Zehntausende beteiligten sich am feministischen Streik in der Schweiz

Kampf für Gleichstellung

Beim feministischen Streik in der Schweiz gingen am 14. Juni Zehntausende auf die Straße. Der Aktionstag knüpft an die Frauenstreiks von 1991 und 2019 an.

Zürich. »Ohne uns steht alles still« – unter diesem Motto fand in der Schweiz am 14. Juni ein feministischer Streik statt. Landesweit gingen mehrere Zehn­tausend Menschen auf die Straße, um Gleichstellung einzufordern. Aufgerufen dazu hatten linke Organisationen und Parteien, feministische Streikkollektive sowie Gewerkschaften, darunter Unia, die größte Gewerkschaft der Schweiz, Syndicom, eine Mediengewerkschaft, und SEV, die Gewerkschaft für das Verkehrswesen.

Einen allgemeinen Ausstand gab es an diesem Tag nicht, Unia zufolge aber an einigen Orten kurzfristige Arbeitsniederlegungen von Reinigungskräften, Pflegerinnen, Uhrenarbeiter­innen und Verkäuferinnen. Die Bezeichnung Streik für den Aktionstag soll einen Bezug zum Landesstreik von 1918 herstellen, einem Generalstreik, bei dem unter anderem bereits für das Frauenstimm­recht gekämpft worden war. In vielen großen und kleinen Gemeinden gab es Kundgebungen und Demonstrationen. Die feministischen Streikkollektive forderten unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung, längere Elternzeit, höhere Löhne und Renten, die Abschaffung der privaten Krankenversicherung, eine feministische Migrationspolitik und systematische Maßnahmen gegen Gewalt und Diskriminierung.

Betont wurde, dass es sich um einen »feministischen Streik« handele, nicht um einen »Frauenstreik«; so sollten heterosexuelle Frauen, Lesben, nichtgeschlechtliche, binäre, queere und Trans-Personen zusammengeschlossen werden. Den Organisator:innen wurde deswegen vorgeworfen, die Bewegung mit linken Parolen »gekapert« zu haben; darin unterscheide sie sich von den Gleichstellungsbewegungen früherer Jahre, wie die NZZ am 13.Juni schrieb. Politikerinnen liberaler und konservativer Parteien distanzierten sich von der Veranstaltung.

Eine der größeren Demonstrationszüge fand in Zürich statt. Hier nahmen laut Veranstalterin 150.000 Menschen teil – nach Polizeiangaben waren es 15.000. Neben dem angemeldeten Demonstrationszug am Abend gab es auch vereinzelte nicht angekündigte Aktionen. So klebten sich drei Aktivisten der Klimaschutzgruppe Renovate Switzerland vor dem von Auguste Rodin gestalteten »Höllentor«-Brunnen am Kunsthaus Zürich auf dessen Betonsockel. Am Paradeplatz, an dem Schweizer Großbanken ihren Sitz haben, versammelten sich am Mittag einige Streikende und entrollten Transparente. Sie behinderten so kurzzeitig den Betrieb der Tram – der Paradeplatz ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt.

Hierbei kam es zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei. Deren Angaben zufolge habe eine 32jährige Streikende einen Polizisten getreten. Videoaufnahmen der Situation hingegen zeigen, wie die Polizei auf eine kleine Streikgruppe einschlug, offenbar um ihr ein Transparent zu entreißen. Die Polizei setzte Pfefferspray ein und zog eine Frau an den Haaren. Die 32jährige wurde festgenommen, der Polizist soll sich in ärztlicher Behandlung befinden.

Das Vorgehen der Polizei wurde von Beobachter:innen als unverhältnismäßig kritisiert. Es handelt sich nicht um einen Einzelfall, so hatte die Polizei in Zürich am 1. Mai Gummischrot gegen Demonstrierende eingesetzt, ein 26jähriger verlor ein Auge. Am 14. Juni kam es aber zu keinen weiteren Übergriffen durch die Polizei. Die Teilnehmenden der buntgemischten abendlichen Demonstration trugen violette Schilder und Transparente, sie zogen zunächst über die schicke Bahnhofstraße, danach über die Langstraße zum Helvetiaplatz, wo die Veranstaltung mit Reden und Konzerten endete. Das Langstraßenquartier beherbergt das Rotlicht- und Drogenmilieu der Stadt. Dort schienen die Feministinnen willkommen: Auf den Balkonen applaudierten die Sexarbeiterinnen.

Erst 1971 war nach einem jahrzehntelangen Kampf der Frauenbewegung das Frauenstimmrecht auf Bundesebene in der Schweiz eingeführt worden.

Der feministische Streik setzt eine Protesttradition fort. Bereits am 14. Juni 1991 fand ein Frauenstreik statt. Eine halbe Million Menschen nahm daran teil. In Sachen Gleichstellung war die Schweiz damals hinter anderen europäischen Ländern zurückgeblieben. Erst 1971 war nach einem jahrzehntelangen Kampf der Frauenbewegung das Frauenstimmrecht auf Bundesebene in der Schweiz eingeführt worden. Der Widerstand gegen die Gleichberechtigung bestand aber weiter: Der Kanton Appenzell Ausserrhoden führte erst 1990 das Stimmrecht für Frauen auf kantonaler Ebene ein, Appenzell Innerrhoden musste im gleichen Jahr sogar vom Bund dazu gezwungen werden. Der 14. Juni 1991 war außerdem der zehnte Jahrestag der Annahme des Verfassungsartikels »Gleiche Rechte für Mann und Frau« – doch noch immer fehlte damals dafür ein Umsetzungsgesetz.

Die Initiative für den Streik 1991 ging von Arbeiterinnen der Uhrenindustrie aus, die die gleichen Löhne wie ihre männlichen Kollegen einforderten. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund war aber nicht überzeugt und gestand den Frauen lediglich einen »Aktionstag« zu. Daraufhin gründete sich ein nationales Streikkomitee, dem sich Teile der Frauenbewegung, Parteien und andere Organisationen anschlossen.

Nicht ohne Widerstand: Max Affolter von der liberalen Freisinnig-Demokratischen Partei, damaliger Präsident des Ständerats, der die Kantone vertritt, riet Frauen von der Teilnahme am Streik ab, um »das Wohlwollen der Männer in Bezug auf ihre Forderungen nicht zu kompromittieren«. Affolters Mahnung verhallte ungehört. Mit vielfältigen und dezentral organisierten Aktionen machten sich Frauen für Gleichstellung stark. Sie sollten als größter öffentlicher Protest in der Schweiz seit 1918 in die Geschichte eingehen.

Am 14. Juni 2019 konnte ein breites Bündnis aus feministische Streikkollektiven, dem Dachverband der Schweizer Frauenvereine Alliance F, Gewerkschaften, kirchlichen Vereinen und anderen Organisationen erneut eine halbe Million Menschen auf die Straße bringen, um auf der Straße und mit verschiedenen Aktionen mehr »Lohn. Zeit. Respekt« einzufordern. Der Erfolg war auch auf die »Me too«-Bewegung und die öffentliche Thematisierung von sexueller Belästigung in dieser Zeit zurückzuführen. Nach einer pandemiebedingten Unterbrechung konnten die Streikkollektive dieses Jahr an den Erfolg von 2019 anknüpfen.