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Zwei Jahre bevor William Henry Fox Talbot 1839 seine »photogenischen Zeichnungen« vorstellte, soll der Mineraloge und Chemiker Franz von Kobell in München die Frauenkirche abgelichtet und auf Papier fixiert haben. Das Bild war schon bekannt, nicht aber, wie alt es tatsächlich ist.
Schon im März 1837 soll der Chemiker und Mineraloge Franz von Kobell eine Aufnahme der Münchner Frauenkirche gemacht haben. Das war zwei Jahre vor dem Datum, an dem üblicherweise die Erfindung der Fotografie angesetzt wird.
Nachdem die Kunsthistorikerin Cornelia Kemp, die ehemalige Konservatorin der Foto- und Filmsammlung des Deutschen Museums in München, im Mai dieses Jahres bei der Vorstellung ihres Buches »Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München« ihre neuen Erkenntnisse über das Aufnahmedatum, aber auch über die Urheberschaft jener Fotografie mitgeteilt hatte, berichteten die Medien aufgeregt über die vermeintliche Sensation.
Die besagte Aufnahme der Frauenkirche ist keine Fotografie im heutigen Sinn. Das Salzpapier-Negativ zeigt das Gebäude spiegelverkehrt, Hell- und Dunkel-Flächen sind wie bei jedem Negativ vertauscht, aber es war dem Urheber gelungen, das Motiv auf – grobes – Papier zu bannen. Der entscheidende Schritt für die Geschichte der Fotografie war nicht die Kamera, sondern die Methode, Kamerabilder auf Papier oder einem anderem Material zu fixieren. Längst wusste man, dass Licht, wenn es durch ein winziges Loch in einen ansonsten geschlossenen Kasten fällt, auf dessen Innenrückseite ein Bild der Außenwelt erzeugt. Bildende Künstlerinnen und Künstler benutzten die Camera obscura schon seit dem 17. Jahrhundert als Hilfsmittel für Zeichnungen.
Unbekannt war jene frühe Fotografie der Frauenkirche keineswegs. Sie lagerte lichtgeschützt und gekühlt in den Sammlungen des Deutschen Museums in München.
Unbekannt war jene frühe Fotografie der Frauenkirche keineswegs. Sie lagerte lichtgeschützt und gekühlt in den Sammlungen des Deutschen Museums in München. Und bereits als Louis Jacques Mandé Daguerre 1839 in Paris seine Methode der fotografischen Abbildung patentieren ließ und die Bayerische Akademie der Wissenschaften in ihren Gelehrten Anzeigen darüber berichtete, verwies sie darauf, dass in Deutschland ein »Professor v. Kobell verschiedene durch Einwirkung des Lichtes hervorgebrachte Bilder« produziert hatte.
Der Franzose Daguerre ließ seine fotografischen Aufnahmen auf Metallplatten – nach ihm als Daguerreotypien benannt – im Frühjahr 1839 als Erster patentieren. Die Pioniere der damaligen Zeit lieferten sich ein internationales Wettrennen um Industriepatente und Daguerre witterte ein gutes Geschäft. Immer wieder gingen damals Berichte über neue Entdeckungen um die Welt.
Bereits im Januar desselben Jahres hatte William Henry Fox Talbot vor der Royal Society in London seine »photogenischen Zeichnungen« beschrieben, hergestellt allein durch Licht. Talbot ging es bei der Erfindung nicht nur um Fotografien, sondern allgemeiner um Verfahren, mit deren Hilfe sich Bilder oder Schriftstücke fotokopieren ließen. Weil er jedoch nicht preisgeben wollte, mit welchen Chemikalien er die »Lichtzeichnungen« fixierte, machte Daguerre in Paris das Rennen. Der große Vorteil der Daguerreotypien gegenüber frühen Papierfotografien war auch, dass sie Helligkeit und Dunkelheit realitätsgetreu wiedergaben.
Die heutzutage als älteste Fotografie der Welt geltende Aufnahme war zu dem Zeitpunkt, als Daguerre sein Patent erhielt, ohnehin schon über zehn Jahre alt. Der Privatgelehrte Joseph Nicéphore Niépce, ein Bekannter Daguerres, hatte 1826/1827 den Blick aus seinem Arbeitszimmer auf einer mit einer lichtempfindlichen Asphaltoberfläche versehenen Zinnplatte festgehalten. Niépce gab seiner Aufnahme den Titel »La cour du domaine du Gras« (Der Hof des Gutshofes von Le Gras) und bezeichnete sie als »Heliographie«, Sonnenzeichnung. Die Aufnahme benötigte eine achtstündige Belichtungszeit, was den gezeigten Gebäuden eine befremdliche Ausleuchtung beschert hat.
Kemp korrigiert nun in ihrer Studie das Aufnahmedatum des nur vier mal vier Zentimeter großen Fotos der Frauenkirche und stellt zudem bisherige Annahmen über eine gemeinsame Urheberschaft von Franz von Kobell und Carl August Steinheil in Frage. Bei der Sichtung des sorgfältig archivierten Fotos inspizierte sie die bislang offenbar kaum beachtete Rückseite des Papiers. Dort ist mit Bleistift der März 1837 als Aufnahmedatum vermerkt. Durch einen Abgleich mit Schriftproben konnte Kemp belegen, dass der Vermerk von Kobell stammt. Ein endgültiger Beweis kann das freilich nicht sein. Es ist nicht gesichert, wann Kobell die Datierung vornahm und ob sie korrekt ist.
Kemp zufolge hat Steinheil sich hauptsächlich mit der Daguerreotypie, Kobell mit den ersten Papieraufnahmen beschäftigt. Steinheil konnte 1839, im selben Jahr wie Daguerre, Aufnahmen auf Metallplatten präsentieren. Vor allem aber sorgte er, wie Kemp zeigt, für die öffentliche Aufmerksamkeit. So schrieb er 1839 anonym an die Münchner Allgemeine Zeitung, zwei »Professoren unserer Universität, der HH. v. Kobell und Steinheil«, hätten wie Daguerre Verfahren entwickelt, »die Bilder einer Camera obscura als Zeichnung zu fixieren«. Noch im selben Jahr legten Kobell und Steinheil der Bayerischen Akademie ihre Papier- und Metallplattenfotos als Beleg vor.
Eine große nationalsozialistische Ausstellung über die »ersten Lichtbilder in Deutschland – 1837« widmete zum 100. Geburtstag der Fotografie lediglich Steinheil, aber nicht Kobell ein eigenes Kapitel.
Die Geschichte der Fotografie muss nicht umgeschrieben werden. Die Fotografie ist keine deutsche Erfindung, Deutsche spielen bei ihrer Entwicklung auch keine Hauptrolle.
Vergessen waren die ersten deutschen Fotografien nie. Als Beaumont Newhall für das Modern Museum of Art aus Anlass des 100. Geburtstags der Fotografie eine Ausstellung in New York City kuratierte, wusste er von Kobell und Steinheil. In seinem berühmten Werk »Latent Image. The Discovery of Photography« schrieb er 1967, deren Aufnahmen, »die ersten, die in Deutschland gemacht wurden, befinden sich mittlerweile im Deutschen Museum in München«.
1978 zeigte der Fotohistoriker Heinz Gebhardt die Fotografie Kobells in einer Ausstellung im Münchner Stadtmuseum und datierte die Aufnahme, wie die FAZ kürzlich zitierte, auf »1838 ›oder früher‹«. Nachdem das Deutsche Museum seine Entdeckung 46 Jahre ignoriert habe, ärgert sich Gebhardt über den »Riesenzirkus«, der nun um das Foto gemacht werde.
Die Geschichte der Fotografie muss aber nicht umgeschrieben werden. Die Fotografie ist keine deutsche Erfindung, Deutsche spielen bei ihrer Entwicklung auch keine Hauptrolle. Kemps Studie belegt plausibel die Datierung und Urheberschaft des ersten in Deutschland entstandenen Fotos, auch kann sie die Rollenverteilung von Kobell und Steinheil erhellen.
Das Faszinierende an den ersten Fotos ist ohnehin kein nationaler Mythos. Die Entstehung der Fotografie erinnert vielmehr daran, dass es einmal eine Zeit gab, in der noch gar keine Fotografien existierten. Das ist aus heutiger Perspektive schwer vorstellbar.
Cornelia Kemp: Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München. Wallstein, Göttingen 2024, 351 Seiten, 36 Euro