Über die Gründe, aus denen der Staat jüdisches Leben schützt

Wider die Räson des Staates

Disko Von Philipp Thielen

Unter den derzeitigen Verhältnissen ist staatliches Vorgehen gegen Antisemitismus zu begrüßen. Aber das sollte nicht zu Illusionen darüber führen, aus welchen Gründen der Staat solche Maßnahmen ergreift und wie verlässlich er in dieser Hinsicht ist, gerade in Deutschland.

Seit dem 7. Oktober macht sich antisemitische Hetze bei Demonstrationen und in Form von Drohungen und Angriffen breit, Universitäten werden besetzt, Veranstaltungen gestört und Israel-Hasser auf Konferenzen eingeladen. Der Staat geht dagegen teils mit Repression und Verboten vor. Sind diese Maßnahmen, die nicht selten kritisiert werden, ein sinnvolles Mittel im Kampf gegen Antisemitismus? Miriam Mettler argumentierte, dass unter den bestehenden Verhältnissen die vermittelte Gewalt des bürgerlichen Rechts Antisemiten Einhalt gebieten müsse  (»Jungle World« 22/24). Thomas Land mahnte, dass diese rechtsstaatlichen Prinzipien folgen müssten (26/2024).

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»Solidarität mit Israel, ja, durchaus. Allerdings ohne irgendeine Form der moralischen Erpressung«, schreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar keine sechs Monate nach dem 7. Oktober und spricht damit den sonst meist verschwiegenen Widerspruch in der Rede von der »deutschen Staatsräson« aus.

Kraushaar, der Johannes Agnolis Kritik des bürgerlichen Staates einst im Stil eines guten Demokraten als »totalitär« diskreditierte, entblödet sich nicht, in seinem jüngst erschienenen Buch »Israel: Hamas – Gaza – Palästina« das barbarische Pogrom, mit Verweis auf dessen »Rahmenbedingungen«, der Regierung Benjamin Netanyahus und damit implizit den Juden selbst in die Schuhe zu schieben.

Er ist darin nur vulgärer als viele deutsche Politiker, wenn diese ihre Solidarität mit den israelischen Opfern mit gutgemeinten Ratschlägen für den richtigen Umgang mit dem Terror verknüpfen oder die Kritik des Antisemitismus durch den pflichtschuldigen Verweis auf die sogenannte Islamophobie oder die Platitüde vom »demokratischen Miteinander« verwässern. Auch als der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz den Wahnsinn kritisierte, dass die Bundesregierung durch ihren Sprecher andeuten ließ, den israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu gege­benenfalls an den Internationalen Gerichtshof auszuliefern, konnte er es sich nicht verkneifen, hinterherzuschieben, dass man »natürlich« auch jetzt »die israelische Regierung kritisieren« könne »und muss«.

Das Verhältnis zu den Juden ist im Land der Täter überdeterminiert und instrumentell; auch das schwingt in der Rede von der Staatsräson mit.

Der staatliche Kampf gegen den Antisemitismus dient in der bürgerlichen Gesellschaft stets zunächst dazu, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. In Deutschland kann dabei nicht vom nationalsozialistischen Erbe ab­strahiert werden. Das Verhältnis zu den Juden ist im Land der Täter überdeterminiert und instrumentell; auch das schwingt in der Rede von der Staats­räson mit. So war die deutsche Wiedergutmachungspolitik die Bedingung für die Eingliederung der Bundesrepublik in den Weltmarkt und die Nato. Adenauers anerkennend gemeinter Verweis auf die anhaltend große »Macht der Juden, auch heute noch, insbesondere in Amerika«, spricht diesen Zusammenhang offen aus. Postnazismus, als das ambivalente Verhältnis deutscher Souveränität zu Auschwitz, heißt seit je, die oben angedeuteten Widersprüche zu jonglieren: Sich mahnend vor die vorzugsweise toten Opfer zu stellen und den Lebenden öffentlichkeitswirksam Synagogen einzuweihen, die seit der Gründung der Bundesrepublik nicht ohne schweren Wachschutz auskommen.

Außenpolitisch jedoch doch gab es in jüngerer Vergangenheit Anzeichen eines praktischeren Beistands. Aushängeschild der deutsch-israelischen Rüstungskooperation ist ein seit drei Jahrzehnten laufender, zu Teilen vom deutschen Staat subventionierter U-Boothandel, den die Regierung Helmut Kohls (CDU) als Teil der Unterstützung für ­Israel während des Zweiten Golfkriegs bewilligt hatte – augenscheinlich, um die mit deutscher Technologie ermöglichten Angriffe auf Israel mit Scud-Raketen durch Saddam Hussein abzugelten. Inzwischen ist das exorbitante ­U-Bootprogramm in Israel stark umstritten und Teil eines innenpolitischen Korruptionsskandals. Auch die im Jahr 2023 stark angestiegenen Rüstungsexporte sind in diesem Jahre wieder massiv eingebrochen. Innerhalb Deutschlands sind die längst überfälligen Betätigungsverbote für Hamas und Samidoun sowie in diesem Kontext das Verbot der eliminatorischen Parole »From the river to the sea …« direkte Folgen des 7. Oktober.

Freier Warenverkehr selbst unter Beschuss

Nur sind alle diese Maßnahmen nicht ohne weiteres aus der Form Staat ableitbar: So wenig wie der Jihadismus als derzeit gefährlichste Erscheinungsform des Antisemitismus unmittelbar einer politischen Logik im Sinne einer Konkurrenz zwischen den Staaten folgt, gehört umgekehrt die Bekämpfung des Antisemitismus tatsächlich zum Staatszweck der Bundesrepublik. Im besten Falle ist sie instrumentelles Beiwerk ihrer souveränitätspolitischen Bestrebungen.

Wenn Miriam Mettler fordert, die Vermittlungsformen des bürgerlichen Staates im Dienste der Bekämpfung des Antisemitismus zu verteidigen, und damit die Gewalt des bürgerlichen Rechts meint, spaltet sie wider bessere Einsicht den Staat von seinen ökonomischen Bedingungen ab, was so nicht aufrechtzuerhalten ist. Angesichts der zunehmenden antisemitischen Boykottforderungen ließe sich dieselbe Forderung auch für die ­Ökonomie im engeren Sinne aufstellen. Statt republikanischer Werte Konzerne wie McDonald’s oder Coca-Cola verteidigen zu wollen, wenn diese aus langfristigem ökonomischen Kalkül trotz geschäftsschädigender Kampagnen aus dem BDS-Umfeld an ihrem Israel-Geschäft festhalten, erscheint zwar bizarr. Aber der antisemitische Vernichtungskrieg gegen Israel  hat seine ökonomische Schlagseite, wird er doch von Angriffen auf die Welthandelsrouten im Roten Meer durch die jemenitischen Houthi begleitet.

Der Konflikt mit den Staaten des Westens ist auch einer um die Rolle der Dollar-Hegemonie. Sie ist die Voraussetzung für die Wirksamkeit von Sanktionen und steht der neoimperialen Politik der Regime Russlands und der Islamischen Republik Iran im Wege. Richtigerweise bemerkte Mettler an dieser Stelle, dass das Kapitalverhältnis »überall auf Staaten als Garanten des funktionierenden Warenverkehrs angewiesen« ist. Nur zeigen die Angriffe der Houthi, dass der freie Warenverkehr im Sinne des Weltmarkts unter amerikanischer Ägide selbst unter Beschuss ist.

Unterstützung Israels durch den Westen bleibt fragil

Zudem bleibt die Unterstützung Israels durch westliche Staaten fragil. Seit Keir Starmer von der Labour-Partei britischer Premiermi­nister ist, mehren sich die Berichte über ein drohendes Waffenembargo gegen Israel. Auch die Demokratische Partei in den USA, die gerne als bürgerliches Bollwerk gegen die von Donald Trump ausgehende faschistische Gefahr begriffen wird, hat durch ihre Politik des Appeasements das Regime im Iran immer wieder mit frischem Geld zur Finanzierung seines Terrors versorgt. Es gibt gute Gründe, misstrauisch zu sein gegenüber einem Schulterschluss mit der staatlichen Herrschaft.

Auch die Solidarität mit Israel stellt nur auf den ersten Blick die Antithese zu dieser staatskritischen Prämisse dar, denn als Selbstverteidigungskollektiv haben die Überlebenden der Shoah sich nicht nur in, sondern genauso gegen die sogenannte Staatengemeinschaft organisiert. Für den Fall, dass eines von deren Mitgliedern eine ökonomische Krise im Inneren erneut durch ein antisemitisches Vernichtungsprogramm zu lösen versucht, sowie gegen die alltägliche 
antisemitische Gewalt, die auch das bürgerliche Recht nicht verhindert, hält das israelische Rückkehrgesetz den Juden in der Diaspora einen Fluchtweg offen.

Das macht die Debatte über das Verbot von doppelten Staatsbürgerschaften so gefährlich, wie sie etwa in Frankreich der Rassemblement na­tional (RN) immer wieder befeuert. Mit Recht heben jüdische Intellektuelle wie Serge Klarsfeld und Bernhard-­Henri Lévy die linke Partei La France insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon als derzeitige antisemitische Avantgarde hervor. Doch die Kritiker des Antisemitismus drohen im politischen Spiegelspiel immer auf der falschen Seite zu landen. Der rechten Mär vom »Großen Austausch« und den Attacken gegen das Einwanderungsrecht steht die linke Kumpanei mit den Feinden Israels gegenüber, die von Juden die Distanzierung von Israel erpresst.

Frage der staatlichen Souveränität

Selbstverständlich sind politische Entscheidungen zu begrüßen wie das Verbot des Palästina-Kongresses in Berlin oder die Auflösung eines im Aufbau befindlichen antizionistischen Protestcamps in Austin, Texas. Doch weist der Widerspruch, dass der zuständige Gouverneur noch im Jahr 2019 ein Gesetz zur Stärkung freier Meinungsäußerung auf dem Campus unterzeichnet hat, auch ohne Positionierung in der verfahrenen Debatte über die Meinungsfreiheit, auf die Volatilität staatlichen Handelns. Es mag billig sein, angesichts der antisemitischen Bedrohung auf die solchen Maßnahmen innewohnende Gefahr einer Erosion der Gewaltenteilung zu verweisen, wie es zuletzt einige anlässlich des Verbots des Magazins Compact taten. Ebenso billig wäre es, sich auf die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu verlassen.

Wie eingangs aufgezeigt, knüpft sich in Deutschland das Schicksal der Juden auch ganz unmittelbar an die Frage der staatlichen Souveränität. Die sukzes­sive Ausweitung der Spielräume in Innen- und Außenpolitik blieben hier stets gebunden an die »Vergangenheitsbewältigung«, Signal der Wiedergutwerdung an die früheren Kriegsgegner. AfD und BSW bündeln die komplementäre Tendenz, diesen Klotz am Bein eines Tages einmal loszuwerden.

Adornos Hinweis, wonach im Kampf gegen den Antisemitismus alle »zur Verfügung stehenden Machtmittel ohne Sentimentalität« angewandt gehören, ist somit nur auf den ersten Blick evident. Konsequent schließt sich ihm die Einschränkung an, dass diese »einstweilen«, also kontingent und nicht aufgrund einer prinzipiellen Resistenzkraft, noch gegen den Antisemitismus stehen. Es war die Wiederanerkennung der Staatengemeinschaft, die Deutschlands neue Haltung zu den Juden einst motivierte. Wie die Diskussion über den internationalen Haftbefehl gegen Ne­tanyahu zeigt, kann beides aber miteinander in Konflikt geraten. Dann droht der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst bemühte »katego­rische Imperativ unseres Grundgesetzes«, das »Nie wieder«, ganz schnell konditional zu werden.