Der Vorwurf des Genozids gegen Israel

Projektive Umkehrung

Der Genozidvorwurf gegen Israel diente schon deutschen Linksradikalen in den Sechzigern zur Schuldabwehr. Dieser Tage geht damit die Annahme einher, Israel führe die Öffentlichkeit hinters Licht, wenn es als militärisches Ziel die Vernichtung der Hamas und die Befreiung der Geiseln benennt.
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Eine Stellungnahme zum Krieg zwischen Israel und der Hamas kommt selten allein. Auch nach der Erklärung von Jürgen Habermas und Kolleg:innen vom Forschungszentrum für Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt ließ die entsprechende Reaktion nicht lange auf sich warten. Insbesondere eine Formulierung rief international Kritik hervor: Es sei legitim, über die Verhältnismäßigkeit des israelischen Militäreinsatzes zu diskutieren, allerdings »verrutschten die Maßstäbe vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden«.

Eine Gruppe Wissenschaftler:innen um den britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sah sich durch diesen Satz veranlasst, einen offenen Brief zu verfassen, der im Guardian erschien. Die Habermas-Stellungnahme ziele darauf ab, »den Raum für Debatte und Reflexion zu verkleinern« und eine legitime Diskussion über Israels Militäreinsatz in Gaza zu unterbinden, so die Kritiker:innen.

Tooze und seine Mitstreiter:innen gehen nicht darauf ein, dass der Genozidvorwurf gegen Israel eine lange Geschichte hat. Auch in Deutschland ist die Anschuldigung immer wieder vorgebracht worden, um den jüdischen Staat mit dem nationalsozialistischen Regime gleichzusetzen. Als Mitglieder der linksradikale Gruppe Tupamaros West-Berlin am 9. November 1969 einen Anschlag auf ein vollbesetztes jüdisches Gemeindehaus in Berlin verüben wollten – der glücklicherweise aufgrund eines defekten Zünders scheiterte –, hieß es in dem Bekennerschreiben, die »Juden« seien »selbst Faschisten geworden«, die »das palästinensische Volk ausradieren wollen«.

Wer dem jüdischen Staat nach dem 7. Oktober 2023 einen Völkermord vorwirft, aber gleichzeitig den genozidalen Terror der Hamas unterstützt oder verharmlost, reiht sich in diese Tradition des modernen Antisemitismus ein.

Der Vorwurf, Israel verübe einen Völkermord, diente als Legitimation eines potentiell tödlichen Anschlags auf Juden in Deutschland – eine projektive Umkehrung, die zum Grundbestand des modernen Antisemitismus gehört und deutlich älter ist als das moderne Israel. Wer dem jüdischen Staat nach dem 7. Oktober 2023 einen Völkermord vorwirft, aber gleichzeitig den genozidalen Terror der Hamas unterstützt oder verharmlost, reiht sich in diese Tradition ein.

Anders gelagert ist die Position eines renommierten israelischen Holocaustforschers wie Omer Bartov, der in der New York Times davor gewarnt hatte, Israels Vorgehen im Gaza-Streifen bewege sich möglicherweise in die Richtung eines Genozids. Aber auch seine Argumentation weist gravierende Verkürzungen auf. Er zitiert eine Reihe martialischer Aussagen rechtsextremer israelischer Politiker, die unmittelbar nach dem Angriff der Hamas getätigt wurden und mahnt: »Bei der Rechtfertigung des Angriffs haben israelische Führer und Generäle erschreckende Äußerungen gemacht, die auf eine völkermörderische Absicht hindeuten.«

Auch der israelische Menschenrechtsanwalt und Aktivist Eitay Mack kritisierte in einem Beitrag für Haaretz entsprechende Aussagen israelischer Rechter zu Recht als »gefährlich«, nahm allerdings eine wichtige Einschränkung vor: Die Zitate spiegelten nicht die Position des israelischen Kriegskabinetts wider, das den Einsatz im Gaza-Streifen verantwortet. Mack trifft damit einen entscheidenden Punkt. Die Kriegsziele Israels sind die Befreiung der Geiseln und die Zerstörung der Hamas – explizit nicht die Bestrafung der Zivilbevölkerung.

Sowohl die Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung als auch Fragen nach der Verhältnismäßigkeit israelischer Militärschläge oder der langfristigen Kriegsstrategie können diskutiert werden, ohne den jüdischen Staat zu dämonisieren.

Der Genozidvorwurf gegen Israel impliziert, dass die Vertreter der israelischen Regierung lügen, wenn sie die offiziellen Kriegsziele mitteilen. Die Ankündigung, Geiseln zu befreien und den Beschuss israelischer Wohngebiete zu verhindern, erscheint dann als Vorwand, um möglichst viele palästinensische Zivilist:innen zu töten. Die umfassenden Anstrengungen des israelischen Militärs, zivile Opfer zu vermeiden, müssen dagegen als Täuschungsmanöver verstanden werden, mit denen die Öffentlichkeit von den eigentlichen Absichten abgelenkt werden soll.

Es steht außer Frage, dass die humanitäre Lage in Gaza auch nach der zwischenzeitigen Waffenruhe katastrophal bleibt. Sowohl die Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung als auch Fragen nach der Verhältnismäßigkeit israelischer Militärschläge oder der langfristigen Kriegsstrategie können jedoch diskutiert werden, ohne den jüdischen Staat zu dämonisieren.

Grundlage solcher Diskussionen muss die Einsicht sein, dass Israel es mit einem Gegner zu tun hat, der zivile Opfer auf eigener Seite nicht nur hinnimmt, sondern als Teil der eigenen Kriegsstrategie einkalkuliert. Die Hamas will keinen dauerhaften Frieden, weder für die israelische Bevölkerung noch für die Menschen im Gaza-Streifen.