Ken Burns Doku-Miniserie »Country Music«

Mit dem Radio fing es an

Nach umfangreichen und hochgelobten Mehrteilern über den US-Bürgerkrieg, die Geschichte des Jazz und den Vietnam-Krieg hat der renommierte US-amerikanische Dokumentarfilmer Ken Burns sich der Entwicklung der Country-Musik im 20. Jahrhundert angenommen. In seiner Miniserie erzählt er über die Zeit, als das Radio das Massenmedium war, über die Frauen des Country und die bisweilen unerbittliche Musikindustrie.

Wussten Sie, dass Whitney Houston ihren Welthit »I Will Always Love You« von Dolly Parton gecovert hat? Oder dass Vorläufer des Banjos in Westafrika existierten und es erst über die minstrel shows im 19. Jahrhundert zu einem Bluegrass-Instrument avancierte, dass nicht mehr primär von schwarzen, sondern von weißen Musikern gespielt wurde? Oder dass der Country-Poet Kris Kristofferson erst von seiner Plattenfirma überredet werden musste, ein eigenes Album aufzunehmen, da er dachte, seine Stimme sei zu schlecht, und sich deshalb ­lediglich als Songwriter verdingen wollte? Und dass June Carter ihren langjährigen Geliebten Johnny Cash erst heiratete, als er mit ihrer Hilfe (zumindest eine Zeitlang) seine Drogenprobleme in den Griff bekam – fünf Jahre nachdem er mit ihrem Song »Ring of Fire« einen seiner größten Erfolge gelandet hatte?

Der renommierte Dokumentarfilmer Ken Burns hat all diese Geschichten ausgegraben und erzählt sie in seiner Serie »Country Music«, die sich in acht Teilen der facettenreichen Entwicklung eben dieser Musikrichtung widmet und dabei chronologisch das Porträt eines Genres zeichnet, das weit über dessen stilistisch strenges und politisch konservatives Image hinausreicht.

Aufnahme für die Radioshow »Grand Ole Opry« in den fünfziger Jahren

On the Air. Aufnahme für die Radioshow »Grand Ole Opry« in den fünfziger Jahren

Bild:
Les Leverett

Er konzentriert sich auf die aus heutiger Sicht prägenden Gestalten, die Protagonistinnen und Protagonisten, die durch ihre musikalischen Besonderheiten, aber ebenso ihre Persönlichkeit einen bleibenden Einfluss auf Country & Western, wie die Großgattung bisweilen auch genannt wird, ausgeübt haben. Und die dafür des Öfteren auf Konfrontation mit dem Country-Establishment in Nashville, Tennessee, gehen mussten.

Radio Days
Burns steigt in die Historie ein mit der Gründung des Radiosenders WSB 1922 in Atlanta, Georgia, einem der ersten Hörfunkkanäle im Süden der USA. Der nur lokal bekannte Geiger und Sänger Fiddlin’ John Carson wurde ins Studio eingeladen – Tonträger waren noch rar – und erlangte durch seine Auftritte schnell überregionale Berühmtheit. Die von ihm gespielte old-time music hat ihren Ursprung in den südlichen Appalachen und verbindet europäische Folk-Tradition wie Polka und Walzer mit Einflüssen christlicher Musik, vor allem Gospel, und frühem Blues sowie der frankophonen Cajun-Kultur aus dem Mississippi-Delta.

Letztlich handelt es sich um eine Verknüpfung überlieferter Spielweisen von weißen Einwanderern und schwarzen (ehemaligen) Sklaven. Dies spiegelt sich auch in der Instrumentierung, wenn Violine und Mandoline – beide aus Italien stammend – mit dem Banjo kombiniert werden, das ursprünglich von Afroamerikanern entwickelt wurde. ­Diese diversen Einflüsse sollten aber wenig daran ändern, dass Country überwiegend von weißen Nord­ameri­kaner:innen gespielt und gehört wurde. Kristofferson bezeichnet den Stil an einer Stelle der Doku als »white man’s soul music«.

Oftmals verwendet Ken Burns keine Bewegtbilder, sondern Fotografien, in die er hineinzoomt oder über die er mit Kameraschwenks den Blick des Pu­blikums lenkt, während der Erzähler aus dem Off kulturgeschichtlich über das Bild spricht und/oder weitere Tondokumente zum Einsatz kommen.

Die Entfaltung und Vermarktung des Country ist eng verknüpft mit der Geschichte des Radios, zumal die Zielgruppe überwiegend nicht zu den Wohlhabenden gehörte. Entsprechend handeln die Titel oft vom blue-collar life der ländlichen Arbeiterschicht. Das Medium blieb daher auch mit Aufkommen des Fernsehens noch lange dominant. Als 1925 in Nashville, Tennessee, der Radiosender WSM den Betrieb aufnahm und wenig später die »Grand Ole Opry« als wöchentliche Live-Show für Country-Musik gegründet und schnell zur wichtigsten Sendung des Genres wurde, zeichnete sich bereits ab, dass die Stadt am Cumberland River zum Zentrum des Musikstils werden sollte, zur »music city«.

Nashville mit seinen Tonstudios, Plattenfirmen, Gitarrenherstellern und Sehenswürdigkeiten, vor allem im Stadtviertel Music Row, hat diese Stellung bis heute behalten, zumindest hinsichtlich der eher kommerziellen Spielart des Country. Unter Verweis darauf, dass die Radiostation von »Grand Ole Opry« sich zu Beginn im Gebäude der Versicherungsanstalt der National Life and Accident Insurance Company befand und für diese die Werbetrommel rührte, widmet sich »Country Music« zudem überdeutlich der Verschmelzung der Unterhaltungsindustrie mit anderen Wirtschaftszweigen seit der Etablierung des Hörfunks.

He Burns, Burns, Burns
Ken Burns wurde schon in den achtziger Jahren für seine frühen Filmdokumentationen zweimal für den Oscar nominiert, aber seinen großen Durchbruch feierte er mit der zehnteiligen Fernsehdoku-Reihe »The Civil War« (1990). Vor allem etablierte er dabei seine spezifische Filmtechnik, die heute als Ken-Burns-Effekt bekannt ist: Oftmals verwendet er keine Bewegtbilder – die es aus dem Bürgerkrieg auch gar nicht gibt –, sondern Fotografien, in die er hineinzoomt oder über die er mit Kameraschwenks den Blick des Pu­blikums lenkt, während der Erzähler aus dem Off kulturgeschichtlich über das Bild spricht und/oder weitere Tondokumente zum Einsatz kommen. Mit dieser gemächlichen, gar nicht so originell erscheinenden Technik gelingt es ihm ungemein gut, die Zuschauer:innen in den Bann zu ziehen und vielleicht sogar einen noch wahrhaftigeren Anschein zu erzeugen.

Der französische Semiotiker Roland Barthes hat den Begriff Punktum für das Phänomen geprägt, wenn ein zunächst unscheinbares Detail auf einem Foto beim Betrachter einen besonderen Reiz auslöst, diesen regelrecht anspringt, ohne dass eine solche Wirkung geplant war oder man sie auch nur planen könnte. Burns’ Umgang mit Bildern provoziert diesen Effekt jedenfalls, ob nun bewusst oder unbewusst. Die charismatische Erzählstimme von Peter Coyote tut in »Country Music« ein Übriges.

Ken Burns zeichnet das Porträt eines Genres nach, das weit über dessen stilistisch strenges und politisch konservatives Image hinausreicht.

Das Skript stammt von Burns’ langjährigem Kollegen, dem Drehbuchautor Dayton Duncan. Zum Glück behält Arte den englischen Originalton bei und untertitelt lediglich. Daneben kommen zahlreiche Größen des Musikstils als talking heads zu Wort, von Dolly Parton über Emmylou Harris bis Willie Nelson, von Loretta Lynn über Merle Haggard bis Charley Pride.

Der hierzulande weniger bekannte Pride landete zwischen 1969 und 1983 ganze 29 Nummer-eins-Hits in den US-Country-Charts und zwölf goldene Schallplatten – als afroamerikanischer Musiker und Sänger, muss dazugesagt werden. Nachdem er 1966 durch die Vermittlung der (weißen) Country-Produzenten Cowboy Jack Clement und Chet Atkins endlich einen Plattenvertrag erhalten hatte, wurden seine ersten Singles ohne Foto von ihm veröffentlicht, also ohne seine Hautfarbe zu zeigen. Die Country-Hörerinnen und -Hörer waren hingerissen von seiner Stimme.

Charley Pride singt die Nationalhymne beim Parteitag der Demokraten, 1984

Einer der frühesten und wichtigsten afroamerikanischen Countrysänger. Charley Pride singt die Nationalhymne beim Parteitag der Demokraten, 1984

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picture alliance/ Associated Press / Ira Schwarz

Als er dann 1967 erstmals vor großem Auditorium in Detroit auftrat (die Segregation war erst seit dem Civil Rights Act von 1964 offiziell verboten), verstummte der Begrüßungsapplaus kurz, als er die Bühne betrat. Aber schnell löste er Begeisterung aus und wurde wenig später als regelmäßiger Gast ins Ensemble der »Grand Ole Opry« eingeladen, als erster afroamerikanischer Interpret seit dem Country & Blues-Musiker DeFord Bailey Jahrzehnte zuvor.

Die Frauen des Country
Die späten sechziger und frühen siebziger Jahre brachten dann einige weitere emanzipatorische Entwicklungen im Country mit sich. Loretta Lynn polarisierte 1967 das konservative Publikum mit ihrem durchaus feministischen Lied »Don’t Come Home a Drinkin’ (With Lovin’ on Your Mind)« und erst recht mit ihrem sehr deutlichen Song »The Pill« von 1975, einer Hymne über die gewonnenen Freiheiten der Frauen durch die Antibabypille. Lynn erzählt mit breitem Kentucky-Dialekt darüber – ein charmantes Highlight der Doku-Reihe.

Dolly Parton wiederum musste sich mit einiger Kraftanstrengung von dem Country-Entertainer Porter Wagoner emanzipieren, der sie jahrelang protegierte und in seine Fernsehsendung eingebunden hatte, auch als Duettpartnerin. Als sie jedoch erfolgreicher wurde als er selbst, fiel es ihm schwer, sie ziehen zu lassen. Partons Song »I Will Always Love You« von 1974 ist tatsächlich nicht ihrem Ehemann gewidmet, mit dem sie mittlerweile seit über 50 Jahren verheiratet ist, sondern es handelt sich um ein Abschiedslied für Wagoner. Angeblich schrieb sie es sogar am selben Tag wie ihren ebenso berühmten Song »Jolene«.

Loretta Lynn mit ihrem Mann ­Oliver »Mooney« Lynn in ihrem Haus, ca. 1965

Sang über gewalttätige Ehemänner und Schwangerschaftsverhütung. Loretta Lynn mit ihrem Mann ­Oliver »Mooney« Lynn in ihrem Haus, ca. 1965

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Les Leverett

Im Mittelpunkt der Doku-Reihe oder jedenfalls gleich mehrerer Episoden steht immer wieder Johnny Cash, der seit seinem ersten Gassenhauer »I Walk the Line« (1956) und der Entstehung des Rockabilly bis hin zu seinem Alterswerk, den »American Recordings« (1994 bis – posthum – 2010), über fünf Jahrzehnte lang die Musikgeschichte nicht nur des Country maßgeblich prägte. Seinem Idol, dem 1953 jung verstorbenen Singer/Songwriter Hank ­Williams – dem »Hillbilly-Shakespeare« –, ist wiederum eine ganze Folge gewidmet.

Immer wieder zeigt »Country Music« nicht nur die teils tragischen Lebensgeschichten seiner Protagonistinnen und Protagonisten, sondern auch die Abgründe der dazugehörigen Musikindustrie.

Die Miniserie stellt aber auch immer wieder sehr klar heraus, wie viel Einfluss von Beginn an Songwriterinnen auf die Entwicklung des Country hatten, angefangen mit Cashs Schwiegermutter Maybelle Carter: Als Mitglied der 1927 gegründeten Carter Family, die bisweilen als einflussreichste Gruppe der Country-Historie gilt, schrieb sie nicht nur viele von deren Songs, sondern prägte darüber hinaus mit ihrer Gitarrentechnik, die als Carter-Scratch bekannt werden sollte, maßgeblich die Art und Weise, wie in Country und Folk-Musik die Gitarre eingesetzt wurde. Auf Youtube finden sich zahlreiche Tutorials, die den Carter-Stil lehren.

Sie und ihre Töchter Helen, Anita und June traten ab Mitte der vierziger Jahre als Carter Sisters auf, wobei »Mother« Maybelle nun oftmals die Autoharp spielte, ihr anderes signifikantes Instrument. Neben Carter, Parton, Lynn und Harris thematisiert »Country Music« zudem das Schaffen weiterer herausragender Songwriterinnen wie Patsy ­Cline, Jeannie Seely und Brenda Lee.

Ein Parforceritt
Im Original besteht die vom nichtkommerziellen US-Fernsehsender PBS produzierte Dokumentation aus acht Folgen mit jeweils etwa zwei Stunden Laufzeit. Die nun bei Arte ausgestrahlte Fassung enthält dagegen neun Episoden à 50 Minuten Länge – vermutlich extra für das europäische Publikum gekürzt.

Bereits die Kritiken beim Erscheinen in den USA 2019 betonten bisweilen – bei allem Lob für Burns’ Parforceritt durch die Country-Geschichte –, dass manche Passagen notwendigerweise nicht in aller Tiefe oder Breite die kulturelle und musikalische Entwicklung des Country über das gesamte 20. Jahrhundert erfassen würden. Das liegt freilich auch in der Natur des Formats, das es erfordert, einem Erzählstrang zu folgen, anstatt einen enzyklopädischen Überblick zu liefern.

Dolly Parton, 1977

Eine emanzipierte Frau des Country. Dolly Parton, 1977

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picture alliance / Associated Press

Dass Ken Burns sehr stark die Biographien einiger Stars des Country in den Mittelpunkt seines Films stellt, könnte man kritisieren; andererseits wäre zum Beispiel eine musikologische Studie zur Entwicklung der Country-Spielarten einem größeren Publikum vermutlich kaum vermittelbar. Um die in der Dokumentation erläuterten und verwendeten Songs nicht nur in Auszügen zu hören, können wiederum mehr als 100 Stücke als Musikkompilation auf Spotify oder anderen Plattformen nachgehört werden. Für Fans, die haptische Tonträger bevorzugen, wurde sie außerdem als CD-Box veröffentlicht.

Die Abgründe der Musikindustrie
Immer wieder zeigt »Country Music« nicht nur die teils tragischen Lebensgeschichten seiner Protagonistinnen und Protagonisten, sondern auch die Abgründe der dazugehörigen Musikindustrie: Nachdem das Major-Label Columbia Records seit 1958 zig Millionen mit der Musik von Johnny Cash erwirtschaftet hatte, schmissen sie ihn 1986 wegen mangelnder Verkaufszahlen raus.

Für Johnny Cash gab es ein Happy End, da er sich ab 1994 mit seinen vier hochgelobten »American Recordings« zu Lebzeiten nochmal ein ganz neues Pu­blikum erspielte, zunächst durchaus zum Erstaunen des Country-Mainstream.

Seine Tochter Rosanne Cash, die als Musikerin in dieser Zeit mit ihrem Country-Pop große Erfolge feierte, berichtet über die tiefe Verunsicherung ihres Vaters und darüber, dass sie ihm gegenüber fast ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl sie selbst kurze Zeit zuvor in Nashville noch wie eine Aussätzige behandelt worden war. Ihr damaliger Ehemann und Produzent Rodney Crowell kommentiert trocken die Logik des Musikbusiness: »Es ist schon überraschend, wie viel Respekt du plötzlich bekommst, wenn sich deine Alben gut verkaufen, und kaum überraschend wie wenig, wenn sie sich nicht verkaufen.«

Rosanne Cash auf dem Cover ihres sechsten Albums »King’s Record Shop«, 1987

Die Tochter von Johnny Cash. Rosanne Cash auf dem Cover ihres sechsten Albums »King’s Record Shop«, 1987

Bild:
Hank DeVito

Für Johnny Cash gab es indessen ein Happy End, da er sich über die Zusammenarbeit mit dem Produzenten und Labelbetreiber Rick Rubin ab 1994 mit seinen vier hochgelobten »American Recordings« zu Lebzeiten nochmal ein ganz neues Pu­blikum erspielte, zunächst durchaus zum Erstaunen des Country-Mainstream.

Die Alben gewannen nacheinander einen Grammy für das beste zeitgenössische Folk-Album (1995), einen für das beste Country-Album (1998), einen für den besten männlichen Country-Gesang (2001) und schließlich die Auszeichnung »Album des Jahres« der Country Music Association in Nashville (2003). Burns’ Dokumentation endet im Jahr 2003 mit den kurz aufeinander folgenden Toden von June Carter und Johnny Cash. Das letzte Bild, über das die Kamera schwenkt und mit dem »Coun­try Music« ausklingt, zeigt allerdings Mother Maybelle Carter mit ihrer Autoharp.

Country Music (USA 2019). Regie: Ken Burns. Sprecher: Peter Coyote.
Die Doku-Miniserie kann bis Oktober 2024 bei Arte gestreamt werden.