Der Bevölkerungsschwund prägt in Ostdeutschland die Gesellschaft

Gut abgehängt

Kommentar Von Ralf Fischer

Auf den Beitritt zur Bundesrepublik folgten in den neunziger Jahren Wirtschaftskrise und Massenabwanderung im Gebiet der ehemaligen DDR. Das prägt bis heute die dortige Gesellschaft.

Ein Video kursierte kürzlich in den sozialen Medien, das eine Warteschlange im sächsischen Görlitz zeigte. Mehrere Dutzend Menschen standen dort geduldig im Nieselregen. Der Anlass war die Neueröffnung einer Hausarztpraxis. Ähnlich wie bei der Wohnungssuche in Berlin oder den seltenen Gelegenheiten, zu denen es in der DDR Südfrüchte gab, standen sich die Menschen stundenlang die Beine in den Bauch.

Niemand in den fünf neuen Bundesländern – mit ganz wenigen Ausnahmen – will wieder eine Planwirtschaft mit Mangel an Südfrüchten erleben. Aber ein bezahlbares Dach über dem Kopf und eine solide medizinische Grundversorgung wünschen sich die Menschen trotzdem.

Der Unterschied ums Ganze, also der zwischen Banane und Hausarzt beziehungsweise Wohnraum, liegt im Charakter der Ware beziehungsweise Dienstleistung. Die ärztliche Grundversorgung war zu Zeiten der SED-Herrschaft auch auf dem Land gewährleistet, ebenso wie erschwingliche Mieten in den Städten. Es gab halt nur selten Bananen und Kiwis.

Niemand in den fünf neuen Bundesländern – mit ganz wenigen Ausnahmen – will wieder eine Planwirtschaft mit Mangel an Südfrüchten erleben. Aber ein bezahlbares Dach über dem Kopf und eine solide medizinische Grundversorgung wünschen sich die Menschen trotzdem. Diese Sehnsucht nach einer besseren Zeit ist verknüpft – nicht mit der DDR, wie viele glauben, sondern – mit der zur Floskel geronnenen Aussage von Bundeskanzler Helmut Kohl, wonach die Landschaften im Osten nach dem Beitritt zur BRD blühen würden.

Doch stattdessen »erlebte Ostdeutschland daraufhin die schwerste Wirtschaftskrise seit 1945« heißt es in einem Zeit-Artikel mit dem Titel: »Wo sind all die Ostdeutschen hin?« Man erfährt dort, dass Ostdeutschland inzwischen so wenige hat Einwohner wie zuletzt 1907. Viele Landkreise haben seit den neunziger Jahren fast ein Drittel der Bevölkerung verloren.

Abwanderung und Überalterung

In jenen Regionen, in denen es besonders viel Abwanderung gab, erzielen Parteien wie die AfD und das BSW Spitzenwerte. Dort ist auch die Überalterung am höchsten. Im thüringischen Suhl liegt das Durchschnittsalter zum Beispiel bei fast 50 Jahren. Die Bevölkerung ist dort von 1991 bis 2023 um 37 Prozent geschrumpft.

Zu Zeiten der Wende war das Durchschnittsalter im Osten gleich dem in der alten Bundesrepublik. Heutzutage liegt das Durchschnittsalter im östlichen Teil Deutschlands bei 47 Jahren, drei Jahre höher als im Westen. Ist die Bevölkerung erst mal so überaltert, schrumpft sie auch ohne Abwanderung immer weiter.

Nicht wenige junge Menschen verlassen nach der Schule umgehend die ländlichen Regionen in Richtung urbane Zentren. Die ­Bevölkerung Ostdeutschlands insgesamt schrumpft zwar seit 2017 nicht mehr, doch das liegt nur an der Zuwanderung in die großen Städte wie Leipzig und Dresden und ins Umland von Berlin. Die ländlichen Landkreise schrumpfen stetig weiter.

Jene, die eher nicht die AfD wählen, gehen: Linke, Frauen, gut Ausgebildete

Die jahrzehntelange Abwanderung prägt dort fast jeden Lebensbereich. Wegen des Bevölkerungsschwunds müssen Läden und Kneipen schließen, die öffentliche Daseinsvorsorge wird immer weiter eingeschränkt, Schulen, Krankenhäuser und kommunale Einrichtungen verschwinden.

Vor allem gehen jene, die eher nicht die AfD wählen: Linke, Frauen, gut Ausgebildete. »Aus meiner Schulklasse sind die meisten weg, deren Kinder auch«, erzählt die aus Hoyerswerda stammende Autorin Grit Lemke im Interview mit der Taz. Und trotzdem wählt von den Übriggebliebenen »nicht die Mehrheit AfD«, vielleicht sei »das ja das Wunder«.

Lemke hält die durch Abwanderung und wirtschaftliche Stagnation ausgelösten gesellschaftlichen Niedergang für die maßgebliche Ursache des Erstarkens des Rechtsextremismus – nicht die Prägung der Jahrzehnte, als der Saarländer Erich Honecker herrschte. Denn das Angebot, rechtsextrem zu wählen, »gab es seit 1990 durchgehend«, so Lemke, und »DDR- und diktaturgeprägt war der Osten vorher ja noch viel mehr«.

»Angst vor dem Aussterben«

Dafür spricht, dass bei den Landtagswahlen die Ältesten am wenigsten die AfD wählten, während sie bei den unter 24jährigen am stärksten war. »Diese Generation wuchs nach der Wiedervereinigung auf und erlebt in vielen Regionen seit 30 Jahren politische und gesellschaftliche Stagnation«, kommentierte dies Katja Salomo vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der Zeit.

Der Politologe Ivan Krastev begründet das Erstarken rechtspo­pulistischer Kräfte in den postsozialistischen Ländern mit der durch Abwanderung verursachten »Angst vor dem Aussterben«. Dazu passt die Obsession rechter Parteien wie PiS in Polen und Fidesz in Ungarn mit dem »Natalismus«, also dem Bemühen, die Geburtenrate der heimischen Bevölkerung zu erhöhen.

Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm spekulierte 1998, ob sich hinter dem neuen ›Ost-West-Konflikt‹ eine antikapitalistische ­Kritik am neuen System« verberge. 

1998 formulierte der Sozialwissenschaftler Andrej Holm die These, die »Eroberung des Ostens« durch die BRD habe in Ostdeutsch­land zu einem neuen »Selbstbewusstsein« geführt, das in der öffentlichen Debatte oft als »Osttrotz« oder »Ostalgie« denunziert werde, dessen Hintergrund aber die »tiefe Unzufriedenheit mit den neuen Bedingungen in der BRD« sei, »die zumindest in Meinungsumfragen und Trendstatistiken zu einer postmortalen Renaissance von Errungenschaften der DDR-Gesellschaft« führe.

Holm spekulierte damals, dass sich erst in Zukunft herausstellen werde, ob es sich dabei »um eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach der verlorengegangenen Beschaulichkeit« handelt »oder ob sich hinter diesem ›Ost-West-Konflikt‹ eine antikapitalistische ­Kritik am neuen System« verberge. Letzteres – so viel weiß man zumindest heute – ist wohl auszuschließen.