Überstunden dienen leider selten einer Büroaffäre

Abends gehört Vati mir

Finanzminister Christian Lindner (FDP) will »Lust auf die Überstunde« machen. Das ist nicht nur unfreiwillig komisch, sondern auch ein grobes Missverständnis von Marktwirtschaft und Produktivität.
Kolumne »Schicht im Schacht« Von

Früher dachte ich, Überstunden seien nur eine männliche Chiffre für die Büroaffäre: Schatz, es wird spät, warte nicht auf mich – ich mache heute wieder »Überstunden«. Umso lustiger war es, als Finanzminister Christian Lindner (FDP) neulich »Lust auf die Überstunde« machen wollte. Die hätten nämlich in den vergangenen 20 Jahren stark abgenommen. Was wie eine unanständige Aufforderung klingt, ist ein grobes Missverständnis von Marktwirtschaft und Produktivität.

Es geht nämlich um Arbeitszeit. Die findet Herr Lindner zu kurz. Damit bläst er ins gleiche Horn wie seit Jahren auch schon Rainer Dulger, der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände. Die haben nämlich eine einfache Idee: Um die Folgen des demographischen Wandels zu kompensieren und weil es zu wenige Fachkräfte im Land gibt, sollen alle mehr und länger arbeiten. Netterweise will die FDP die Arbeitgeber die Mehrarbeit auch bezahlen lassen.

Die Unternehmen sparen viel Geld, indem sie bezahlte Mehrarbeit stärker reduziert haben als un­bezahlte.

Lindner fordert Steueranreize für Überstunden, die natürlich Gutverdienenden proportional stärker zugutekommen. Für Geringverdiener:innen wäre die zusätzliche Plackerei also weniger attraktiv. Und wenn Hauptverdiener, statistisch gesehen meistens Männer, durch neue Überstundenregelungen mehr Zeit mit Lohnarbeit ­verbringen, dann führt das eigentlich zwangsläufig auch wieder zu einer Mehrbelastung von Frauen, insbesondere von Müttern. Erwerbs- und Care-Arbeit würde dann nämlich noch ungleicher verteilt als ohnehin schon.

Die meisten Überstunden am Arbeitsplatz werden momentan aber ohnehin nicht bezahlt und dementsprechend auch nicht besteuert. Im vergangenen Jahr machten Beschäftigte in Deutschland im Schnitt 18,4 unbezahlte Überstunden, 2016 waren es sogar 24.

Bemerkenswert ist, dass die bezahlten Überstunden in den vergangenen ­Jahren abgenommen haben, von durchschnittlich 23,3 Stunden im Jahr 2016 (das waren 49,9 % aller geleisteten Überstunden) auf 13,2 Stunden (41,6 %) im Jahr 2023. Die Unternehmen sparen viel Geld, indem sie bezahlte Mehrarbeit stärker reduziert haben als un­bezahlte. War Lindners Ode an die Überstunde also eine Zahlungsaufforderung an die Arbeitgeber, ein Appell, den fiesen Lohnraub zu beenden? Wohl eher nicht. Und dass weniger Wochenarbeitszeit sogar zu mehr Produktivität führen kann, weil die Leute motivierter und ausgeruhter zu Arbeit kommen, hat der Linder wohl auch noch nicht gehört.