Rodrigo Sorogoyens neuer Film »Wie wilde Tiere« beruht auf einem authentischen Fall

Wer das Windrad stört

Rodrigo Sorogoyens Thriller »Wie wilde Tiere« zeigt, wie der Traum zweier Städter vom Landleben zum Alptraum wird.

Die »Rapa das Bestas« ist eine bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Tradition im galicischen Bergland im Nordwesten Spaniens. Junge Männer aus den Dörfern haben dabei die Aufgabe, wilde Pferde zu ­fangen, sie niederzuringen und zu scheren. Das Ritual, mit dem Rodrigo Sorogoyens neuer Film »Wie wilde Tiere« in eindrucksvollen Bildern anhebt, nimmt die Motive von Wildheit, Freiheit und Kampf vorweg. Die Frage, was den Menschen von der Bestie unterscheidet, treibt nach dieser Exposition den ruhigen, aber mächtigen Lauf der Filmerzählungen Szene um Szene bis zur dramatischen Zuspitzung.

Antoine (Denis Ménochet) und Olga (Marina Foïs) lassen, nachdem ihre Tochter das Elternhaus verlassen hat und selbst Mutter geworden ist, ihr bildungsbürgerliches Leben in Frankreich hinter sich und ziehen in die ländliche Einsamkeit Galiciens. Einst war Antoine, ein Koloss von einem Mann, in einer wüsten Phase seines Lebens nach ausgiebigem Alkoholkonsum an diesem Flecken zur Besinnung gekommen und hatte sich vorgenommen, seinen Lebensabend hier zu verbringen, in der kargen Umgebung unter dem sternübersäten Himmel. Nun bauen er und seine Frau auf Feldern in Hang­lage Biogemüse an, das sie auf dem Markt verkaufen, und restaurieren verfallene Häuser im Dorf, um sie wieder bewohnbar zu machen.

Da sie alles selbst erledigen, sind ihre Tage lang und voller Mühen. Dennoch haben sie das Gefühl, sich richtig entschieden zu haben und den gemeinsamen Traum vom befriedigenden Landleben verwirklichen zu können. Wären da nicht die direkten Nachbarn, die Brüder Xan (Luis Zahera) und Loren Anta (Diego Anido), die samt ihrer Mutter zu den Alteingesessenen im Dorf gehören. Ihnen sind die neu Zugezogenen von Anfang an ein Dorn im Auge – und als Antoine und Olga sich weigern, dem Angebot eines Energieunternehmens zuzustimmen, das im Ort Land kaufen will, um einen Windpark zu errichten, kommt offene Feindschaft auf.

Das Interesse für das Zusammenleben von Familien sowie die Beziehung von Gemeinschaften zu Landschaft, Tieren und Natur spielen im Kino der Gegenwart eine wichtige Rolle.

Schließlich könnten die Brüder mit dem Geld aus dem Landverkauf unabhängig werden und die ihnen verhasste Einöde verlassen, um ein komfortableres Leben zu beginnen. Landleben bedeutet für sie nicht Selbstverwirklichung, sondern Entbehrung und Perspektivlosigkeit sowie ein kaum zu überwindendes Hindernis dabei, eine Frau zu finden und eine Familien gründen zu können.

In der Dorfkneipe, in der sich die Männer der Gegend zum Feierabend treffen, um zu trinken, Domino zu spielen und zu diskutieren, führt Xan mit bösem Witz eine regelrechte Kampagne gegen Antoine, den er nur als »den Franzosen« bezeichnet. Auch sein Bruder, der nach einem Unfall beim Wildpferdetreiben in seiner Jugend mental beeinträchtigt ist, treibt sein feindselig-böses Spiel.

Antoine lässt das zunächst ratlos ­zurück. Doch dann beginnt er gegen den Rat seiner Frau, das Treiben der Brüder heimlich zu filmen – womit er allerdings schon bald auffliegt, was zu einer Eskalation führt. Als sich das Ehepaar hilfesuchend an die Polizei wendet, rät diese, den Nachbarschaftsstreit im Dialog bei einem Getränk zu klären, wie man das in Dorfgemeinschaften eben so ­mache. Doch da haben die Brüder bereits zu härteren Mitteln gegriffen.

Das Interesse für das Zusammenleben von Familien sowie die Beziehung von Gemeinschaften zu Landschaft, Tieren und Natur spielen im Kino der Gegenwart eine wichtige Rolle. Es ist eine Strömung, die sich gegen eine Ästhetik der Überwältigung, aber auch gegen tradierte Erzählweisen des Arthouse-Films ent­wickelt hat.

Der Filmwissenschaftler Sulgi Lie spricht in diesem Zusammenhang von einer »dezidierten slowness« als Charakteristikum. Zwei spanische Produktionen, Carla Simóns mit dem Goldenen Bären ausgezeichneter Film »Alcarràs – Die letzte Ernte« sowie das Spielfilmdebüt der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren, »20.000 Arten von Bienen«, sind typisch für diesen Trend. Rodrigo So­rogoyens düsterer Psychothriller, der auf einem Fall basiert, der sich 2010 in der Region zugetragen hat und bereits in dem Dokumentarfilm »Santoalla« (2016) porträtiert wurde, wirkt wie die Nachtseite zu den beiden ­genannten Filmen, die mit sonnendurchfluteten Bildern die von wirtschaftlicher Vernutzung bedrohte Idylle feiern.

Die Liebe der Städter zu den Tieren. Marie (Marie Colomb) kommt aus Frankreich angereist, um ihrer Mutter zu helfen

Die Liebe der Städter zu den Tieren. Marie (Marie Colomb) kommt aus Frankreich angereist, um ihrer Mutter zu helfen

Bild:
Prokino / Lucia Faraig

Entscheidenden Einfluss auf die Atmosphäre des Films haben dabei die prägnant eingesetzte perkussive, dissonante Filmmusik und die gerade auch in längeren Dialogszenen stets leicht bewegte Kamera. Der suchende Blick, die Fokussierung auf Details der Landschaft, auf die reiche Ausstattung der Innenräume, auf Hände, die einander berühren, und Gesichter, die sich verhärten oder plötzlich in der Hoffnung, dass doch nicht alles für immer verloren ist, weich erscheinen, sorgen für äußerste Lebendigkeit und schaffen einen Sog, der auch anhält, als nach etwa anderthalb Stunden entschieden ist, wer den Konflikt überlebt und wer nicht.

Vor allem aber sind es die bis in die kleinsten Nebenrollen großartig agierenden Darsteller, die »Wie ­wilde Tiere« zum Erlebnis machen. Während Denis Ménochet vor massiger Lebenszugewandtheit strotzt und vom Einstecken direkt zum Gegenangriff oder zu zärtlicher Anteilnahme übergehen kann, schafft der Regisseur für Luis Zahera und Diego Anido in den Rollen der Brüder Anta Szenen, die es ermöglichen, das knorrige Dörflertum in allen Facetten zu spielen. Von plump-bäuerlicher Gemeinheit oder Gewalt über schlitzohrig dominante Wortführerschaft in der Kneipe und tiefe Traurigkeit angesichts der immer wieder aufs Neue erkannten Chancenlosigkeit, das verhasste Elend, als das sie ihr ­Leben erkennen, je hinter sich zu lassen, ziehen sie alle Register, ohne ­dabei an Authentizität einzubüßen.

Großartig ist, wie der Film die Figur der Olga entwickelt, die in ihrem stoischen Kampf für Gerechtigkeit zu ihrer ganzen Größe findet. Eine Auseinandersetzung zwischen Olga und ihrer Tochter Marie (Marie Colomb), die angereist ist, um die Mutter aus der Gefahrenzone nach Frankreich zurückzuholen, spiegelt mit ihrer zwischen den streitenden Frauen hin- und herschwenkenden Kamera die Auseinandersetzungen zwischen Antoine und den feindlich gesinnten Brüdern. Die lange letzte Einstellung des Films lässt Kamera und Zuschauerblick dann geradezu in der Mimik der heimlichen Protagonistin versinken: Zwischen den erlebten Schrecken und der Genugtuung darüber, ihr Ziel erreicht zu haben, wird ihr Gesicht zu einer ganz ei­genen, in stetem Wandel begriffenen Landschaft, die mit der Umgebung, die sie sich ausgesucht hat und in der sie bleiben wird, aufs Schönste korrespondiert.

Wie wilde Tiere (ES/F 2022). Buch: Isabel Peña, Rodrigo Sorogoyen. Regie: Rodrigo Sorogoyen. Darsteller: Denis Ménochet, Marina Foïs, Luis Zahera. Kinostart: 7. Dezember