhistoriker und Konzertveranstalter Andre Jegodka herausgegebene Sammelband »Kommst du mit in den Alltag?«. In 15 Gesprächen mit Musikerinnen und Musikern aus dem deutschsprachigen Raum gehen Jegodka sowie Martin Schüler, Albertine Sarges und Theresa Graf dar­in der Frage nach, wie deren Alltag aussieht und welche Rolle dabei Faktoren wie Geld, Alter, Kreativität, Geschlecht, Familie oder Arbeit spielen.

Dient die Musik dem Lebensunterhalt?

Die Liste der Gesprächspartnerinnen und -partner kann sich dabei durchaus sehen lassen: Neben Rösinger und Girke sind unter anderem Fehlfarben-Sänger Peter Hein, Bernadette La Hengst, Tocotronic-Bassist Jan Müller, Messer-Frontmann Hendrik Otremba und Katharina Kollmann in dem Sammelband vertreten. Aber auch jüngere, weniger bekannte Acts wie Silvi Wersing oder Fiona Lehmann, Frontfrau der Leipziger Band Frau Lehmann, standen Rede und Antwort.

Tocotronic, hier auf einem Bild aus dem Jahr 1997

Tocotronic, hier auf einem Bild aus dem Jahr 1997

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picture alliance

Eine wiederkehrende Frage lautet: Dient die Musik dem Lebensunterhalt, ist also notwendigerweise ans Geldverdienen geknüpft, um damit Miete und Lebenshaltungskosten zahlen zu können? Oder sucht man sich gezielt andere Arbeitsverhältnisse, um finanziell abgesichert zu sein, und betreibt die Musik möglichst unabhängig von kommerziellen Erwägungen, um die künstlerische Integrität zu bewahren? Die im Buch versammelten Positionen und Perspektiven sind durchaus unterschiedlich, was nicht zuletzt auch daraus resultiert, dass der kommerzielle Erfolg der Befragten sehr unterschiedliche Ausmaße hat.

Die Meinung von Katharina Kollmann, die erst kürzlich »Haus«, das vielfach gelobte dritte Album ihres Soloprojekts Nichtseattle, veröffentlicht hat, ist diesbezüglich ziemlich klar: »Ich wollte nie nur von der Musik leben müssen, weil mir die Musik zu wichtig ist, um sie als Karriere zu betrachten.«

Fortlaufende Selbstvermarktung in den sozialen Medien

Julie Miess, die ab 1997 Bassistin bei Britta war und bis 2006 neben der Musik an ihrer Promotion arbeitete, hat aus demselben Grund eine Teilzeitstelle in einem Verlag. Doch sie betont zugleich: »Gegen das Wort Hobby (in Hinblick auf ihr musikalisches Schaffen; Anm. d. Verf.) habe ich mich immer gewehrt.« Stattdessen bevorzuge sie es zu sagen, dass sie mehrere Berufe habe.

Michael Girke hingegen, der seine aktive Zeit als Musiker bei Jetzt! in den späten achtziger Jahren beendete und erst 2019 mit dem Album »Wie es war« im Alter von knapp 60 Jahren wieder mit seiner Band auf die Bühne zurückkehrte, stellt gänzlich in Frage, ob das Konzept Karriere in der Kunst Sinn ergibt: »Andere an die Seite zu schieben, um selbst in die beste Position zu gelangen, wird geradezu verlangt. Ich weiß nicht, ob sich diese Vorstellung auf das Leben in der Kunst übertragen lässt.«

Britta

Britta in der Originalbesetzung, von links gesehen: Bassistin Julie Miess, Schlagzeugerin Britta Neander und Gitarristin Christiane Rösinger

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Promo

Die Schattenseiten des Strebens nach einer künstlerischen Karriere sind ein wiederkehrendes Thema des Buchs: Mehrere der Musikerinnen und Musiker betonen, wie aufreibend die fortlaufende Selbstvermarktung in den sozialen Medien sei. Paul Pötsch, Mitglied der Band Trümmer, zitiert aus einem Gespräch eines Freundes mit einem Vertreter eines Major-Labels, der sagte, er signe »niemand mehr, der gerade keinen Tiktok-Hype habe«.

Unweigerlich kommt einem die Zeile »Sich selbst promoten gehört verboten« aus dem Lied »Lieder ohne Leiden« von Christiane Rösinger in den Sinn.

Doch macht die Notwendigkeit, online Präsenz zu zeigen, natürlich auch vor kleinen Indie-Bands nicht halt, wie unter anderem aus den Gesprächen mit Katarina Maria Trenk von den Bands Sex Jam und Euroteuro sowie Jonas Poppe von Oum Shatt hervorgeht. Unweigerlich kommt einem dabei die Zeile »Sich selbst promoten gehört verboten« aus dem Lied »Lieder ohne Leiden« von Christiane Rösinger in den Sinn – eben weil die in dem Band versammelten Interviews einmal mehr offenbaren, dass statt des in dem Song geforderten Verbots in Wahrheit ein Promo-Gebot gilt.

Die Lektüre des Sammelbands ist so kurzweilig wie informativ. Er verrät viel über die Diskrepanz zwischen der ausgeschmückten Präsentation von Musikern und ihrem tatsächlich drögen Alltag. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz spricht aus dem Gros der Gespräche jedoch auch eine grundsätzliche Zufriedenheit mit dem Leben, für das man sich entschieden hat. »Ich habe das Glück oder den Fluch, dass mich nichts anderes in meinem Leben jemals interessiert hat«, gibt beispielsweise John Moods zu Protokoll.

»Da gehe ich lieber nebenbei arbeiten«

Eine inhaltlich präzise ausgearbeitete Studie über strukturelle Probleme kann man dabei nicht erwarten – vielmehr besticht der Band durch eine Vielzahl an Perspektiven, die einander mitunter widersprechen. So wird an mehreren Stellen betont, die institutionelle Musikförderung habe sich grundsätzlich positiv entwickelt. 

Diese hatte sich bekanntermaßen über viele Jahrzehnte als blind für Popkultur erwiesen. Doch nicht zuletzt bedingt durch die Einsicht, dass eine vielfältige, diverse und attraktive Popkulturszene zu einem Standortvorteil werden kann, wurden die Fördermaßnahmen in den vergangenen Jahren sukzessive ausgebaut. Zugleich gibt etwa Fiona Lehmann zu Protokoll, dass ihr der Weg hin zu einer Förderung zu steinig sei: »Da gehe ich lieber nebenbei arbeiten.«


Buchcover

Andre Jegodka (Hg.): Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen. Ventil-Verlag, Mainz 2024, 220 Seiten, 18 Euro