Ein russischer Kriegsgegner wurde leblos in seiner Zelle aufgefunden

Opposition vor Gericht oder tot

Der Regimegegner Aleksej Nawalnyj und einige seiner Mitstreiter wurden im Juni erneut angeklagt oder bereits verurteilt. Ein Aktivist wurde nach Foltervorwürfen seiner Anwältin tot im Gefängnis aufgefunden.

Die russische Justiz verhandelt in ungewohntem Rahmen über einen alten Bekannten: In einem improvisierten Gerichtssaal in einer Strafkolonie im Dorf Melechowo saß am 19. Juni zum wiederholten Mal der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj auf der Anklagebank. Bereits zu neun Jahren in der Strafkolonie verurteilt, ­drohen ihm in einem neuen Prozess weitere 30 Jahre Haft. Zur Last gelegt werden ihm gleich mehrere Straftatbestände, darunter Aufruf zu Extremismus, Gründung und Finanzierung einer ex­tremistischen Vereinigung und Rehabilitierung des Nationalsozialismus. Ebenfalls angeklagt wegen zweier Straftaten ist Daniel Cholodnyj, ehemals technischer Leiter des Youtube-Kanals Nawalnyj Live.

Kaum hatte die Gerichtsverhandlung begonnen, wurde die Öffentlichkeit von ihr ausgeschlossen. Eine Vertreterin der Staatsanwaltschaft hatte dies gefordert, weil Informationen über geplante Provokationen vorlägen. Vermutlich soll der wegen nationalistischer Aussagen umstrittene, aber zweifellos bekannteste Oppositionelle Russlands, der sich gegen Korruption und für faire Wahlen einsetzt, in erster Linie keine Bühne für einen großen Auftritt erhalten. Einschüchtern lassen will Nawalnyj sich trotzdem nicht.

Seiner Anhängerschaft ließ er über soziale Medien mitteilen, dass sich das Gerichtsverfahren gegen ihn hinter verschlossenen Türen in einer Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen als Zeichen deuten lasse, dass der Staat Angst vor der Wahrheit habe. Darauf aufbauend kündigte er ein neues Projekt an – eine Wahlkampagne gegen den Ukraine-Krieg und Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich. 2024 steht die nächste Präsidentschaftswahl an, aber Nawalnyj geht es weniger um die Stimmabgabe als darum, Menschen davon zu überzeugen, dass ­Putins Machtstrategie auf Einschüchterung und Lüge beruhe. Wie er seine Argumente dafür verbreiten will, noch dazu ohne Personen zu gefährden, ist offen. Der Dissident und Nawalnyj-Vertraute Leonid Wolkow kündigte in einem Kurzinterview bei Youtube ein technisch wohl durchdachtes Verfahren an, das spätestens im Herbst anlaufen soll.

Seiner Anhängerschaft ließ Nawalnyj mitteilen, dass sich das Gerichtsverfahren gegen ihn hinter verschlossenen Türen als Zeichen deuten lasse, dass der Staat Angst vor der Wahrheit habe.

Doch Nawalnyjs Zweckoptimismus kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Preis, den er selbst, in Russland verbliebene Teammitglieder und seine Anhängerschaft für ihren politischen Kampf gegen Putin zahlen sollen, immer weiter in die Höhe getrieben wird. Mitte Juni fiel das Urteil gegen Lilija Tschanyschewa: Siebeneinhalb Jahre Haft verhängte das Gericht gegen die ehemalige Leiterin von Nawalnyjs Stab in Ufa, der Hauptstadt der Republik Baschkortostan, weil sie eine »extremistische Organisation« gegründet habe. Das gleiche Strafmaß verhängte ein Gericht am 22. Juni gegen Igor Baryschnikow wegen sogenannter Falschmeldungen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Zweimal hatte der Kaliningrader Aktivist 2021 kürzere Haftstrafen abgesessen, nachdem er bei Protesten zur Unterstützung von Nawalnyj festgenommen worden war. Bei ihm besteht Krebsverdacht und sein behandelnder Arzt sprach sich strikt gegen eine Inhaftierung aus. Baryschnikow wäre nicht der erste Häftling, der sein Leben infolge unzureichender Diagnose und Behandlung im russischen Strafvollzug verliert.

Anatolij Beresikow ist bereits tot. Am 14. Juni soll der Musiker und aktive Kriegsgegner der Online-Zeitung Nowaja Gaseta Europa zufolge erhängt in einer Zelle im südrussischen Rostow gefunden worden sein. Am Folgetag hätte er aus dem Polizeigewahrsam entlassen werden sollen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen »Suizidherbeiführung«. Seit Mitte Mai wurde Bere­sikow mehrmals hintereinander aus fadenscheinigen Gründen zu mehrtägiger Haft verurteilt, beispielsweise weil er sich unflätig in der Öffentlichkeit geäußert habe. Zeitweilig gelang es ihm, eine Anwältin einzuschalten, Irina Gak. Ihr berichtete er, dass seine erste Festnahme in seiner Wohnung erfolgt war, also zielgerichtet, und dass ihm ein Ermittler des Staatsschutzes mit Folter, Vergewaltigung, Tötung und Entsendung an die Front gedroht habe. Nach Ablauf einer der Haftfristen standen Gak und eine örtliche Aktivistin, Tatjana Sporyschewa, am Ausgang, doch ihr Mandant erschien nicht. Später fanden sie ihn auf einer Rostower Polizeiwache – bleich und völlig entkräftet.

Beresikow war Gak zufolge mit Elek­troschocks gefoltert worden. Gak machte ein Foto von dem malträtierten Körper mit den typischen roten Punkten auf der Haut, aber er erhielt keine ärztliche Hilfe und ein Gutachten darüber wurde nicht angefertigt. Am Tag vor Beresikows Tod berichtete er seiner Anwältin, als diese ihn in der Haft besuchte, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet werde, er jedoch trotz Folter kein Geständnis abgeben werde. Am Folgetag traf sie nur einen Krankenwagen an, der seine Leiche abtransportierte. Wenige Tage später fanden Hausdurchsuchungen bei Gak und Sporyschewa statt.

Der Anwalt Jewgenij Smirnow vermutet im Interview mit der Nachrichten-Website Mediazona, dass gegen Beresikow eine Anklage geplant war, die der Inlandsgeheimdienst FSB jedoch mit der Moskauer Zentrale hätte abstimmen müssen. Das brauche Zeit. Ansonsten finde immer das gleiche Schema Anwendung: Nach der Festnahme würden Aktivisten gefoltert, manchmal werde eine Erschießung simuliert, dann werde ein Geständnis erpresst. Beresikow hat der Nowaja Gaseta ­Europa nach Flugblätter des staatlichen ukrainischen Projekts »Ich will leben« verteilt, das russische Soldaten dazu aufruft, sich in Kriegsgefangenschaft zu begeben. Die Polizei war erstmals 2021 auf ihn aufmerksam geworden, nachdem sie ihn bei einer Demonstration für die Freilassung von Aleksej Nawalnyj festgenommen hatte.