Die »internationale Gemeinschaft« leistete dem Völkermord an den Tutsi Vorschub

French Connection

Die »internationale Gemeinschaft« versäumte es 1994 nicht nur, etwas gegen den Völkermord in Ruanda zu unternehmen. Sie versuchte sogar, die einzige Kraft zu bremsen, die gegen die »génocidaires« vorging.
Kommentar Von

Gerade noch rechtzeitig erkannten die französischen Offiziere, dass sich ihr Konvoi in einem Hinterhalt befand, in dem sie die Luft- und Artillerieüberlegenheit der Interventionstruppe der »Opération Turquoise« nicht nutzen konnten. »Ein paar Mann mit Raketenwerfern zielten auf die Jeeps«, berichtete Paul Kagame, damals Anführer der Ruandische Patriotischen Front (RPF) und derzeit Präsident Ruandas, dem US-Journalisten Philip Gourevitch. Die französischen Soldaten erhielten daraufhin »die Anweisung, ihre Gewehre nach oben zu richten«. Es kam kurze Zeit später zu einem Schusswechsel auf große Distanz, bei dem niemand verletzt wurde; Frankreich versuchte keine weiteren Vorstöße in von der RPF gehaltene Gebiete.

Kagames Darstellung des Zwischenfalls nahe Butare Anfang Juli 1994 lässt sich nicht verifizieren, sie passt aber zu den bekannten Fakten. Nachweisbar ist, dass der UN-Sicherheitsrat es seit Anfang April, dem Beginn des Mordens in Ruanda, versäumt hatte, etwas zur Rettung der bedrohten Zivilist:innen zu unternehmen, obwohl Resolution 872 vom 5. Oktober 1993 unter den Aufgaben der in ­Ruanda stationierten UN-Truppe Minuar an erster Stelle aufführte, sie solle »zur Sicherheit in der Stadt Kigali beitragen«. Eine Schutz­zone für aus anderen Landesteilen vor den Massakern Fliehende hätte mit der RPF oder durch eingeflogene Truppenverstärkungen für die Minuar eingerichtet werden können – und müssen.

Damit nicht genug, untersagte der Sicherheitsrat de facto sogar den Schutz der Zivilbevölkerung. Denn die RPF, deren militärischer Vormarsch die alleinige Hoffnung jener Bedrohten war, die noch nicht abgeschlachtet worden waren, wurde in den Resolutionen 912 (21. April), 918 (17. Mai) und 925 (8. Juni) zu einem Waffenstillstand aufgefordert. Resolution 929 (22. Juni) setzte noch einmal die génocidaires, die mordenden Soldaten, Polizisten und Hutu-Milizionäre, mit der RPF gleich und ermächtigte Frankreich zur »Opération Turquoise«, einer vorgeblich humanitären Intervention »mit allen ­erforderlichen Mitteln«.

Es mangelte nach dem Genozid nicht an vermeintlich selbstkritischen Äußerungen verantwortlicher Politiker:innen und UN-Bürokrat:innen. Manche mag tatsächlich das Gewissen geplagt haben, doch die Formel vom »Versagen der internationalen Gemeinschaft«, auf die man sich schnell einigte, um eine allzu tiefschürfende Aufarbeitung zu vermeiden, ist eine dreiste Beschönigung.

Glücklicherweise verfügte die RPF über die erforderliche Stärke, der französischen Intervention Grenzen zu setzen. Den Untersuchungen von Human Rights Watch und anderen NGOs zufolge, die sich auch Quellen aus dem französischen Militär- und Staatsapparat stützen, erwog Frankreich anfangs eine Offensive gegen die RPF – um dem alten Regime wieder zur Herrschaft zu verhelfen oder zumindest die RPF zu einer Teilung der Macht mit den génocidaires zu zwingen. Das wichtigstes Ziel aber, den Rückzug der nunmehr militärisch unterlegenen génocidaires zu decken, erreichte die »Opération Turquoise«. Damit leistete die französische Intervention einen maßgeblichen Beitrag zur Eskalation im damaligen Zaire.

Es mangelte nach dem Genozid nicht an vermeintlich selbstkritischen Äußerungen verantwortlicher Politiker:innen und UN-Bürokrat:innen. Manche mag tatsächlich das Gewissen geplagt haben, doch die Formel vom »Versagen der internationalen Gemeinschaft«, auf die man sich schnell einigte, um eine allzu tiefschürfende Aufarbeitung zu vermeiden, ist eine dreiste Beschönigung. Es geht hier nicht um bedauerliche Fehleinschätzungen oder bürokratische Verzögerungen. Alle Beteiligten waren über die Verbrechen der génocidaires, die Interessen Frankreichs und auch die Rolle der RPF hinreichend informiert. Die »internationale Gemeinschaft« trägt die Mitverantwortung für den Tod von mindestens 3,6 Millionen Menschen, die im Genozid und im kongolesischen Bürgerkrieg starben.

Das sollte nicht ignorieren, wer der Uno die responsibility to protect, die Verantwortung, Zivilist:innen vor Kriegsverbrechen und Genozid zu schützen, zusprechen möchte. So richtig es ist, dass man nicht tatenlos zuschauen darf – es müssen die Machtverhältnisse bedacht werden, unter denen darüber entschieden wird, in welchen Fällen und zu wessen Gunsten interveniert werden soll. Das dama­lige Problem war erschreckend banal: Frankreich wollte seine bereits im Schwinden begriffene Einflusssphäre im zentralen Afrika schützen, Russland und China war das gleichgültig, die USA und Großbritannien scheuten eine Konfrontation mit Frankreich, obwohl sie dessen neokoloniale Marktabschottung eigentlich aufbrechen wollten, und unterstützten dessen Politik.

Eine solche Konstellation dürfte nicht wieder zustande kommen, doch an der Wirkung von Machtstrukturen in der Uno hat sich nichts geändert, wobei der Einfluss aufstrebender Diktaturen, vor allem Chinas, größer geworden ist. Die Ruanda-Politik des Sicherheitsrats zeigte allerdings, dass auch Demokratien verbrecherische Entscheidungen treffen können.

Die RPF trug mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Zurückhaltung erheblich zum Ende des Neokolonialismus bei.

Zwar hatte selbst die unvollkommene Aufarbeitung politische Konsequenzen, sie förderte unter anderem den Aufbau einer internationalen Strafjustiz. Doch lässt sich der Vorrang der »Realpolitik«, der Vertretung nationalstaatlicher Interessen, vor humanitären Erfordernissen nicht beseitigen. So nahm die »internationale Gemeinschaft« ihre responsibility to protect etwa bei der Zivilbevölkerung der sudanesischen Provinz Darfur weder 2003 bis 2005 wahr, als etwa 200.000 Menschen massakriert wurden, noch jetzt, wo nach einem Jahr des Bürgerkriegs mehr als acht Millionen Menschen humanitärer Hilfe bedürfen.

Bei aller gebotenen Kritik an der RPF, die Kriegsverbrechen begangen und ein – anfangs wohl unvermeidlicherweise – autoritäres Regime gefestigt hat: Sie beendete den Genozid nicht nur ohne Hilfe der »internationalen Gemeinschaft«, sondern gegen deren erklärten Willen und mit einem riskanten Vorgehen gegen die ­Intervention eines ständigen Mitglied des Sicherheitsrats. Zudem trug sie mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Zurückhaltung erheblich zum Ende des Neokolonialismus bei. Die unblutige show of force nahe Butare war notwendig, genügte aber, um Frankreich auszubremsen. Offensiv gegen die RPF vorzugehen, wagte man dann doch nicht.