Geflüchtete in Paris

Protest der Papierlosen

Reportage Von Astrid Schäfers

In Paris haben hunderte Geflüchtete das Panthéon besetzt. Viele von ihnen leben auf der Straße, während tausende Wohnungen leer stehen.

Eine trostlose Gegend an einem Verkehrsknotenpunkt. Am Ende der Metrolinie 12 erwarten einen Elend und Armut. In der ­Metrostation Marx Dormoy schläft ein obdachloser schwarzer Mann am späten Mittag mitten auf dem Boden. Eine Station weiter an der Porte de la Chapelle kreuzen sich Avenuen, Straßenbahnlinien, Autobahnen und die Leben der Verlorenen. Derer, die keine Papiere haben oder welche haben und trotzdem hier in Zelten leben, auf winzigen Grünflächen zwischen Brücken und Autobahnauffahrten. Viele von ihnen sind aus Afrika und arabischen Ländern nach Frankreich gekommen.

»Ich kann hier keine Finger­abdrücke hinterlassen, denn ich will nach England.«

Der NGO Utopia 56 zufolge leben zwischen der Porte de la Chapelle und der Porte d’Aubervilliers circa 1.400 ­alleinstehende Männer, über 400 Minderjährige und circa 150 Familien, ­darunter schwangere Frauen, auf der Straße. Läuft man die Avenue de la Porte de la Chapelle entlang und unter einer Autobahn hindurch, sieht man Geflüchtete, die auf der Straße leben und neben wartenden Autos betteln. Weiter hinten auf einem kleinen begrünten Hang stehen Zelte. Hier beginnt das Camp Wilson; mehrmals wurde es bereits geräumt, doch immer wieder neu aufgebaut.

Souhila vom Kollektiv Solidarité Migrants Wilson erzählt, dass sie zwei Mal pro Woche Essen verteile, einmal an der Avenue du Président Wilson und einmal an der Porte d’Aubervilliers, wo es ein weiteres Camp von Geflüchteten gibt: »Wir helfen auch den Geflüchteten, die Asyl beantragt haben, zum Beispiel beim Ausfüllen von ­Papieren. Und wir bieten Französischunterricht im Camp an.« Aber nicht nur Menschen ohne Papiere, sogenannte sans papiers, leben hier. »Es gibt hier ­sogar einen, der eine Aufenthaltsgenehmigung für zehn Jahre hat«, sagt Souhila, »aber er schläft trotzdem hier, weil er keine Wohnung hat. Und eine Arbeit findet er auch nicht.«

Auf der Straße

An einer Bushaltestelle am endlos langen Boulevard Ney sitzen mehrere Geflüchtete. Aber sie warten nicht auf den Bus. Die hinter dem Glas angebrachten Sitze bieten ihnen die einzige Sitzmöglichkeit. In der Nähe steht ein großes, graues Gebäude, vor dem sich viele Geflüchtete morgens einfinden, um Kaffee und etwas zu essen zu ­bekommen. Mitarbeiterinnen und Freiwillige von Utopia 56 geben hier jeden Morgen Frühstück aus, häufig die einzige Mahlzeit des Tages für die Geflüchteten.

Schläge statt Papiere. Die Polizei ging äußerst brutal gegen die Protestierenden vor.

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Reuters / Charles Platiau

Mohammed, ein 23jähriger ­Afghane, erzählt auf Deutsch vom Leben im Camp Wilson. »Es gibt dort jede Nacht Schlägereien. Es ist furchtbar«, seufzt er. Vor acht Monaten sei er mit zwei afghanischen Freunden aus Deutschland geflohen. Ihnen habe die Abschiebung gedroht. Mohamed spricht sehr schnell und gestikuliert, seine Stimme klingt verzweifelt und gleichzeitig wütend: »Und die Leute hier sind so rassistisch.« Es gebe kein Geld, keine Wohnung, da müsse er klauen, für Zigaretten oder Klamotten. »Ich bin Muslim, ich will nicht klauen, aber was soll man sonst machen, um zu überleben?« fragt er empört.

Dalia von Utopia 56, die fließend Deutsch spricht, hört ihm geduldig zu. Sie lächelt und sagt: »Jeden Tag stellen uns die Leute, die hier angekommen sind, 1.000 Fragen. Während des Asylverfahrens stehen ihnen monatlich Geld, eine Wohnung und die Krankenversicherung zu. Und jeden Tag erzählen mir Leute, dass sie keine Wohnung bekommen haben. Zum Beispiel, weil sie zwei Minuten zu spät zum Termin gekommen sind. Oder sie haben ein Wohnheimzimmer und verlieren es, weil sie eine Nacht nicht dort geschlafen haben. Und dann bekommen sie auch das monatliche Geld nicht mehr und verlieren die Krankenversicherung.«

»Demokratie für weiße Reiche«

Die monatliche finanzielle Hilfe für Asylsuchende in Frankreich ist die sogenannte Allocation de demandeurs d’asile (ADA). Das Argument der für die Vergabe von Zimmern und Wohnungen zuständigen Office Française de l’Immigration et Intégration (OFII) für die völlig unzureichende Wohnraumversorgung laute, es gebe nicht genug Plätze, so Dalia. Dabei stehen einem Sachverständigen der Stadt zufolge 215.000 Wohnungen in Paris leer, davon 100 000 das ganze Jahr über, beim Rest handelt es sich um Zweitwohnungen. »Und hier leben jetzt fast 2.000 Menschen auf der Straße, für die ­eigentlich die OFII zuständig ist«, fährt Dalia fort. »Wir leben hier in einer ­Demokratie für weiße Reiche, aber nicht für Asylsuchende und Geflüchtete. Der Staat lässt die Menschen hier verrotten, ohne ihnen ihre Rechte zu ­gewähren. Die Zustände in den Camps sind schlimm. Viele sind von Crack ­abhängig.«

Flucht vor der Polizei. Manche Protestierende klettern über den Zaun vor dem Pantheon.

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dpa / AP / Kamil Zihnioglu

Neben Mohammed steht sein Freund Sohrab*, ein zurückhaltend wirkender Afghane. Er trägt ein rotkariertes Hemd. »Ich habe den Hauptschulabschluss in Nürnberg gemacht, den Quali und hatte einen Ausbildungsplatz. Trotzdem drohte mir die Abschiebung«, erzählt er. Tatsächlich werden trotz der fortbestehenden gefährlichen Lage abgelehnte afghanische Asylsuchende weiterhin von Deutschland nach Afghanistan abgeschoben – und das betrifft nicht nur Afghanen, die Straftaten begangen haben, wie auch Sohrab betont.

Vor dem Gebäude trifft ein Krankenwagen einer Hilfsorganisation ein. Mehrere Geflüchtete sprechen mit ­einem Mann in einem weißen Kittel. Ob es sich um einen Arzt oder einen Krankenpfleger handelt, ist unklar. »Er untersucht uns nicht«, sagt ein ­Geflüchteter. Auf einer Bank vor dem Gebäude, sitzt Ishag, ein hagerer und erschöpft wirkender Sudanese. Er kann sich nur mit Wenigen hier unterhalten, da er kein Französisch und kaum Englisch spricht. Auf eine Ansprache auf Arabisch reagiert er sehr freundlich.

Eine Unterkunft ist Glückssache

Seine Flucht aus dem Sudan habe mehrere Monate gedauert, berichtet er. Nun sei bereits ein Jahr vergangen, seit er das Land verlassen habe. »Ich kann hier keine Fingerabdrücke hinterlassen«, sagt Ishag bestimmt und meint damit die Registrierung bei Behörden, »denn ich will nach England.« Sein Blick schweift auf die andere Seite der Straße, wo sich hinter einem Gitter ein Sportplatz befindet. Bisher hat Ishag nirgendwo seine Fingerabdrücke ab­gegeben, es gibt keine behördliche Spur von ihm. Zur derzeitigen Situation im Sudan befragt, sagt er: »Im Sudan kann es passieren, dass man umgebracht wird, nur weil man aus Darfur kommt.«

An der Porte de la Chapelle in Paris treffen sich Papierlose und Asylsuchende.

Bild:
Astrid Schäfers

Im Sudan begannen im Dezember 2018 Proteste gegen den inzwischen abgesetzten Präsidenten Omar al-Bashir. Das Regime machte unter anderem eine angebliche Terrorzelle aus Darfur für die Unruhen verantwortlich. Die Proteste schlug es gewalttätig nieder, Hunderte Menschen kamen bislang ums Leben. Dennoch schiebt Frankreich ­abgelehnte Asylsuchende in den Sudan ab. Nach Informationen der französischen Website infomigrants.net wurden dieses Jahr bereits fünf Sudanesen abgeschoben, 2018 waren es zwölf.

Mehrere sehr jung aussehende Männer setzen sich dazu und hören zu. ­Einer von ihnen stellt Osman Camara vor, einen jungen Mann aus Guinea. Er ist einer derjenigen Geflüchteten, die in Frankreich Asyl beantragt haben und trotzdem weder ein Zimmer noch Geld noch Essen von den französischen Behörden bekommen haben. Camara erzählt von seiner Flucht von ­Conakry nach Paris: »Ich bin gelaufen und dann mit dem Schiff nach Italien gekommen, nach Ventimiglia. Dann bin ich nach Frankreich eingereist und habe von Marseille aus einen Zug nach Paris genommen. Am Gare de Lyon habe ich jemanden gefragt, wo hier viele Schwarze sind. Mir wurde gesagt: an der Porte de la Chapelle.« Er lächelt: »Hier habe ich geschlafen und eines ­Tages haben sie uns Zelte gebracht, Franzosen und Deutsche, Freiwillige. Einen ­Monat später habe ich Asyl beantragt. In der Polizeipräfektur machen sie dann Fotos von dir und nehmen Fingerabdrücke. Wenn du sie dann fragst, ob du ein Zimmer bekommst, gucken sie nach, ob es Zimmer gibt. Wenn sie eins frei haben, hast du Glück.«

Arbeiten ohne Papiere

In einem ruhigen Wohnviertel im 11. Arrondissement wartet Aziza Achour im Hinterhof eines kleinen Hauses an der Tür. Sie ist langjährige Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation Droits devant, in der sich Menschen in Wohnungsnot und sans papiers im Kampf um ihre Rechte zusammengeschlossen haben. Auf dem Tisch liegen ein Stapel Akten und Papiere mit Stempeln drauf. Ihr gegenüber sitzt ein Senegalese, der am Vortag auf dem Weg zur Arbeit festgenommen wurde. Er hat die Nacht in der Zelle verbracht, wirkt müde und beunruhigt. Ständig klingelt Achours Telefon, häufig sind es Menschen, die festgenommen wurden. Doch sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, gibt geduldig Auskunft und verspricht, Faxe an die Polizei zu schicken.

Improvisierter Imbisswagen.

Bild:
Astrid Schäfers

Der Senegalese stellt Achour noch eine Frage und geht. »Er wurde gestern Morgen um 7.30 Uhr bei einer großen Polizeikontrolle an einer Metrostation festgenommen, auf dem Weg zur Arbeit«, erzählt sie. »Die Polizei und die Staatsanwaltschaft wissen ganz genau, dass um sieben Uhr nur sans papiers an der Metrostation warten; sie sind die ersten, die zur Arbeit gehen. Dieser Senegalese arbeitet in einem Restaurant. Er hat keine Aufenthaltsgenehmigung, aber er arbeitet und sein Arbeitgeber hat ihn offiziell als Arbeitsnehmer gemeldet.« Der Mann erfülle die Bedingungen für eine Legalisierung, so Achour: »Das heißt, er ist seit drei Jahren in Frankreich, arbeitet Vollzeit, verfügt über 24 Gehaltsbescheinigungen und einen unbefristeten Vertrag.« Als der Senegalese Achour anrief, schickte sie ein Fax mit seinem Arbeitsvertrag an die Polizei und die Staatsanwaltschaft. Daraufhin entschied der Richter, ihn freizulassen.

Vor einigen Jahren erließ die französische Regierung noch ministerielle Rundschreiben, sogenannte circulaires, die die Legalisierung von Personen ­ermöglichen, die bestimmte Bedingungen erfüllen. Das jüngste ministerielle Rundschreiben wurde 2012 vom damaligen Innenminister Manuel Valls erlassen. Es zielt darauf ab, Schwarz­arbeit einzudämmen: Menschen, die arbeiten, aber keine Aufenthaltsgenehmigung haben, können eine bekommen, sofern sie bestimmte, sehr hohe Anforderungen erfüllen.

Arbeitskräfte für miese Jobs 

»Die Arbeitgeber brauchen die sans papiers, denn es gibt zu wenige Arbeitskräfte im Reinigungssektor, auf dem Bau, in der Gastronomie sowie in der Alten- und Krankenpflege. Die Fran­zosen wollen diese harte und schlecht bezahlte Arbeit nicht machen«, sagt Achour. Sie berichtet von einem Bauarbeiter, der selbst bei 40 Grad Celsius im Schatten auf einem Dach arbeiten musste. Er habe sich dem Arbeitgeber beugen müssen, da er keine Papiere gehabt habe.

Das Arbeitsministerium ist eher liberal eingestellt und bereit, Arbeits­genehmigungen zu erteilen. Die dem Innenministerium unterstellte Polizeipräfektur ist aber für die Erteilung jeglicher Aufenthaltstitel zuständig und verweigert diese meist. »Deswegen wollen wir mit dem Innenminister nicht mehr verhandeln, denn da kommen wir nicht weiter«, sagt Achour.

Als sie 2002 aus Algerien nach Paris gekommen sei, habe sie auch keine Papiere gehabt. »Als ich 2004 in das Büro von Droits devant gekommen bin, habe ich hier andere Kabylen kennengelernt und mich mit ihnen an­gefreundet. Hier habe ich mich wohl gefühlt und bin jeden Tag hierhin gekommen, auch wenn es nichts zu tun gab. Es war einer der wenigen Orte, an denen ich mich sicher gefühlt habe, da ich ja keine Papiere hatte. Auf der Straße hatte ich ständig Angst, verhaftet zu werden«, so Achour. Sie versuchte, ­herauszufinden, wie sie ihre Situation legalisieren könnte. Zunächst wusste sie nicht, welche Bedingungen sie dafür erfüllen musste. Mit einem Rechts­anwalt gelang es ihr schließlich 2007, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Später wurde sie feste Mitarbeiterin bei Droits devant und ist seitdem für Notfälle zuständig, die sie rund um die Uhr mit dem Nottelefon betreut.

Das Pantheon wird besetzt

Neben der Beratung betreibt Droits devant auch Kampagnen und nimmt mit anderen NGOs und Kollektiven an politischen Aktionen teil. »Wenn wir eine Aktion machen, zum Beispiel ein Gebäude besetzen, dann bekommen wir etwas von der Regierung«, sagt Achour: »Aber unter Macron ist das anders, er spricht nicht mit uns, er reagiert mit Repression. Noch nie haben wir so eine Brutalität der Polizei erlebt wie nach der Besetzung des Pantheons. Es gab 40 Verletzte und wir werden deswegen Klage einreichen.«

Am 12. Juli besetzten Hunderte sans papiers von Droits devant sowie andere Gruppen, darunter das Kollektiv La Chapelle Debout der sogenannten gilets noirs (»Schwarzwesten«), gemeinsam das Pariser Pantheon, eines der wichtigsten Monumente in Paris. Sie forderten die Legalisierung aller sans papiers, Unterkünfte für alle und einen Dialog mit Premierminister Edouard Phillipe.

»Wir sind gekommen, um euch zu sagen, dass die Devise Frankreichs Erniedrigung, Ausbeutung und Abschiebung von Ausländern ist. Jenes Frankreich, das dort gegen uns Krieg führt, unsere Rohstoffe plündert und gemeinsam für und mit unseren korrupten Staaten Entscheidungen trifft. Jenes Frankreich, das hier gegen uns Krieg führt«, stand in einer Broschüre, die während der Besetzung im Pantheon kursierte. Als die Demonstrierenden nach Aufforderung der Polizei freiwillig das Pantheon durch den Hintereingang verließen, waren sie durch Absperrgitter und die Polizei eingekesselt.

Dem Kollektiv La Chapelle Debout zufolge ging die Polizei äußerst brutal vor, 40 Personen wurden demnach verletzt, einige davon schwer. Einer von La Chapelle Debout auf Facebook veröffentlichten Erklärung und Berichten mehrerer Onlinemedien wie Basta der Association Alter-médias zufolge soll es zu Beinbrüchen und einer schweren Fingerverletzung gekommen sein; eine Person soll mehrere Stunden lang im Koma gelegen haben.

Nicht die erste Besetzung 

37 Personen wurden festgenommen und 19 von ihnen in Abschiebehaft gebracht. Die Kollektive und NGOs konnten durch die internationale Medienöffentlichkeit ­jedoch Druck aufbauen, so dass alle wieder freigelassen wurden, die in Abschiebehaft befindlichen Personen ­allerdings erst am 15. und 16. Juli.

Die Bewegung der gilets noirs entstand im November 2018: Sans papiers aus 17 verschiedenen Ländern, Asylsuchende, Wohnungslose sowie mehrere linke Gewerkschaften und Gruppen, darunter das Kollektiv Anti-CRA (Centre de Retention Administrative), das sich gegen Abschiebehaft engagiert, schlossen sich im Kampf gegen Rassismus und Polizeigewalt zusammen. Die Bewegung vereine vor allem sans papiers aus etwa zehn Arbeiterunterkünften im Ballungsraum von Paris, sagte der Pressesprecher von Droits devant, Jean-Claude Amara, der Pariser Tageszeitung Le Parisien nach der Besetzung. Ein Mitglied der Bewegung sagte dem Magazin Les Inrockuptibles, die gilets noirs seien keine Bewegung von sans papiers, sondern eine soziale Bewegung all derer, die gegen Rassismus und überzeugt seien, dass es keine ­illegalen Menschen gebe.

Im Mai besetzte die Bewegung das Terminal 2F des Flughafens Charles de Gaulle in Roissy, um auf die Koopera­tion der Fluggesellschaft Air France mit den Behörden bei Abschiebungen aufmerksam zu machen, und verlangte einen sofortigen Abschiebungsstopp. Im Juni okkupierten die gilets noirs die Cateringfirma Elior, die viele sans ­papiers zu prekären Bedingungen beschäftigt. Für Elior sollen bereits Beschäftigte ohne Papiere gearbeitet haben, ohne bezahlt zu werden. Bei ­dieser Besetzung ging es darum, die Ausbeutung der sans papiers zu denunzieren.

* Name von der Redaktion geändert