Das Recht auf Abtreibung erhält in Frankreich Verfassungsrang

Ein Sieg der Frauenrechte

Mit überwältigender Mehrheit hat der französische Parlamentskongress die »garantierte Freiheit« zum Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert. Damit soll eine Entwicklung wie in den USA verhindert werden.

Paris. »Historisch statt hysterisch«: Dieser kurze Slogan auf einem Pappschild bei der Pariser Demonstration zum internationalen Frauentag, der auf den Freitag voriger Woche fiel und nach behördlichen Angaben 28.000, den Veranstalterinnen zufolge 100.000 Menschen in einem Demonstrationszug versammelte, bezog sich auf die jüngste Änderung der französischen Verfassung. Sie wurde termingerecht am selben Tag, also am symbolträchtigen Datum des 8. März, veröffentlicht; das Recht auf Abtreibung findet nunmehr verfassungsrechtliche Anerkennung.

Der neue Verfassungszusatz ändert den Artikel 34 der Verfassung der Fünften Republik von 1958 ab. Dieser listet alle Gegenstände auf, die notwendig dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben – die also nicht durch Verordnungen der Exekutive oder der Verwaltung oder durch andere Akte, die dem Gesetz untergeordnet sind, geregelt werden können. Dem neuen Text zufolge muss der Gesetzgeber notwendig »die Bedingungen« regeln, »unter denen die den Frauen garantierte Freiheit, auf einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch zurückzugreifen, ausgeübt wird«.

Vor einigen Jahrzehnten, bis in die frühen Siebziger hinein, hätte derartiges noch als Anliegen »hysterischer Weiber« gegolten – darauf bezog sich die Demonstrationsparole. Der Weg zum Recht auf Abtreibung war lang und begann mit einem im Januar 1975 verabschiedeten Gesetz, das nach der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil bezeichnet wurde, die loi Veil. Es beendete die prinzipielle Strafbarkeit von Abtreibungen und legalisierte den Abbruch in den ersten zehn Wochen einer Schwangerschaft. Im Jahr 2001 wurde die Frist von zehn auf zwölf Wochen ausgedehnt, im März 2022 auf 14 Wochen.

Die Aufnahme in die Verfassung verhindert, dass das Recht auf Abtreibung durch ein einfaches Gesetz in Frage gestellt oder abgeschafft wird.

Der neue Verfassungstext ändert nichts an den näheren Bestimmungen zu den Bedingungen eines legalen Abbruchs, er verweist dazu auf den Gesetzgeber. Doch darum ging es auch nicht. Die Aufnahme in die Verfassung verhindert, dass das Recht auf Abtreibung durch ein einfaches Gesetz in Frage gestellt oder abgeschafft wird. Denn würde die Nationalversammlung einmal mit einfacher Mehrheit – im Falle eines Konflikts zwischen beiden Parlamentskammern hat nach Vermittlungsversuchen des Senats grundsätzlich die Nationalversammlung das letzte Wort – entscheiden, die loi Veil abzuschaffen, dann würde das gegen die Verfassung verstoßen; eine Verfassungsänderung hingegen bedürfte eines Referendums oder einer Dreifünftelmehrheit in einer gemeinsamen Sitzung der beiden Parlamentskammern – im Unterschied zu Deutschland, wo Grundgesetzänderungen eine Zweidrittelmehrheit jeweils im Bundesrat und im Bundestag erfordern.

Reaktion auf die Aufhebung von »Roe v. Wade«

Am Montag voriger Woche wurde in Frankreich der zweite Weg beschritten, um den neuen Verfassungszusatz zu beschließen: Dazu versammelte sich der congrès, der sogenannte Parlamentskongress – die gemeinsame Sitzung beider Parlamentskammern, der Nationalversammlung und des Senats. Statt der erforderlichen 60 Prozent der Stimmen von insgesamt 925 Kongressmitgliedern wurde die Neuerung in der Verfassung am 4. März allerdings mit einer über 90prozentigen Mehrheit angenommen: Bei 50 Enthaltungen gab es 780 Jastimmen und 72 Neinstimmen.

Notwendig geworden war der Verfassungszusatz aus Sicht einer Mehrheit der französischen Parlamentarier und vor allem Parlamentarierinnen, nachdem in den USA der dortige Supreme Court am 24. Juni 2022 die bisherige, unter dem Namen »Roe v. Wade« bekannt gewordene höchstrichterliche Rechtsprechung von 1973 aufgehoben hatte. Das entsprechende Mehrheitsvotum des aus neun Richtern bestehenden Gremiums war durch die unter der Präsidentschaft Donald Trumps 2017 bis 2021 vorgenommenen Neuernennungen konservativer Juristen möglich geworden. Seitdem ist es in den USA den einzelnen Bundesstaaten überlassen, Abtreibungen gesetzlich zu reglementieren oder, in manchen Fällen, auch gänzlich zu verbieten.

In Frankreich war fünf Tage vor der höchstrichterlichen Entscheidung in den USA die Nationalversammlung gewählt worden, in der die Regierung keine absolute Mehrheit hinter sich weiß. Zudem zogen erstmals in der Fünften Republik nicht weniger als 90 Abgeordnete der extremen Rechten ein: 89 des Rassemblement national (RN, Nachfolgepartei des FN) sowie der Nationalkonservative Nicolas Dupont-Aignan. Daraufhin reichten Abgeordnete aller Fraktionen linker Parteien am 7. Oktober 2022 einen Gesetzentwurf ein, der für eine verfassungsrechtliche Garantie des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch sorgen sollte, um es vor eventuellen Mehrheiten von Konservativen und Neofaschisten zu schützen.

Im Laufe des Jahres 2023 kam es darüber zu einer Annäherung zwischen den Emmanuel Macron unterstützenden Parteien in der Nationalversammlung und den linken Fraktionen. Das Macron-Lager stimmte zwar am 19. Dezember gemeinsam mit Konservativen und Neofaschisten für eine Verschärfung der Ausländergesetzgebung, die zum Teil durch ein Verfassungsgerichtsurteil vom 25. Januar aufgehalten worden ist, wollte aber zugleich auch seine Liberalität und seine Bündnisfähigkeit mit linken Kräften betonen.

Die Mehrheit der bürgerlichen und der extremen Rechten trat dem Vorhaben nicht offen entgegen

Der Offensive, die Liberale und Linksparteien gemeinsam zur Garantie des Rechts auf Schwangerschaftsabbrüche führten, traten die bürgerlichen Rechten sowie die Rechtsextremen mehrheitlich nicht offen entgegen. Eine Position, die sich der geplanten Verfassungsänderung klar widersetzt hätte, wäre in der Gesellschaft eindeutig unpopulär gewesen.

Der Präsident der stärksten konservativen Partei Les Républicains (LR), Éric Ciotti, warnte seine Parteifreunde, die 149 der 171 Änderungsanträge zu dem Entwurf für ein verfassungsänderndes Gesetz eingebracht hatten, davor, »rückständig zu wirken«. Und bei den Rechtsextremen ist die jüngere Generation, die derzeit die Parteigeschäfte beim RN leitet, nicht unbedingt davon überzeugt, dass einem Kampf gegen Abtreibungen Priorität zukomme.

Letztlich stimmten im Kongress 50 Parlamentarier von LR und zwölf des RN gegen die Verfassungsänderung, hinzu kamen einige Vertreter kleinerer bürgerlich-konservativer Parteien sowie einige Abgeordnete der sogenannten Überseegebiete.

Beim RN stimmten hingegen 45 Parlamentarier der Änderung zu, 14 weitere enthielten sich. Damit hat es die Parteiführung geschafft, den aus ihrer Sicht zu unmodern daherkommenden, traditionell-katholischen innerparteilichen Flügel im Zaum zu halten. Noch bei der ersten Abstimmung zum Thema in der Nationalversammlung im November 2022 hatte sich nur eine Minderheit der RN-Fraktion zur Zustimmung bereit gezeigt – mit 38 Ja- und 23 Neinstimmen bei 13 Enthaltungen unter den Anwesenden.

In Teilen der aktivistischen, außerparlamentarischen Rechten hingegen nahm man das Votum nicht in vergleichbarer Weise hin. Im westfranzösischen La Roche-sur-Yon wurde Mitte voriger Woche eine Statue der Holocaust-Überlebenden Simone Veil beschädigt und mit dem Satz beschmiert: »Die Verfassung tötet unsere Kinder«; zu ihren Füßen hinterließen die Täter tote Embryos symbolisierende Puppen sowie eine aus rot gefärbtem Wasser bestehende »Blutlache«. Dazu bekannte sich die nationalistische, zumindest historisch dem Monarchismus verpflichtete Action française.

In La Roche-sur-Yon wurde eine Statue von Simone Veil beschädigt und mit dem Satz »Die Verfassung tötet unsere Kinder« beschmiert.

In Lille und Straßburg wurden Beratungsstellen der progressiven Nichtregierungsorganisation Planning familial, die ergebnisoffen zu Themen wie Verhütung und Schwangerschaftsabbrüchen berät, mit Parolen unter anderem gegen »Kindermord« beschmiert. Und im ostfranzösischen Metz versammelten sich extremistische Abtreibungsgegner in der örtlichen Kathedrale zu einem »Gebet, um Gott um Vergebung zu bitten«. Auf dem Telegram-Kanal des militanten Faschisten Yvan Benedetti, früher Chef der 2013 verbotenen Gruppierung L’Œuvre française, wurde die Initiative dazu Cassandre Fristot zugeschrieben. Die frühere Deutschlehrerin Fristot war 2021 wegen eines antisemitischen Plakats auf einer Demonstration von Gegnern der Pandemiemaßnahmen zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden.

Sich nicht dermaßen konfrontativ gebende Rechte halten sich von solchem Treiben eher fern, streben jedoch danach, auf Dauer die Wirkung des jüngsten Votums einzugrenzen. Der in den Medien sehr präsente Bürgermeister von Béziers, der Parteilose Robert Ménard, etwa sagte, er befürworte die Verfassungsergänzung; gleichzeitig bleibe jedoch jede Abtreibung ein »Drama« und es sei ganz wichtig, Schwangere zu beraten. Seine eigene Ehefrau, die Abgeordnete Emmanuelle Ménard, sei bei Beratungsstellen aktiv.

Ménard zählt jedoch zu den aktiven rechtskatholischen Abtreibungsgegnerinnen. Beratung ist in Frankreich vor einem Abbruch nicht obligatorisch, sondern wird fakultativ angeboten, jene beim Planning familial etwa hört auf die Wünsche von ungewollt Schwangeren. Einige Beratungsinitiativen dienen jedoch auch nur zur Tarnung von oft katholisch geprägten Abtreibungsgegnern. Dasselbe gilt für viele vorgebliche Beratungsangebote im Internet; laut feministischen Initiativen werden bis zur Hälfte der einschlägigen Websites von Abtreibungsgegnern betrieben. Einen Gesetzentwurf von linken Abgeordneten zum Verbot von derlei Propaganda unter falscher Flagge hat eine Parla­ments­mehrheit 2021 abgewiesen.