Der Roman »Wir Propagandisten« von Gabriel Wolkenfeld erzählt von der Schwulenverfolgung in Russland

Am Vorabend des Propagandagesetzes

Gabriel Wolkenfelds Roman »Wir Propagandisten« erzählt über ganz alltägliche Homosexuelle und die schwule Subkultur in Russland – und von der Zeit, als 2013 das sogenannte »Homopropagandagesetz« verabschiedet wurde.

Nachdem das Oberste Gericht in Russland 2023 das Verbot der »internationalen LGBT-Bewegung« verhängt hatte, vergingen nur wenige Monate, bis sich mit der Künstlerin Inna Mosina die Erste vor Gericht als »Extremistin« verantworten musste. Ihr Vergehen: das Posten der Regenbogenflagge auf Instagram.

Seit das Propagandakonstrukt der »internationalen LGBT-Community« als extremis­tische Vereinigung eingestuft wird, drohen für das öffentliche Zeigen ihrer Symbole bis zu 15 Tage Haft und eine Geldstrafe von umgerechnet 20 Euro. Das Ziel ist die vollständige Verdrängung von Homosexualität aus der Öffentlichkeit. Jungen Homosexuellen wird so jede Möglichkeit entrissen, sich ein positives Bild von der eigenen Sexualität zu machen und andere Homosexuelle kennenzulernen. Es ist nicht zuletzt ein Instrument, um LGBT-Vereine zu zerschlagen und subkulturelle Orte zu schließen.

Wenngleich homosexuelle Handlungen in Russland auch nach dem Ende der Sowjetunion legal blieben, unterzeichnete Putin 2013 ein Gesetz, das jegliche positive öffentliche »Propaganda« über Homosexualität unter Strafe stellt.

Das Verbot reiht sich ein in eine Vielzahl staatlichen Repressionsmaßnahmen, die der Ausgrenzung und Verfolgung von Schwulen, Lesben und Trans-Menschen in Russland dienen und die seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukrai­ne weiter verschärft wurden. Wenngleich homosexuelle Handlungen in Russland auch nach dem Ende der Sowjetunion legal blieben, unterzeichnete Präsident Wladimir Putin im Juni 2013 ein Gesetz, das jegliche positive öffentliche »Propaganda« über Homosexualität unter Strafe stellt.

Wie so oft wird dies mit dem Schutz von Kindern begründet. Das Leben mit der konstanten Bedrohung, die dieses Gesetz für Schwule und Lesben in Russland bedeutet, hat der Berliner Autor Gabriel Wolkenfeld in seiner Erzählung »Wir Propagandisten« beschrieben. Der schwule Autor erzählt darin von seinem Leben als Dozent für Deutsch als Fremdsprache an der Universität von Jekaterinburg im Jahr 2013.

Die Menschen im Roman sind mit ihren Problemen und Wünschen ganz gewöhnlich

Dem literarischen Kitsch, den viele deutschsprachige Autoren in ihren Reiseerlebnissen aus Russland ausschütten, etwa in der Verklärung des einfachen, improvisierten Lebens, erteilt Wolkenfeld von Anfang an eine Absage. Kein Lob eines irgendwie »ursprünglichen Lebens« oder einer besonderen Bindung zum Land, gar zur Erde, keine Beschwörung einer besonderen russischen Mentalität. Der neue Mitbewohner auf Zeit des Protagonisten, Friedrich aus Österreich, empfängt ihn in der gemeinsamen Wohnung: »(Er) breitet gönnerhaft die Arme aus: Unser neues Zuhause. – Zuhause? Wenigstens bietet mir mein österreichischer Kollege nicht gleich eine Heimat an. Du suchst einen Ort, wo du deinen Koffer abstellen kannst und man drängt dir ein neues Zuhause auf.«

Die Menschen, die im Roman auftauchen, taugen kaum als komplexe Figuren, sie sind mit ihren Problemen und Wünschen ganz gewöhnlich, fast ein wenig langweilig. Sie haben ihre ersten Liebesbeziehungen, sind verknallt oder treffen sich für schnellen Sex, daneben plagen Lohnarbeit und Studium. Mitja, den man auch den Ministerpräsidenten nennt, weil er dem damaligen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedjew ähnlich sieht, ist unglücklich in den Erzähler verliebt, den er bereits zuvor im schwulen Online-Chat kennengelernt hat. Nach erfolglosen Versuchen, eine Liebesbeziehung anzubahnen, lernt er im Internet einen anderen Mann kennen, mit dem er nun in Deutschland ein neues Leben beginnen will.

Der Protagonist schlägt sich derweil mit den Erwartungen der Kollegen von der Uni an ihn herum, ihn, den Exoten, den Gast aus Deutschland. Immer wieder soll er erklären, warum er sich ausgerechnet Jekaterinburg für sein Auslandsjahr ausgesucht habe. Während die russischen Kolleginnen von ihm Vorträge über die Wiedervereinigung oder die »Judenfrage« erwarten, bemüht er sich, seiner etwas trägen und desinteressierten Klasse Deutsch beizubringen.

Dem literarischen Kitsch, den viele deutschsprachige Autoren in ihren Reiseerlebnissen aus Russland ausschütten, etwa in der Verklärung des einfachen, improvisierten Lebens, erteilt Wolkenfeld von Anfang an eine Absage.

Viele Anekdoten und Begegnungen zerstreuen sich wieder im Fortgang der Erzählung, und erst vor dem beschriebenen Alltäglichen im Leben junger Menschen zwischen Uni und WG-Party tritt das spezifisch Bedrohliche in Russland am Vorabend der Verabschiedung des homofeindlichen Propagandagesetzes hervor. Der junge Dozent ist zunächst darauf bedacht, sich bei manchen Kolleginnen an der Uni nicht zu outen, doch schon drängen diese ihn dazu, sich einem umfangreichen Gesundheitscheck zu unterziehen, denn dies sei schließlich die Bedingung für seinen Vertrag und seinen lächerlich geringen Lohn.

Zu der Angst, es könne tatsächlich eine Krankheit diagnostiziert werden, gesellen sich der Druck sozialer Konventionen und die Furcht vor der »Enttarnung« als schwuler Mann. Die Krankenschwestern und Ärztinnen begegnen ihrem Patienten mit einer Ambivalenz aus besorgtem Interesse und dem Verlangen nach Kontrolle über das Gegenüber. Immer intimer und aggressiver werden die Fragen, die Aufschluss über Risikofaktoren und Vorerkrankungen geben sollen.

»Gayropa« bedroht angeblich die traditionelle Geschlechterordnung

Von Wolkenfeld wird dies eindrücklich beschrieben: »Du bemühst dich, das Spiel mitzuspielen. Gleichzeitig – Du sitzt diesem grässlichen Wesen gegenüber, das dich zwingt, unaufrichtig zu sein – bist Du versucht aufzubegehren. Du möchtest herausposaunen, dass Du rauchst wie ein Schlot, säufst, was nur flüssig ist und einigermaßen hochprozentig und dass Du auf regelmäßig wechselnde Geschlechtspartnerinnen pfeifst, derweil du ihren hübschen Brüdern nachstellst. Stattdessen wechselst Du in den Traummodus über, der deine Emotionen glattbügelt und dir die Stacheln zieht, die zum Angriff reizen.«

Längst ist die Schwulenfeindlichkeit zur staatstragenden Ideologie in Russland geworden. »Gayropa« bedrohe die traditionelle Geschlechterordnung, indem es die hergebrachten Werte und die Moral von innen zersetze. In Folge degeneriere die Gemeinschaft und es gelinge nicht mehr, sich fortzupflanzen.

Der Schriftsteller Gabriel Wolkenfeld lebte ein Jahr in Russland

Der Schriftsteller Gabriel Wolkenfeld lebte ein Jahr in Russland

Bild:
Hassan Taheri

Im postsowjetischen Russland vermag die Erzählung von der bedrohten Männlichkeit Massen zu mobilisieren. Die russisch-orthodoxe Kirche nutzt die Homophobie für ihre Zwecke. Homohass als Kitt und LGBT als das negierte andere, durch dessen Ablehnung man nicht nur seine Virilität und seinen Patriotismus, sondern eben auch seinen Sinn für religiös definierte Werte und die Familie unter Beweis stellen kann – Wiederherstellung der eigenen Integrität durch zur Schau getragenen Abscheu.

Das Propagandagesetz ist in seiner Wirkung reine Antiutopie. Es erzwingt Hoffnungslosigkeit und soll jede Ahnung von einem würdevollen Leben als Homosexueller vergessen machen. Unter diesen Bedingungen ist es ganz gleich, ob das Outing im Privaten gelingt und einen Familie und Freunde nicht verstoßen; man wird doch weiterhin zum Leben im Verborgenen genötigt, ein Leben, das diesen Namen nicht verdient.

Drängte das Propagandagesetz die Homosexuellen weiter aus der Öffentlichkeit ins Private und in die Subkultur, wird nun mit dem Extremismusvorwurf Jagd auf Bars und Clubs gemacht, Betreibern drohen nun hohe Haftstrafen. Auf Dating-Plattformen im Internet organisieren Nazis sogenannte Safaris. Sie verabreden sich mit Ihren Opfern zum Kennenlernen oder für Sex, nur um sie dann vor laufenden Kameras zu demütigen und zu quälen. Gesetzgebung und Menschenjagd gehen Hand in Hand.

Die einen ziehen das Kulturrelativismusticket

In Wolkenfelds Roman gibt es die Schwulenclubs noch. Sie werden im russischen Sprachgebrauch camoufliert als »thematische Clubs« bezeichnet. Hier wird geknutscht, getanzt und geflirtet, Tunten treten auf und schmettern russische Popsongs über Liebe. Auf dem Nachhauseweg wird einer der Freunde überfallen und ausgeraubt.

Man kommt zu dem Entschluss, sich gegen die immer feindseligere Stimmung zur Wehr zu setzen, und ein Treffen in der WG-Küche wird anberaumt. Eine gemeinsame Position lässt sich nicht finden. Während die einen das Kulturrelativismusticket ziehen und zu bedenken geben, dass es offene Homosexualität in der nichtwestlichen Kultur Russlands nicht gebe und daher LGBT-Aktivismus die Menschen überfordere, wollen die anderen für ihre Rechte demonstrieren.

Doch so richtig daran glauben, dass sich die Situation durch den eigenen Aktivismus zum Besseren wende, will niemand. Daher hegen fast alle den Wunsch, so bald wie möglich Russland zu verlassen. Von den realen Vorbildern für die Figuren im Roman leben die wenigsten heute noch in Russland – sie sind geflohen vor den Repressalien und der drohenden Einberufung in die Armee, wie der Autor im lesenswerten Nachwort über die Situation der LGBT-Community in Russland verrät.

Das Propagandagesetz ist in seiner Wirkung reine Antiutopie. Es erzwingt Hoffnungslosigkeit und soll jede Ahnung von einem würdevollen Leben als Homosexueller vergessen machen.

Als Wolkenfelds Roman 2015 erstmals erschien, fand das Buch nur wenig Beachtung. Es scheint aus der Zeit gefallen, denn es ist witzig, plätschert manchmal angenehm dahin und fängt dann immer wieder Stimmungen und gesellschaftliche Situationen ein, die eigentlich das Zeug dazu haben, den Leser in die absolute Verzweiflung zu treiben. »Wir Propagandisten« setzt sich jedoch positiv von den vielen, oftmals belehrend daherkommenden queeren Betroffenheitsromanen ab. Auch wenn die Erzählung klar zeigt, dass ein Leben in Würde für Schwule und Lesben im gegenwärtigen Russland nicht möglich ist, erschöpft sie sich nicht in Klage und Hoffnungslosigkeit. Russland zu verlassen, ist im Freundeskreis das omnipräsente Ziel.

Alle formulieren es im Bewusstsein, dass ein besseres Leben nicht nur möglich ist, sondern im selben Moment stattfindet, nur eben ohne sie. Im sozialen Klima des gegenwärtigen Russland ecken sie alle an mit ihrem Wunsch nach spießiger, schwuler Zweisamkeit im Eigenheim oder dem Verlangen nach einem aufregenden Sexleben ohne Angst, dabei an den Falschen zu geraten oder erpresst zu werden. Ihre Wünsche transzendieren das, was sie unmittelbar erleben. Und darin liegt das Aufbegehrende des Romans, das einen nicht gänzlich an den Verhältnissen verrückt werden lässt.

Erinnerung an die Schwulen und Lesben wachhalten, die in Russland ausharren

Solange es noch junge Schwule und Lesben in Russland gibt, die wissen, dass das Leben mehr bereithält als das erbärmliche Los, das ihnen das Putin’sche System zuweist, solange besteht noch Hoffnung auf Veränderung. Der Entschluss, in den Westen zu fliehen, widerspricht dem nicht. Wenn auch die nachkommenden Jahrgänge Homosexueller von der Möglichkeit eines Lebens in Würde für sich wissen und dieses Wissen auch in ihnen den Drang nach dem besseren Leben entfacht, ist nichts verloren.

Am Ende des Romans reflektiert der mittlerweile nach Berlin zurückgekehrte Ich-Erzähler seine Reise und beschließt, ein Buch zu schreiben. Es wird ein Buch gegen das Vergessen jener Menschen und ihrer Träume, die das Propagandagesetz ins Dunkel drängen soll. Statt sich in selbstreferentieller Identitätspolitik oder Kulturrelativismus zu ergehen, hält Wolkenfeld die Erinnerung an die Schwulen und Lesben wach, die in Russland ausharren und den Anspruch auf ein selbstbestimmtes, gutes Leben nicht aufgegeben haben.

Gerade Ihnen müsste ein progressiver Westen viel mehr Gehör verschaffen, denn es gibt schließlich wenig Bedrückenderes als Homosexuelle, die bar jeder Hoffnung auf Veränderung sich in einer ihnen feindselig gesinnten Umgebung eingerichtet haben und so den einsamen, stillen Tod auf Raten sterben, inmitten von Menschen, die vorgeben zu wissen, was das Beste für solche wie sie sei.


Buchcover

Gabriel Wolkenfeld: Wir Propagandisten. Albino-Verlag, Berlin 2023, 304 Seiten, 24 Euro