Die Sketcher-Szene versammelte sich in Berlin beim »Deutschlandtreffen«

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Auf der Stalinallee

Seit 40 Jahren bin ich Anhänger von unorganisierten Bewegungen. Zuerst war es Rock ’n’ Roll, kurze Zeit später Punk, noch später die Comic-Szene, zuletzt wurde ich Swing-Tänzer. An der Spitze dieser Bewegungen stehen sicher stilbildende Stars, das Schöne ist aber, dass sie in der Breite weitgehend von Amateur:innen bestimmt werden.

Das liegt vor allen daran, dass der Zugang zu populärkulturellen Genres traditionell nicht beschränkt ist und sie zum Mitmachen anregen. Es sieht leicht aus und ist auch meist nicht zu kompliziert. Du musst keine Uni besucht haben, kein:e Lehrer:in gibt Noten und du machst auch keinen Abschluss. Für viele sind diese Be­wegungen ein Lebensstil, für andere ein Hobby, aber in erster Linie soll es einfach nur Spaß machen.

Nachdem Julia mich dazu angeregt hatte, bin ich nun auch Urban Sketcher geworden. Wir Urban Sketcher zeichnen en plein air, meist urbane Landschaften, im besten Fall samt der in ihnen befindlichen Menschen. Wie die meisten populärkulturellen Bewegungen agiert auch diese weltweit. Am vergangenen Wochenende trafen sich Urban Sketcher zum »Deutschlandtreffen« in Berlin.

Unter den rund 1.000 Sketchern waren aber auch viele aus dem Ausland angereist. Das Besondere an diesem Treffen war, dass es komplett unkommerziell war. Es gab keine Eintrittsgelder, keine Workshops und keine von Zeichenbedarfsfirmen gesponserten Goodie-Bags – und auch keine im Vordergrund stehenden Künstler:innen.

Eigentlich war es fast wie bei den Chaostagen in Hannover in den achtziger und neunziger Jahren. Da gab es auch kein Programm, die Punks mussten alles selber machen.

Eigentlich war es fast wie bei den Chaostagen in Hannover in den achtziger und neunziger Jahren. Da gab es auch kein Programm, die Punks mussten alles selber machen. Beim diesjährigen Treffen wurde nichts angeboten, ­außer kostenlosen, von Freiwilligen geführten sketch walks, auf denen die Sketcher das Zeichnen und Latschen schon selbst erledigen mussten. Dazu gab es, ebenfalls kostenlos, ein vom Illustratoren­verband finanziertes Heftchen, das die rund 60 Zeichenspaziergänge auflistete.

Auf meinem ersten, mir zugelosten, von Sven Swora geführten sketch walk ging es vom Strausberger Platz bis zum Alexanderplatz. Ich muss zugeben, dass ich am Freitag um halb zehn ohne große Freude aufbrach. »Na, das wird ja toll, die doofe Diktatur-Straße abmalen! Scheiß Stalinallee!«, dachte ich.

Aber dann war das Wetter so strahlend und die Gruppe so fröhlich, dass meine ­Vorbehalte schnell verflogen. Ich lernte Simon kennen, einen Architekten aus Southampton, der in seiner ­Freizeit mit Vorliebe Kirchen und Kathedralen zeichnet. Auch er tat sich schwer mit der stalinistischen Archi­tektur.

Dass sich unsere Blickwinkel änderten, war vor allem Sven zuzuschreiben. Er war in der Nachbarschaft auf­gewachsen, sein Vater hatte als Architekt viele Gebäude mitgestaltet. Die Karl-Marx-Allee soll Unesco-Welt­kulturerbe werden. »Leider ist die Straße nicht richtig mit Leben gefüllt«, gibt Sven zu.

Die Läden wären ursprünglich so groß konzipiert worden, dass sich heute kaum jemand traue, dort ein Geschäft zu eröffnen. Tatsächlich sind am Freitag in den Morgenstunden auch nicht sehr viele Leute unterwegs. »Hier war ich in den Achtzigern als Jugendlicher oft zum Tanzen«, sagte er, auf das »Kino International« zeigend.

Eine Minute später saßen wir alle auf unseren mitgebrachten Campingstühlen und zeichneten vergnügt, aber konzentriert. Es musste schnell gehen. In einer halben Stunde sollten wir bereits zum nächsten Ort ziehen.