Die ökonomischen und politischen Konflikte zwischen Polen und der Ukraine

Stress unter Verbündeten

Zwischen Polen und der Ukraine nehmen die Konflikte aus ökonomischen, politischen und militärischen Gründen zu.
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Von der kanadischen Parlamentsbühne in den polnischen Knast? Die Spannungen zwischen den Kriegsverbündeten Polen und Ukraine wurden, trotz aller Deeskalationsbemühungen, Ende September nach einem handfesten geschichtspolitischen Skandal im fernen Ottawa um eine weitere Facette erweitert. Nachdem das kanadische Parlament den ehemaligen SS-Mann Jaroslaw Hunka im Beisein von Präsident Wolodymyr Selenskyj als einen »Helden« geehrt hatte, ließ der polnische Bildungsminister Przemysław Czarnek die Möglichkeit der Auslieferung des 98jährigen prüfen, um ihn in Warschau wegen der an jüdischen und nichtjüdischen Bürgern Polens während des Zweiten Weltkriegs von der SS-Division Galizien begangenen Massenmorde und Kriegsverbrechen zu belangen.

Vieles, was seit dem imperialistischen Überfall Russlands auf die Ukraine unter den Tisch gekehrt wurde, kommt nun, ausgelöst durch den Streit um ukrainische Getreideexporte, ans Licht. In den bilateralen Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen werden konfrontative Töne lauter. Ende September wurden der Zeitung Rzeczpospolita Expertenberichte zugespielt, wonach die Rakete, die im November 2022 zwei Menschen in Südostpolen tötete, von der Ukraine abgeschossen worden war (die Regierung in Kiew bestreitet dies weiterhin).

In polnischen Medien wird inzwischen offen darüber debattiert, ob ukrainischen Flüchtlingen die umfassenden Sozialleistungen aberkannt werden sollen, die die Regierung in Warschau ihnen nach Kriegsausbruch gewährt hat. Die Ukraine wiederum droht Polen mit einem Boykott polnischer Lebensmittel, während Selenskyj bei einer Rede vor den Vereinten Nationen von einem »politischen Theater« sprach, das Polen aufführe. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erwiderte, Selenskyj solle »Polen nicht beleidigen«.

Bei Kriegsausbruch war antiukrainische Rhetorik in Polen verpönt, doch inzwischen lässt sich damit Politik machen.

Ausgelöst hat die Auseinandersetzungen eine Klage der Ukraine vor der Welthandelsorganisation (WTO) gegen den Einfuhrstopp für ukrainisches Getreide, den die polnische Regierung am 16. September verhängt hatte. Der darauf folgende verbale Schlagabtausch zwischen führenden Politikern beider Staaten gipfelte in der Ankündigung Polens, der Ukraine keine neuen Waffen mehr zu liefern – später präzisierten Regierungsvertreter, dass damit nur die modernen, derzeit von Polen in großem Umfang erworbenen Waffensysteme gemeint seien. Am Donnerstag voriger Woche forderte Polens Landwirtschaftsminister Robert Telus nach Konsultationen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Mykola Solskyj die Regierung in Kiew auf, die WTO-Klage zurückzuziehen, um »ein günstiges Klima für weitere Verhandlungen zu schaffen«.

Seit Russland die Schwarzmeerhäfen für ukrainisches Getreide blockiert, spielen die Exporte der Ukraine in die EU eine größere Rolle, die den polnischen Bauern – einer wichtigen Wählerbasis der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) – ökonomisch zusetzen. Der russische Angriffskrieg schweißt zwar die baltischen Staaten, Tschechien, Polen und die Ukraine zusammen, doch zugleich steigert er mit zunehmender Dauer auch nationalistische Zentrifugalkräfte, die diese geopolitische Allianz zu sprengen drohen – insbesondere da der langwierige russische Abnutzungskrieg seine erodierende Wirkung entfaltet. Die Angst vor dem russischen Imperialismus gerät in Wechselwirkung mit dem krisenbedingt überall aufschäumenden Nationalismus.

Als der polnische Präsident Andrzej Duda die Ukraine mit einem »Ertrinkenden« verglich, der seine potentiellen Retter mit in die Tiefe zu ziehen drohe, sagte er mehr, als ihm bewusst war. Denn ­militärisch wie auch ökonomisch ist die Ukraine tatsächlich am »Ertrinken«, nachdem ihre Sommeroffensive unter hohen Verlusten weitgehend gescheitert ist. Aller Korruption und Ineffizienz auf russischer Seite und allen westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine zum Trotz könnte der brutale russische Abnutzungskrieg der ukrainischen Armee langfristig das Rückgrat brechen. Die realistischste Chance der Ukraine, den Krieg nicht mit einer Niederlage zu beenden, besteht in einem kriegsbedingten Zerfall der russischen »Machtvertikale«, wie er sich bei der Wagner-Revolte andeutete.

In Polen ist es wiederum die ins Rechtsextreme tendierende Oppositionspartei Konfederacja, die den regierenden Rechtspopulisten von PiS zusetzt. Die scharfen Reaktionen aus Warschau im Streit mit der Ukraine sind zum großen Teil den Mitte Oktober anstehenden Parlamentswahlen geschuldet, bei denen Konfederacja die wachsende antiukrainische Stimmung in der Bevölkerung Polens zu instrumentalisieren versucht. Bei Kriegsausbruch war antiukrainische Rhetorik in Polen verpönt, doch inzwischen lässt sich damit Politik machen.

Die Konfederacja ist gewissermaßen ein Produkt der PiS-Ära, die mit einer Periode ökonomischer Prosperität einherging und die Rechte insgesamt stärkte. Aber der Nationalismus von PiS hatte immer eine starke soziale Komponente, die zur Ausbildung einer rechtslastigen Mittelschicht beitrug, die sich am Libertarismus von US-Rechten orientiert – und bei der Sozialpolitik schlicht verpönt ist. Mit deren sozialdarwinistischer Ausrichtung am eigenen Interesse als Marktsubjekt korrespondiert ein dumpfer Nationalismus, der gegen »Sozialprogramme für Ukrainer« wettert.