Die postkoloniale Bezugnahme auf die Menschenrechte ist willkürlich

Flexibel einsetzbar

Postkolonialisten werfen Israel derzeit Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Streifen vor. Dabei sind die Postcolonial Studies ansonsten vor allem für ihren kritischen bis ablehnenden Blick auf Menschenrechte und deren Universalitätsanspruch bekannt.

Eine der vielen Demonstrationen gegen Israel, die in Berlin seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und dem Beginn des darauffolgenden Kriegs im Gaza-Streifen stattfand, war jene unter dem Titel »Decolonize human rights«. Als Organisatoren der Veranstaltung präsentierten sich auf Instagram die Betreiber der neugegründeten Website »Global South United«, hinter der allerdings ein Bündnis aus keineswegs neugegründeten, sondern vielmehr altbekannten notorisch antiisraelischen Gruppen »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost« und »Palästina spricht« sowie das antiimperialistische Bündnis Alliance of Internationalist Feminists steht.

Wiederholt konnten unter Titeln wie »Free Palestine«, »Palestine will not be canceled« oder »Gegen Repression« mehrere Hundert, manchmal Tausende Menschen auf den Straßen Berlins versammelt werden. Man kann sich also fragen, wozu es für eine weitere Demonstration gegen Israel ein aus altbekannten Aktiven bestehendes neues Bündnis benötigt, das ein dezidiert postkoloniales Programm verfolgt.

Zur Demonstration des »vereinten Globalen Südens« am 11. November kamen 6.000 Menschen und zogen mit Palästina-Flaggen und in Kufiyas gehüllt durch Kreuzberg. In Sprechchören forderten die Teilnehmer einen Waffenstillstand, ein Ende der israelischen Besatzung, der Apartheid, des Genozids, ein freies Palästina und bezeichneten »Deutschlands Schweigen« als »Kriegsverbrechen«.

Bei aller inhaltlichen Wirrnis des Aufrufs lässt sich die Aufforderung, die Menschenrechte gleichermaßen auf alle, ungeachtet ihrer Herkunft und Hautfarbe, anzuwenden, als Widerspruch zur herkömmlichen Menschenrechtskritik der Postcolonial Studies verstehen.

Schon der Demonstrationsaufruf passte sich optisch in die vorangegangenen antiisraelischen Proteste ein: schwarz-rot-grüne Schrift vor dem Hintergrund eines Kufiya-Musters. Inhaltlich hingegen versuchten die Verfasser einen großen Bogen zu spannen, der weit über die Situation im Gaza-Streifen hinausreicht: Die Demo richte sich gegen »Europa« und ganz allgemein gegen dessen »Rolle bei der Schürung von Konflikten«, »der Aufrechterhaltung von globaler Ungerechtigkeit«, »der Förderung des Waffenhandels« und gegen das »Diktat der EU-Politik«, »die Beeinflussung des Lebensstandards«, die »Aufrechterhaltung der weißen Vorherrschaft« sowie »des kolonialen Erbes«.

Vorangestellt wird ein Exkurs zu Flucht, Tod und Diskriminierung, Verletzung der Menschenrechte an der militarisierten EU-Außengrenze und in europäischen Flüchtlingslagern, der weder Verbrechen der libyschen Küstenwache noch die verdursteten Flüchtlinge benennt, die die tunesische Regierung in der Sahara ausgesetzt hat. Darauf folgt der Vorwurf, dass Israel einen Genozid begehe, an dem sich Deutschland und die USA beteiligten. Somit ist der Westen klar als Feindbild aufgebaut. »Tausende von Kindern im Gaza-Streifen wurden mit Hilfe der USA und der EU gezielt angegriffen und getötet.« Solidarität werde in Deutschland durch die »Linse des Weißseins und nur des Weißseins« gesehen.

Bei aller inhaltlichen Wirrnis des Aufrufs lässt sich die Aufforderung, die Menschenrechte gleichermaßen auf alle, ungeachtet ihrer Herkunft und Hautfarbe, anzuwenden, als Widerspruch zur herkömmlichen Menschenrechtskritik der Postcolonial Studies verstehen. In der Regel wird die Idee der Menschenrechte, und insbesondere der mit diesen verbundene Universalitätsanspruch, aus dieser Fachrichtung wahlweise als Eurozentrismus, westlicher Kulturimperialismus oder Werkzeug des Neokolonialismus kritisiert.

So schrieben 2020 die Fachgrößen des Postkolonialismus in Deutschland, Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, in ihrem Artikel »Die Universalität der Menschenrechte überdenken« in der Zeitschrift der Bundeszen­trale für politische Bildung: »Die Menschenrechte sind eine äußerst wirkmächtige politische Norm unserer Zeit. Ihre Verletzung durch einen Staat oder eine Institution führt zur Delegitimation des- oder derselben, während politische Praktiken im Sinne der Menschenrechte als Marker für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft liberaler, demokratischer Staaten gelesen werden.«

Die Menschenrechte erscheinen hier – ganz unabhängig von ihren Inhalten – in erster Linie als Machtinstrument, das eingesetzt werden kann, um Staaten zu delegitimieren. Im Sinne der Menschenrechte zu handeln, so Varela und Dhawan, erfülle vor allem die Funktion, Staaten ins Recht zu setzen. Eine Argumentation, deren Modell auch der gegen Israel gerichtete Vorwurf des »Pinkwashing« folgt.

Die postkoloniale Kritik, die Menschenrechte seien ein wohlfeiles Argument, Staaten zu delegitimieren, scheinen die Feinde Israels als Anleitung verstanden zu haben.

Besonders leicht, meinen die Autorinnen, lasse sich die Instrumentalisierung der Menschenrechte anhand der Frauenrechte aufzeigen: »Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau von 1979 bestimmt westliche Rechte per se als modern und emanzipatorisch, während die Quelle der Unterdrückung von Frauen in ehemals kolonisierten Ländern vor allem in den angeblich »traditionellen« kulturellen Praktiken gesucht wird«, kritisieren sie. »So tritt erneut die Moderne als Befreierin auf – dieses Mal der unterdrückten Frauen des Globalen Südens.« Auf diese Weise werde die »Gewalt gegen Frauen in diesem Diskurs fetischisiert«.

Wie hier die Idee der Menschenrechte als mächtiges »Narrativ« verstanden wird, das dazu diene, die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten, zeigt die verschwörungstheoretische Schlagseite, die vermeintlich machtkritische Diskursanalysen nicht selten annehmen. Der Postkolonialismus will nämlich um keinen Preis über konkrete Inhalte der Menschenrechte und ihre Verletzung durch Regime oder Gruppen des »Globalen Südens«, also jenes vermeintlichen Kollektivs sprechen müssen, das im Postkolonialismus lediglich als Opfer erscheint und im nächsten Schritt als die Speerspitze des Widerstands gegen globale Ungerechtigkeit verstanden werden soll. Ist die Idee der Menschenrechte ein neokoloniales Eroberungs- und Unterdrückungswerkzeug des Westens, so muss über die tatsächliche Unterdrückung der Frauen im Iran oder die Hinrichtung von Homosexuellen im Gaza-Streifen nicht mehr geredet werden. Stattdessen lassen sich die EU, die USA und allen voran Israel faktenwidrig als die größten Übeltäter gegen die Menschenrechte darstellen, wie es beispielsweise der UN-Menschenrechtsrats tut.

In Hinblick auf die Demonstration des Bündnisses Global South United könnte man es so sehen: Die Kritik Castro Varelas und Dhawans, die Menschenrechte seien ein wohlfeiles Argument, Staaten zu delegitimieren, scheinen die Feinde Israels als Anleitung verstanden zu haben. Mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder dem UNRWA, dem UN-Flüchtlingshilfswerk exklusiv für Palästinenser, werfen sie Israel Apartheid und einen Genozid an den Palästinensern vor. So können sie auf eine weithin anschlussfähige Weise Israels Recht auf Selbstverteidigung in Frage stellen und einzig Israel und seine Existenz sowohl für das alltägliche Elend im Gaza-Streifen als auch für alle Toten im Krieg gegen die Hamas verantwortlich machen, während diese sich hinter Zivilisten versteckt und die eigene Bevölkerung an der Flucht hindert.