Die Geschichte der Shoegaze-Band Slowdive

Wieder am Leben

Nach ihrem sensationellen Reunion-Album von 2017 klingen die Shoegaze-Pioniere von Slowdive nun auf ihrem fünften Album »Everything is Alive« ein wenig sphärischer und krautrockiger. Ein kleiner Überblick über das Werk der britischen Band.

Als die Band Slowdive im Januar 2017 mit dem treibenden Shoegaze-Rocker »Star Roving« nach 22 Jahren wieder ein neues Stück veröffentlichte, war es alles andere als selbstverständlich, wie leichtfüßig und ohne Zweifel sie an ihre größten Songs aus den frühen Neunzigern anschlossen. Atemberaubend ging es weiter, denn das vierte Album der Gruppe, das sie schlicht nach sich selbst benannt hatten, enttäuscht auch im weiteren Verlauf nicht. Bei der zweiten Single »Sugar for the Pill« handelt es sich ebenfalls um ein funkelndes Dream-Pop-Glanzstück und das gesamte Reunion-Album strotzt nur so vor entrückten Momenten und brillantem, vielseitigem Songwriting von Neil Halstead, dem Mastermind der Band.

Damit waren Slowdive, die mit ihrem selbstvergessenen Indie-Stil immer ein wenig special interest geblieben sind und von der britischen Musikpresse vor drei Jahrzehnten skeptisch beäugt wurden, so erfolgreich wie nie zuvor: Im Folgejahr spielten sie unter anderem als einer der Headliner auf dem Primavera-Festival in Barcelona und auf dem US-amerikanischen Desert Daze in ­Joshua Tree. Jetzt ist mit »Everything Is Alive« fünf Jahre später ein wei­teres Slowdive-Album erschienen.

Für die alten und neuen Fans des Musikgenres Shoegaze waren die zehner Jahre ohnehin ein beglückendes Jahrzehnt. Die drei wichtigsten Bands, die den Stil zwischen 1988 und 1993 maßgeblich geprägt hatten, namentlich My Bloody Valentine, Ride und Slowdive, traten nach ­langer Abwesenheit nicht nur mit Reunion-Tourneen und Festival­auftritten wieder in Erscheinung, sondern veröffentlichten zudem neue Alben, die nach jeweils über 20 Jahren nahtlos an die Qualität ­ihrer früheren Platten anknüpften. Überdies gab es ein vielfältiges Re­vival des ätherisch anmutenden, psychedelischen Shoegaze-Sounds, der mal noisiger und feedbacklastiger, mal schillernd und ätherisch-träumerisch dargeboten wird, dann auch gerne als Dream Pop bezeichnet.

Die überwältigenden Gitarrenwände haben dank Einsatz zahlreicher Hall- und (Fuzz-)Verzerrungs­effekte sowie des Tremolohebels (der für eine leiernde, jammernde Akzentuierung der Akkorde sorgt) nichts mehr mit dem klassischen Klang des Saiteninstruments gemein. Gleichzeitig klingt dieser dröhnende, rauschende Sound dabei überraschend harmonisch und warm. Von Bands wie M83 aus Frankreich oder dem Duo Beach House, aber auch aus dem experimentelleren Metal, bei Jesu (Soloprojekt von Justin Broad­rick) oder den Post-Metal-Gruppen Alcest und Deafheaven, wurde der Stil aufgegriffen und weiterentwickelt. Subgenres wie Blackgaze, Chillwave und Nu Gaze waren die Folge, die sich aber nicht so lange hielten wie der Shoegaze selbst.

Rachel Goswell und Neil Halstead von Slowdive kannten sich bereits seit Kindesbeinen, wuchsen westlich von London in Reading auf, nachdem Goswells Eltern mit der Familie dorthin gezogen waren, als sie sieben Jahre zählte. Schon als Jugendliche musizierten sie zusammen ­unter dem Namen The Pumpkin Fairies. Als die beiden 1989 schließlich Slowdive gründeten, waren sie noch Teenager, genau wie Bassist Nick Chaplin, der weitere Gitarrist Christian Savill, der wenig später hinzustieß, sowie Simon Scott, der Anfang 1991 nach den ersten beiden EPs die vorherigen Schlagzeuger ablöste. Die Bandbesetzung ist heute noch be­ziehungsweise wieder die gleiche.

Musikalisch zeigten sich sowohl der Einfluss von Goswells Lieblingsband Siouxsie and the Banshees mit deren Gothic Rock als auch von den Vorreitern des Dream Pop und ethereal wave, den schottischen Cocteau Twins um Robin Guthrie und Elizabeth Fraser; daneben nahm man auch Anleihen bei der harschen Noisepop-Gruppe The Jesus and Mary Chain. Auf der dritten EP »Holding Our Breath« machte dann der Song »Catch the Breeze« erstmals deutlich, dass es Slowdive nicht nur um ein unerhörtes, atmosphärisches Sound-Design sowie herrliche Gesangs­harmonien ging, sondern man es hier außerdem mit formidablem Songwriting zu tun hatte. Das Lied bildete auch den Höhepunkt des Debüt­albums »Just for A Day«, das im Herbst 1991 herauskam.

Mit der zweiten LP »Souvlaki« gelang es der Band 1993 dann auch auf Albumlänge, ein makelloses und spannungsgeladenes Meisterwerk des Genres hervorzubringen – vom hymnischen Auftakt »Alison«, zugleich die Singleauskopplung, über den sofort zum Genreklassiker gewordenen »When the Sun Hits« bis hin zum reduzierten, introspektiv-beklemmenden Abschluss »Dagger«, in dem andeutungsweise das Ende einer Beziehung thematisiert wird, vielleicht das von Halstead und Goswell, deren Trennung in diese Zeit fiel. Die zeitgenössischen Kritiken fielen allerdings wieder sehr unentschieden aus, der allgegenwärtige Grunge-Hype einerseits und die Vorboten des Britpop andererseits stellten die ohnehin kaum schlagzeilenträchtigen Shoegaze-Bands schon 1993 immer mehr in den medialen Schatten.

Im Unterschied zu manch anderen musikalischen Mitstreitern wollten die Bandmitglieder von Slowdive und vor allem Halstead selbst allerdings nicht mit diesem Trend gehen, orientierten sich stattdessen noch stärker an den repetitiven Strukturen elektronischer Musik und entwickelten sich weiter in Richtung eines Ambient-Sounds, der auf flirrende, geloopte Gitarrenmotive aufbaut. Während die Gruppe zuvor letztlich immer noch eine Rockband war, nahm Halstead nun einen Großteil des Albums »Pygmalion« alleine auf, Goswells Gesang blieb zwar präsent, aber Bass und Schlagzeug kamen nur noch bei einigen Stücken zum Einsatz. Simon Scott war vorher bereits ausgestiegen, Chaplin und Savill waren unzufrieden mit der Bandsituation, zumal es auch finanzielle Probleme gab. In einem Interview mit dem Online-Musikmagazin The Quietus erläutert Goswell 2014 rückblickend, dass es damals jenseits der Musik überhaupt nicht gut lief für die Band: »Wir waren jung und naiv, wir hatten ein schreckliches Management, einen schrecklichen Buchhalter, der später sogar ins ­Gefängnis kam. Die wirtschaftliche Seite war ein komplettes Desaster.«

Die berühmte Independent-Plattenfirma Creation von Alan McGee, bei der Slowdive bereits nach dem ersten Demotape unterschieben hatte, schmiss sie eine Woche nach Erscheinen von »Pygmalion« 1995 raus und die Band löste sich anschließend auf. Indessen handelt es sich um eine einzigartige, enigmatische Platte, die man mit ihrer selbstgenüg­samen Ruhe sehr gut zum Einschlafen hören kann, die zugleich aber mit ihrer Intimität und Intensität zu einer vollständigen Versenkung in die Musik, in die Klänge und Stimmen einlädt. Das kolossal gefloppte, regelrecht ignorierte Album gilt heute zu Recht als zeitloser Monolith zwischen Post-Rock und Ambient.

Halstead und Goswell gründen in der Folge die Gruppe Mojave 3, orientierten sich, ebenfalls völlig unzeit­gemäß und unbritisch, am US-amerikanischen Folk und Country und verschmolzen diese mit ihrem genuinen Dream Pop. Die Band veröffentlicht fünf Alben beim Label 4AD – mit moderatem Erfolg, wiederum begrenzt auf die Indie-Nische, aber mit treuen Fans. 2006 erlitt Goswell allerdings eine dermaßen schwere Innenohrentzündung, dass sie fortan mit Gleichgewichtsstörungen zu kämpfen hatte und auf der linken Seite dauerhaft fast ihre gesamte Hörfähigkeit verlor. Über Jahre war an professionelles Musizieren nicht zu denken und Mojave 3 pausiert seitdem.

Außerdem kam ihr Sohn Jesse 2010 mit dem Charge-Syndrom zur Welt, einem genetischen Defekt, der mit Fehlbildungen bei verschiedenen Organen einhergeht, im Falle ihres Sohnes auch mit Taubheit, und zumeist schon im Säuglings- oder Kleinkindalter größere operative Eingriffe erfordert. Goswell erlernte Gebärdensprache, setzte sich öffentlich für eine größere Bekanntheit des Syndroms sowie eine stärkere Unterstützung der betroffenen Ange­hörigen ein, und sie sprach in Interviews auch über die besonderen Herausforderungen als Mutter. Als 2014 die Idee einer Slowdive-Re­union konkret wurde, war Jesse inzwischen so stabil, dass Rachel Goswell sich auch diesem wichtigen Teil ihres Lebens wieder zuwenden konnte. Doch diesmal soll es mehr Spaß machen als 20 Jahre zuvor, da sind sich die Bandmitglieder einig.

Mit Blick auf das neue, fünfte Album »Everything Is Alive« fällt ­zuerst auf, dass wabernde und pulsierende Synthies eine größere ­Rolle spielen. Gleich der erste Song »Shanty« entwickelt sich mit dynamisch-voranpreschendem Schlagzeug sechs Minuten lang krautrockig über einer gleichbleibenden Ton­folge, einem Grundakkord, auch wenn dieser zeitweilig gänzlich überlagert wird von all den ­weiteren Gitarrenmotiven, diffusen Gesangsmelodien und Noise-Ausbrüchen.

Auf diese Eröffnung folgt das schöne, sich ebenfalls langsam steigernde Instrumentalstück »Prayers Remembered« – die Band nimmt sich also Zeit. Die Platte fällt auch insgesamt etwas sphärischer, subtiler aus als der spektakuläre Vorgänger. Das langsame, getragene »Andalucia Plays« verweist auf John Cales bezauberndes Liebeslied »Andalucia«, wenn Halstead mit dezenter Sentimentalität singt: »You are my angel / Wearing your favourite shirt / French cloth and polka dot / Andalucia plays on the stereo«. Die Singleauskopplungen »Kisses« und »Alife« wiederum erscheinen so luftig-luzide, dass ihr eingängiger Wave-Pop auch Fans von The Cure oder New Order für Slowdive gewinnen könnte. Jedenfalls vermittelt »Everything Is Alive« den Eindruck, dass die Band Freude hat an ihrem Tun, vielleicht mehr denn je, und wieder mal ihren Stil ausreizt und verfeinert, zumal Halstead, Goswell und Co. spätestens seit dem Reunion-Album niemandem mehr irgendetwas beweisen müssen.

Slowdive: Everything Is Alive (Dead ­Oceans)