Kritik am Massentourismus ist eine alte Form der Klassendistinktion

Die lästigen anderen

Kommentar Von Christian Stock

Die Kritik am Massentourismus tendiert oft ins Regressive.

Es gibt Begriffe, die wie eine neutrale Beschreibung klingen sollen und doch kaum etwas anderes leisten, als Menschen abzuwerten. Eine dieser Totschlagvokabeln ist »Massentourismus«, eine andere, eng verwandte ist »Überbevölkerung«. So gut wie nie drückt die Rede von Massentourismus Freude darüber aus, dass Menschen in größerer Zahl als früher verreisen können. In Deutschland gewährt das Arbeitsrecht Angestellten immerhin 30 Tage Urlaub im Jahr und ein Großteil der Haushalte kann sich ein oder zwei Urlaubsreisen pro Jahr leisten.

In zahllosen kulturkritischen Beiträgen über den heutigen Tourismus wird die Masse als unterschiedslose Touristenherde imaginiert, die sich willig in seelenlosen Ferienfabriken zusammenpferchen lässt. Dass die Massen die schönsten Strände mit ihrer bloßen Anwesenheit verschandeln, wiederholt besoffen über die Stränge schlagen und dazu noch schlechte Musik von Ikke Hüftgold hören, dieses Urteil dient der naserümpfenden, meist besserverdienenden und bildungsbürgerlichen Klientel der sogenannten Individual­reisenden zur sozialen Abgrenzung nach unten. Touristen, das sind immer die anderen. Man selbst ist hingegen Reisender, lernt Land und Leute kennen und interessiert sich für die authentische »Kultur« des besuchten Landes.

»Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.« Hans Magnus Enzensberger

Diese Sorte von Tourismuskritik speist sich historisch aus dem aristokratischen Dünkel gegen den Plebs. Ihren Anfang nahm sie im 19. Jahrhundert an der Côte d’Azur, die wohlhabende britische Ad­lige dafür schätzten, dass es dort weniger regnet als auf ihren Landsitzen und der Wein besser schmeckt. Doch nach und nach konnten sich auch immer mehr Bürgerliche Reisen leisten, und als es im 20. Jahrhundert dann endgültig so weit war, dass idyllische Buchten mit größeren Zahlen weniger privilegierter Tourist:innen geteilt werden mussten, setzte ein großes Lamentieren ein, das bis heute nicht abgeklungen ist.

Nicht frei von solchem Klassendünkel, dem die erholungssuchenden Menschen als bloße Masse suspekt sind, ist allzu oft auch die materialistische Tourismuskritik. Da wird der moderne Tou­rismus als Teil der kapitalistischen Kulturindustrie kritisiert mit all ihren Imperativen und Kalkülen. Als einer der Begründer dieser gesellschaftskritischen Variante von Tourismuskritik in Deutschland gilt der 2022 verstorbene Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Nicht selten traf er ja auch den Nagel auf den Kopf. Zutreffend stellte er seinem Essay »Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus« im Jahr 1958 fest: »Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.« Eine Ware, die nach dem Zweiten Weltkrieg bald massenhaft nachgefragt wurde.

Pauschaltourismus als fordistische Variante des Reisens

Enzensberger beschrieb in seiner Theorie des Tourismus auch jene Errungenschaften, die für die Entwicklung einer Industrie großen Stils unentbehrlich sind: »Normung, Montage und Serienfer­tigung«. Der so entstandene Pauschaltourismus ist sozusagen die fordistische Variante des Reisens, gleichsam am Fließband zusammengeschraubt wie einst das Modell T von Henry Ford. Aus dem industriellen Charakter des Tourismus schließt Enzensberger: »Der Tourismus ist seither das Spiegelbild der Gesellschaft, von der er sich abstößt.«

So weit, so gut. Doch schon im nächsten Satz versteigt er sich zu einer Art Faschismustheorie des Massentourismus: »Unverkennbar erscheint in diesem Spiegelbild der Fortgang vom klassischen zum Spätkapitalismus, von diesem zur totalitären Verfassung der Gesellschaft. Das Unberührte wird kapitalistisch ›erschlossen‹, totalitär ›aufgerollt‹. Militärische Analogien stellen sich ein. Der Tourismus parodiert die totale Mobilmachung.« Und es folgt eine Relativierung der Shoah, wenn Enzensberger allen Ernstes behauptet: »Hinter den Ferienlagern stehen unsichtbar die Wachtürme jener anderen Lager, für die unsere Epoche einzustehen hat.«

Sozialer Widerstand gegen spezifische Form von Gentrifizierung

Angesichts solcher Irrungen der Tourismuskritik wundert es nicht im Geringsten, dass manche ihrer Argumentationsfiguren bis heute regressiv sind. So wohnt beispielsweise der Anklage, Sozialstrukturen würden durch massenhaften Tourismus zerstört, ein kulturkonservativer Kern inne, der traditionelle Verhältnisse idealisiert, gleich wie sehr sie von Ausgrenzung durchzogen sein mögen. Und die Rede von »den Einheimischen«, die der Tourismus verdränge, deutet ein identitäres Bild von Gesellschaft an, in dem nur Anrecht auf eine schöne Landschaft hat, wer darin geboren wurde.

Die derzeitigen Proteste in spanischen Tourismusdestinationen gegen overtourism sind, wenn man sie als sozialen Widerstand gegen eine spezifische Form von Gentrifizierung, als Verdrängung Ärmerer durch Reichere begreift, zweifelsohne genauso berechtigt wie Mieterkämpfe in Berlin. Doch sie zum Kulturkampf des Authentischen gegen den künstlichen, über Instagram vermarkteten Massentourismus zu stilisieren, führt nirgendwo hin. Das wird keine gute Reise.