Neue Essays der Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger

Lesen als Passion

Die literaturkritischen Essays von Ruth Klüger verbinden philologische Genauigkeit mit einer Eleganz, die heute fast niemand mehr beherrscht.

Ruth Klügers Popularität in Deutschland beruht auf einem merkwürdigen Vergessen. In ihrer Autobiographie »weiter leben. Eine Jugend« beschreibt sie, ausgehend von ihrer Jugend in der amerikanischen Besatzungszone in Bayern, wohin sie 1945 als 13jährige mit ihrer Mutter geflüchtet war, ihre Kindheitserfahrungen in Wien vor dem »Anschluss« Österreichs sowie ihre Deportation in die Konzentrationslager von Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau.

Das Buch reüssierte bald nach Erscheinen als kanonischer Beitrag zur autobiographischen Erinnerung des Holocaust. Ihre seltenen, aber dezidierten politischen Eingriffe, wie die Kommentare zu Binjamin Wilkomirskis als Lebensbericht ausgegebenem Buch »Bruchstücke«, die Aufkündigung ihrer Freundschaft mit Martin Walser nach Erscheinen von dessen Roman »Tod eines Kritikers« und ihr Lob von Angela Merkels Flüchtlingspolitik, die sie »heroisch« nannte, bestimmten ihre Wahrnehmung als politische Intellektuelle.

Ruth Klügers seltene, aber dezidierte politische Eingriffe, wie die Kommentare zu Wilkomirskis als Lebensbericht ausgegebenem Buch »Bruchstücke«, die Aufkündigung ihrer Freundschaft mit Martin Walser nach Erscheinen von dessen »Tod eines Kritikers« und ihr Lob von Angela Merkels Flüchtlingspolitik, bestimmten ihre Wahrnehmung als politische Intellektuelle.

Gleichzeitig jedoch hat Klüger als Literaturwissenschaftlerin und Phi­lologin gewirkt. Nachdem sie 1947 in die USA ausgewandert war, studierte sie in New York und Ber­keley Bibliothekswissenschaften und Germanistik. 1967 promovierte sie mit einer Studie über das barocke Epigramm, 1980 wurde sie auf eine Professur an der Princeton Univer­sity berufen und pendelte fortan zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik, wo sie in Göttingen eine Gastprofessur innehatte. Von 1978 bis 1984 war sie Mithe­rausgeberin der Zeitschrift German Quarterly. Der Göttinger Wallstein-Verlag, in dem »weiter leben« erschien, nachdem Siegfried Unseld eine Veröffentlichung bei Suhrkamp abgelehnt hatte, erinnert nun mit mehreren von der Philologin Gesa Dane edierten Bänden an diesen Aspekt von Klügers geistiger ­Biographie.

Ruth Klüger, Hans Mayer und Hannah Arendt

Während die 1996 erschienene Studie »Frauen lesen anders« vor allem im Kontext der Begeisterung für »weibliche Ästhetik« wahrgenommen wurde, machen die in dem jetzt erschienenen Band »anders lesen« versammelten Essays zur deutschsprachigen Literatur deutlich, dass Klüger die Rede von der Andersheit stets sozialhistorisch statt ontologisch begriffen hat. Zusammen mit dem bereits 2021 erschienenen Band »Wer rechnet schon mit Lesern?« vermittelt das Buch, drei Jahre nach Klügers Tod im Oktober 2020, einen Überblick über ihre philologischen Arbeiten.

Der Begriff der Andersheit steht bei Klüger in der Tradition einer sozialgeschichtlichen Hermeneutik, wie sie Albrecht Schöne 1958 mit seiner Untersuchung »Säkularisation als sprachbildende Kraft« über die Dichtung deutscher Pfarrerssöhne begründet und später Hans Mayer in seinem 1975 erschienenen Buch »­Außenseiter« fortgeführt hat. Auch Hannah Arendts Arbeiten zur weib­lichen Salonkultur der Romantik gehören in diese Tradition, die sich dadurch auszeichnet, die literarischen Texte, mit denen sie sich befasst, als Material für die Rekonstruktion ihrer Epoche ernst zu nehmen, ohne die Differenz zwischen ästhetischer Phantasie und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu überspringen.

Ähnlich sind Klügers Texte geprägt von dem Bemühen, Eigenheiten der Metaphorik, Motivgestaltung und Dramaturgie nicht einfach auf ihre soziogenetischen Bedingungen zurückzuführen, sondern sie sozialgeschichtlich aufzuschlüsseln. Im kanonischen Rahmen verbleibt sie ­dabei, wenn sie etwa die Bedeutung des Generationenmotivs in Gotthold Ephraim Lessings »Emilia Galotti« und die »Säkularisierung des ­Judenhasses« in Wilhelm Raabes 1863 erschienenem Roman »Der Hungerpastor« untersucht, den sie als Zeugnis des Übergangs zwischen christlich geprägtem Antijudaismus und modernem Antisemitismus liest.

Doch Klüger erprobt ihr Vorgehen auch an unorthodoxen Gegenständen, etwa in einem Essay über »Alte Menschen in der Dichtung«, in dem sie nicht nur Rainer Maria Rilke und den österreichischen Lyriker Theodor Kramer als Dichter des Alters und der Alten entdeckt, sondern auch an der Dramatik der bürgerlichen Epoche seit Shakespeares »King Lear« darstellt, wie die Dysfunktionalität alter Menschen und ihre ­Unbrauchbarkeit für einen geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus sie auf die Rolle des Weisen, aber Einsamen, oder des komischen Greises festlegten – ein ästhetisches Erbe, das später vom absurden Theater, insbesondere von Samuel Beckett, wieder aufgegriffen wurde.

Dass Klüger bei dieser Gelegenheit auch Aufschlussreiches über die unterschiedliche literarische Darstellung von alten Männern und alten Frauen sagt – als alt gelten Frauen, wenn sie keine Kinder mehr gebären können, während es kein männliches Äquivalent zur »alten Jungfer« gibt –, zeigt ein weiteres Charakte­ristikum ihrer Arbeit: Die Geschlechterthematik taucht in ihren Texten am Rande immer dort auf, wo sie hermeneutischen Aufschluss verspricht. Niemals wird sie vorab als Forschungsprogramm verordnet.

Zwischen Ingeborg Bachmann und Annette von Droste-Hülshoff

Dazu passt, dass sich Klüger zwar häufig mit weiblichen, aber fast nie mit »feministischen« Autoren beschäftigt. Literarische Texte, die von einer frauenpolitischen Programmatik imprägniert sind, interessieren sie nicht. Fasziniert dagegen zeigt sie sich von der Frage, wie gesellschaftliche Erfahrungen von Frauen sich gerade in scheinbar altbackenen, konservativen Texten zu Unrecht vergessener Schriftstellerinnen niedergeschlagen haben.

Ab­gesehen von Ingeborg Bachmann, mit der sie sich immer wieder beschäftigt hat, liest sich Klügers Kanon weiblicher Autoren daher eher wie ein Namensindex ästhetischer Reaktion: Annette von Droste-Hülshoff mag inzwischen literaturwissenschaftlich approbiert sein, aber wen interessieren Marie von Ebner-Eschenbach, Marie Luise Kaschnitz und Elisabeth Langgässer? Letztere stellt Klüger in einem 1970 auf Englisch geschriebenen Essay als Vertreterin eines »christlichen Surrealismus« vor, in dem sich Traditionen der Erbauungsliteratur mit Alptraum- und Wahnphantasien verschränken und der dadurch versprengte Erfahrungen der jüdischen Verfolgungs- und Exilgeschichte zum Ausdruck bringt – Langgässers zum Katholizismus konvertierter ­Vater kam aus einer jüdischen ­Familie.

Der Titel »Wer rechnet schon mit Lesern?« bringt gut zum Ausdruck, dass Klüger mit der Wahl ihrer Gegenstände und Fragestellungen das Abgelegene und Unbeliebte immer wieder geradezu gesucht hat.

Ebner-Eschenbach, schon von ihrer Zeitgenossin und Kollegin Gabriele Reuter als »Dichterin der Idylle« geschmäht, wird von Klüger in die Tradition einer kritischen volkstümlichen Literatur nach Art Johann ­Peter Hebels gestellt. Ihre »Dorf- und Schlossgeschichten« liest Klüger als Versuche der Artikulation zum Schweigen gebrachter Erfahrungen von Armut und Notzucht, aber auch gesellschaftlich erzeugter Bildungs- und Sprachlosigkeit.

Die Lyrik von Kaschnitz wiederum macht sie, im Sinne Theodor W. Adornos, der Kaschnitz schätzte, als einen Versuch lesbar, die in den fünfziger Jahren von Gottfried Benn heroisch thematisierte »Ichzersplitterung« moderner Dichtung mutwillig zu profanieren und in den ästhetischen Registern konventioneller Alltagsdichtung zur Geltung zu bringen. Die Adaption des Trivialen, Volkstümlichen, Ab­genutzten interessiert Klüger auch an Heinrich Heine, über den sie ­vielfach geschrieben hat, sowie an Franz Grillparzer, dessen Komödien sie als Inszenierungen einer »Vermeidung des Tragischen« deutet.

Vergessene Autorinnen, die Literatur des Biedermeier und der frühen Bundesrepublik: Der Titel »Wer rechnet schon mit Lesern?« bringt gut zum Ausdruck, dass Klüger mit der Wahl ihrer Gegenstände und Fragestellungen das Abgelegene und Unbeliebte immer wieder geradezu ­gesucht hat. Doch die beiden Bände führen, indem sie verstreut ver­öffentlichte Essays aus mehr als vier Jahrzehnten zum ersten Mal zusammenführen, auch vor, was an Klügers Schreiben besticht: die elegante Bescheidenheit, mit der hier ­jemand, ohne falsche Generalisierungen und kleinkarierte Gelehrsamkeit, einfach über das schreibt, was ihn interessiert, und genau das und nie mehr als das sagt, was ihm daran aufgeht. Lesen und Schreiben sind unmittelbar miteinander verbunden, als zwei Aspekte desselben Handwerks, das als Philologie – Liebe zum Wort – zugleich eine Leidenschaft ist.


Ruth Klüger »Wer rechnet schon mit Lesern?«

Ruth Klüger: Wer rechnet schon mit ­Lesern? Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Gesa Dane. Wallstein, Göttingen 2021, 256 ­Seiten, 24 Euro


Ruth Klüger Anders lesen

Ruth Klüger: anders lesen. Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. v. Gesa Dane. Wallstein, Göttingen 2023, 264 Seiten, 26 Euro