Eine Broschüre über die Geschichte Israels sorgt in Berlin-Neukölln für Proteste

Die große Neukölln-Story

An Berliner Schulen werde mit Hilfe einer Broschüre zum israelisch-palästinensischen Konflikt »Geschichtsfälschung betrieben« und »die Nakba geleugnet« – diese Behauptung versetzt derzeit die antiisraelische Protestszene in helle Aufregung. Die Realität sieht anders aus.

»Als wäre der Völkermord in Palästina nicht schon schlimm genug«, setzte eine Sprecherin der Gruppe »Eye 4 Palestine« am Freitag vergangener Woche in ihrer Rede an. Weiter ging es nicht etwa mit dem Krieg in Sudan, wo derzeit Hunderttausende auf der Flucht und Millionen von Hunger bedroht sind, sondern mit Vorgängen direkt vor der Haustür: »Entsetzt« stehe man heute hier, »um über eine Broschüre zu sprechen, die in Neuköllner Schulen die Nakba, eine Katastrophe und das am besten dokumentierte Verbrechen gegen die Menschlichkeit, verharmlost und leugnet«.

Rund 200 Menschen waren zu der Kundgebung vor dem Rathaus des Berliner Bezirks Neukölln erschienen. Dazu aufgerufen hatten einige der Gruppen, die seit Wochen den antiisraelischen Protest in Berlin am Laufen halten, darunter »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« und die Palästina-Kampagne. Die Verbreitung der Broschüre sei »extremes Brainwashing«, sagte die Rednerin, und müsse sofort gestoppt werden.
Mit dem arabischen Wort Nakba (Katastrophe) wird gemeinhin die Flucht und Vertreibung von über 750.000 Arabern aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina im Zuge der Gründung des Staats Israel bezeichnet.

Bei der Sitzung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung gab es auf der Besuchertribüne lautstarken Protest. Mehrmals wurde die Tagung unterbrochen.

Dass an Neuköllner Schulen von nun an ganz offiziell die »Nakba geleugnet« werde, hatte in den sozialen Medien für einige Aufregung gesorgt, auch außerhalb Deutschlands. Auf Englisch berichtete die Londoner Nachrichtenseite Middle East Eye von der Neuköllner Lokalposse. Es war eine jener zahlreichen Geschichten über die angebliche Unterdrückung »israelkritischer« Stimmen in Deutschland und besonders in Neukölln, die seit Monaten vor allem in der englischsprachigen Öffentlichkeit kursieren. Wie bei den meisten dieser Geschichten sieht die Realität im Fall der angeblichen »gehirnwaschenden« Broschüre nicht nur ganz anders aus, sie ist vor allem deutlich unspektakulärer, als es die Hysterie in den sozialen Medien glauben machen könnte.

Kampagne der Neuköllner Linkspartei

Bei der fraglichen Broschüre handelt es sich um eine Textsammlung des Bildungsvereins Masiyot mit dem Titel »Mythos Israel 1948«. Sie erschien vor einem halben Jahr und ist von der Berliner Landeszentrale für politische Bildung gefördert worden. Schon als die Broschüre im vergangenen September vorgestellt wurde, löste sie Proteste von antizionistischen Gruppen aus. Bei der Veranstaltung in der Neuköllner Programm-Kneipe »Bajszel« wurde ein herumschreiender Veranstaltungsteilnehmer unter Berufung auf das Hausrecht von der Veranstaltung ausgeschlossen.

In der Einleitung der Broschüre schreiben die Herausgeber, dass über Israel seit seiner Gründung im Jahr 1948 »Gerüchte und Mythen« kursierten, »die eine einseitige und vereinfachte Sichtweise auf dieses komplexe historische Ereignis befördern und nicht selten auch in israelbezogenem Antisemitismus Ausdruck finden«. Darunter zählen sie etwa den Mythos, dass vor der Staatsgründung Juden und Muslime friedlich zusammengelebt hätten, Israel ein kolonialistisches Projekt oder die Staatsgründung nur eine Folge des Holocausts sei. Mit der Broschüre wollen die Herausgeber »Argumentationshilfen und -strategien an die Hand geben, um ein differenzierteres Bild vom jüdischen Staat zu vermitteln«. Die Beiträge sind zum Teil von Mitgliedern der Gruppe verfasst, zum Teil stammen sie von anderen Autoren, zum Beispiel dem US-amerikanischen Historiker Jeffrey Herf.

Dass nun erneut gegen die Broschüre protestiert wurde, liegt an einer Abstimmung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV) – und einer Kampagne der dortigen Linkspartei. Am 21. Februar hat die BVV mit den Stimmen der SPD einen Antrag der CDU-Fraktion angenommen, der kurz nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober in Israel eingebracht worden war. Damals war es bekanntlich zu israelfeindlichen Ausschreitungen im Bezirk gekommen. Der Antrag fordert das Bezirksamt auf, sich für die Nutzung der Masiyot-Broschüre in Neuköllner Oberschulen einzusetzen – »um bestehende antisemitische Narrative innerhalb des pädagogischen Rahmens zu konfrontieren«.

Antisemitische Schlussstrichparole »Free Palestine from German guilt« wurde skandiert

Bei der Sitzung am 21. Februar hatte es auf der Besuchertribüne lautstarken Protest gegeben. Mehrmals wurde die Sitzung unterbrochen. Protestiert wurde nicht nur gegen die Anträge der CDU, sondern auch für einen Antrag der Linkspartei, der an dem Tag eingebracht worden war, mit dem Titel: »Neukölln fordert das Ende des Krieges in Gaza! Für sofortige Waffenruhe und Stopp der Waffenlieferungen«.

Insgesamt waren rund 50 Demons­trantinnen und Demonstranten auf den Zuschauerrängen, die, teils mit Kufiya gekleidet, offensichtlich nur wegen der Anträge gekommen waren. In einer Videoaufzeichnung ist zu hören, wie eine Frau die antisemitische Schlussstrichparole »Free Palestine from German guilt« skandiert.

Die mythische Broschüre. Das Cover der Publikation von Masiyot

Die mythische Broschüre. Das Cover der Publikation von Masiyot

Bild:
Masiyot

Die Linkspartei Neukölln, die Gruppe Israelis for Peace und der Aktivist, der damals aus dem »Bajszel« von der Veranstaltung verwiesen worden war, hatten aus Protest gegen die Broschüre zum Protest bei der BVV-Sitzung aufgerufen. Andere Gruppen, darunter ebenfalls die Linkspartei Neukölln und »Palästina spricht«, hatten zur Unterstützung des Linkspartei-Antrags zum Besuch der BVV aufgerufen.

Die Linkspartei stellte einen Änderungsantrag, der abgelehnt wurde. Das Bezirksamt solle die Verbreitung der Broschüre »und deren Inhalte an Neuköllner Schulen« verhindern, heißt es dort. Das Projekt verbreite »eine einseitige Geschichtsdarstellung an der Grenze zur Geschichtsfälschung«. Masiyot würde unter anderem behaupten, »dass Israel nicht schuld sei an der Nakba«.

Die Broschüre behandelt die Vorgänge im Jahr 1948, die zur Staatsgründung Israels und zur Flucht und Vertreibung Hunderttausender Palästinenser führten. Dazu heißt es, dass »eine systematische Vertreibung der arabischen Bevölkerung« von Israel »weder geplant noch durchgeführt« wurde, was sich mit dem Urteil seriöser Historiker wie Benny Morris deckt. Die Broschüre thematisiert allerdings vor allem die Vorgänge, die zu dem Krieg 1948 geführt haben, und betont dabei die Verantwortung der arabischen Seite, die den UN-Teilungsplan nicht akzeptierte und stattdessen versuchte, den neu gegründeten Staat Israel militärisch zu vernichten.

Broschüre nicht als Lehrmaterial für Schulen konzipiert

Über die Darstellung der Broschüre kann man sicher in vielen Punkten streiten – die jahrzehntelange Debatte über diese Vorgänge könnte ganze Bi­bliotheken füllen. Fragwürdig ist zum Beispiel der betonte Verweis darauf, dass es die arabischen Regimes gewesen seien, die kurz vor ihrem Angriff auf Israel die Bevölkerung zur Flucht aufgefordert hatten. Ob solche Aufrufe wirklich eine große Rolle gespielt haben oder die arabische Bevölkerung nicht vor allem aus Furcht vor dem Krieg mit den jüdischen Streitkräften flohen, darüber streiten die Historiker.

Die – relativ schmale – Broschüre hat freilich gar nicht den Anspruch, die Geschichte des Konflikts umfassend darzustellen. Vielmehr will sie »Argumentationshilfen« gegen übliche antizionistische Behauptungen liefern. An deutschen Schulen gilt das »Überwältigungsverbot« – Lehrer dürfen ihren Schülern keine politischen Meinungen aufzwingen, sondern sollen sie in die Lage versetzen, sich selbst eine zu bilden. Nur in diesem Sinne dürfte die Broschüre im Unterricht verwendet werden. Sie ist allerdings auch gar nicht dafür konzipiert worden, als Lehrmaterial an Schulen zu dienen, und das merkt man ihr auch an. Es darf bezweifelt werden, dass die relativ trockenen und detailreichen Texte geeignet wären, Jugendliche zu »überwältigen« oder gar zu »brainwashen«.

Auf die Nachfrage der Jungle World, ob man überhaupt Kontakt zu dem Bildungsverein Masiyot aufgenommen habe, um das Vorhaben zu besprechen, antwortete der CDU-Bezirksverordnete und Vorsteher der BVV, Karsten Schulze, man habe das »bislang nicht« getan; Lehrer seien »kompetent genug«, diese Broschüre »mit ihren Schülern zu bearbeiten«.

Der Verdacht liegt nahe, dass die CDU sich mit ihrem Antrag, die Masiyot-Broschüre in Neuköllner Schulen zu nutzen, als Hardliner gegen israelbezogenen Antisemitismus zu inszenieren versuchte, ohne tatsächlich praktikable Konzepte vorweisen zu können.

Unklar ist allerdings, welche Wirkung der Antrag der Bezirksverordnetenversammlung haben wird. Der allgemeine Lehrplan für Berliner Schulen wird schließlich nicht auf Bezirksebene gemacht. Und über die Auswahl von Lehr- und Lernmitteln entscheiden nicht die Bezirksämter, sondern eigenverantwortlich die Schulen, wie ein Sprecher des Senats für Bildung, Jugend und Familie der Jungle World bestätigte. Der Verdacht liegt also nahe, dass die CDU sich mit dem Antrag als Hardliner gegen israelbezogenen Antisemitismus zu inszenieren versuchte, ohne tatsächlich praktikable Konzepte vorweisen zu können.

Der Aufregung hat das alles keinen Abbruch getan. Seit vergangener Woche haben sich mehr als 1.000 Menschen einer Petition angeschlossen, die sich an das Neuköllner Bezirksamt und die Schulleitungen richtet. Wer die Unterzeichner der Petition sind, lässt sich nicht einsehen. »Als Eltern und Pädagog:innen in Berlin sind wir zutiefst besorgt über die Entscheidung des Neuköllner Bezirksamtes, eine Broschüre mit dem Titel ›Mythos Israel 1948‹ in das Schulprogramm einzuführen«, heißt es darin. Die »Indoktrinierung von Schüler:innen mit dieser falschen Version historischer Ereignisse« laufe darauf hinaus, »unsere Kinder zum Schweigen zu bringen und zu gaslighten«, heißt es weiter in dem Brief.

Andernorts erfreut sich die Broschüre einiger Beliebtheit. Wie ein Sprecher von Masiyot der Jungle World mitteilte, nahmen Mitte Februar rund 90 Menschen an einer unter anderem von der Hochschulgruppe des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) organisierten Veranstaltung in der Leipziger Universitätsbibliothek teil. Außerdem habe der DGB-Bezirk Sachsen mehrere Hundert Stück nachgedruckt und an seine Funktionäre verteilt, weitere Veranstaltungen seien in Planung. Zu den geschilderten Vorgängen und Vorwürfen wolle er zum jetzigen Zeitpunkt keine Stellung nehmen.