Der Film »Alcarràs« erzählt vom Konflikt zwischen Kleinbauern und Solarwirtschaft

Pfirsiche pflücken, Panele putzen

In ihrem autobiographisch inspiriertem Spielfilm »Alcarràs« versammelt die spanische Regisseurin Carla Simón eine große Familie zu einer letzten Obsternte. Die Plantage muss einem Solarpark weichen.

Drei Kinder in einem klapprigen Citroën 2CV am Wegesrand. »Da hinten kommen die Außerirdischen, wir brauchen mehr Benzin!« ruft Iris (Ainet Jounou) ihren Zwillingsgeschwistern Pere und Pau (Joel und Isaac Rovira) zu. Das Mädchen hält spielerisch eine Gießkanne über das Steuer, als ob sie den Tank nach­fülle. Im Autowrack stellen die Kinder einen Alien-Film nach. Aber es sind keine Außerirdischen, die auf die Plantagen in der Nähe der katalanischen Stadt Alcarràs vorrücken, es ist der Bagger eines großen Unternehmens.

Die Kinder haben keine Chance, ihr Phantasie-Raumschiff zu verteidigen, und müssen es aufgeben. Der alte Citroën wird mit schwerem Gerät hochgehoben und abtransportiert. Die Kinder rennen los, durch lange Reihen von Pfirsichbäumen voller reifer Früchte, ins Haus der Familie. »Papa, die haben uns das Auto weggenommen, das geht nicht!« Aber das ist erst der Anfang großer Umwälzungen, von denen »Alcarràs – Die letzte Ernte« erzählt.

Im Mittelpunkt des Films steht die unübersichtliche Familie Solé. Seit Generationen bewohnt die Familie ein Anwesen inmitten einer Pfirsichplantage. Die Ernte sichert ihr Auskommen. Vor kurzem ist der Eigentümer verstorben. Sein Erbe will das Land an einen Investor verkaufen, der dort einen gigantischen Solarpark errichten will – das geht nicht, oder? Der Großvater sucht die Papiere durch: »Hier, ich habe eine Rechnung mit unserer Adresse!« »Das nützt nichts, wir brauchen einen Vertrag, einen schriftlichen Vertrag, verstehst du!« ruft seine Tochter. Andere Familienmitglieder reden dazwischen, ohne Vertrag haben sie kein Recht auf das Land. In diesem Anfang ist das dramaturgische Konzept der Regisseurin Carla Simón schon aufgefächert.

Ein vielstimmiger und auch disparater Chor, aus dessen Chaos auch wieder etwas neues Gemeinsames entsteht.
»Alcarràs« ist der zweite Spielfilm der Spanierin Carla Simón. In ihrem Debütfilm »Fridas Sommer« (»Estiu 1993«, 2017) erzählte sie auch ihre eigene Geschichte: Im Alter von sechs Jahren kommt die Protagonistin zu ihrer Tante in die katalanischen Provinz. Sie ist bei ihren Eltern in Barcelona aufgewachsen. Erst starb ihr Vater, dann ihre Mutter. Ihre Tante und deren ­Familie nehmen das Mädchen auf. In »Fridas Sommer« sucht die Sechsjährige ihren Platz in der neuen ­Familie.

Der Film erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern greift exemplarisch einen gesellschaftlichen Konflikt auf, der in Spanien immer größere Ausmaße annimmt, nämlich den zwischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft und dem Flächenbedarf der Solar- und Windparks.

Im neuen Film spinnt die Regisseurin die Familienchronik weiter. »Alcarràs ist ein kleines Dorf im tiefsten Katalonien, wo meine Familie Pfir­siche anbaut«, schreibt sie in der Di­rec­tor’s Note im Presseheft zum Film. Als vor einigen Jahren ihr Großvater starb, der dort als Bauer Pfirsiche anbaute, wollte sie seine Art zu leben in einem Film festhalten.

Die einzige professionelle Schauspielerin des gesamten Casts ist Simóns Cousine Berta Pipó. Ansonsten wurde die insgesamt 13köpfige Familie auf Dorffesten in der Gegend gecastet. »Man sieht, ob ein Bauer auf der Leinwand ein Bauer ist, man sieht es an der Haut, daran, wie er auf einen Traktor steigt oder einen Pfirsich anfasst«, meint Simón. Nach anderthalb Jahren des Suchens und Befragens war die Filmfamilie beisammen: Da ist Rogelio, der Großvater. Und seine Schwester Pepita, die Großtante. Quimet ist der Sohn von Rogelio und der Ehemann von Dolors und Vater von Roger, Mariona und Iris. Nati ist die jüngere Tochter von Rogelio, Ehefrau von Cisco und Mutter der Zwillinge Pere und Pau. Gloria ist die ältere Tochter von Rogelio und Mutter von Teia. Aber wer ist denn nun die Hauptperson der Films? Der Großvater? Nachts streift er zwischen den Pfirsichbäumen herum, lässt behutsam Blätter durch die Hand gleiten, vergewissert sich – noch ist alles da. Er nimmt Abschied.

»Alcarràs« hat auf der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewonnen. Es wird kolportiert, dass die Jury beim Abspann verwundert war, dass die Darsteller – bis auf die Zwillingskinder – verschiedene Nach­namen haben. Gekonnt erzeugt der Film die Illusion, eine echte Familie zu zeigen.

Der Konflikt, der die Familie durchrüttelt, hat eine Vorgeschichte. Das Land, auf dem die Pfirsichbäume stehen, gehört der örtlichen Großgrundbesitzerfamilie Pinyol. Im Spanischen Bürgerkrieg entwickelte sich in einigen Regionen aus dem Widerstand gegen die Putschisten um General Franco eine soziale Revolution – besonders in Katalonien. Dort wurde das Land der Großgrundbesitzer enteignet und kollektiviert. In diesem Jahr des Aufbruchs versteckte der Vater von Opa Rogelio (Josep Abad) die Großgrundbesitzerfamilie Pinyol, die eine Bestrafung befürch­tete. Zum Dank schenkte der alte Pinyol Rogelios Vater, dem Uropa der Bauernfamilie, das Land, das sie bewirtschafteten. Aber die Schenkung erfolgte nur mündlich, einen schriftlichen Vertrag gab es nicht. So kann der Erbe, der jüngere Joaquim Pinyol (Jacob Diarte), ihm das Nutzungsrecht für das Land entziehen. Wie schon auf den Nachbargrundstücken will er dort eine riesige Photovoltaikanlage installieren.

Jedes der 13 Familienmitglieder versucht auf seine Art, mit dem angekündigten Ende ihrer Pfirsichplantage umzugehen. Da ist Rogelios Sohn Quimet (Jordi Pujol Dolcet), der sich mit dem Mut der Verzweiflung in die Ernte stürzt, hart gegen sich und alle anderen. Da ist seine Schwester Nati (Montse Oró), die sich mit ihrem Mann Cisco (Carles Cabós) an die neuen Gegebenheiten anzupassen versucht – beide lassen sich in Pinyols neuer Firma für den Bau und die Wartung der Solarpaneele anstellen. Als Quimet das heraus­bekommt, schlägt er Cisco krankenhausreif.

Der Film erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern greift exemplarisch einen gesellschaftlichen Konflikt auf, der in Spanien immer größere Ausmaße annimmt, nämlich den zwischen kleinbäuerlicher Landwirtschaft und dem Flächenbedarf der Solar- und Windparks. Die Situation ist nicht zuletzt deshalb dramatisch, weil das Agrarland in Spanien extrem ungleich verteilt ist: 51 000 Personen besitzen laut Zahlen des Nationalen Statistik­amts Spaniens über neun Millionen Hektar Land; das ist mehr als die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens.

Nach der Reconquista wurden rie­sige von den Arabern zurückeroberte Ländereien an wenige Angehörige des Hochadels vergeben. Das wirkt bis heute nach. Die Großgrundbesitzer haben nicht nur sehr viel Besitz, sondern im ländlichen Raum durch ihr Kapital und ihre Rolle als oft einzige Arbeitgeber großen Einfluss. Dagegen richtete sich die Kollektivierung im Spanischen Bürgerkrieg, die von Franco annulliert wurde.

Der wohl mächtigste Großgrundbesitzer ist der Milliardär, Geschäftsmann und Kunstsammler Juan ­Abelló. Er besitzt 41 000 Hektar Land und ist damit auch der größte Empfänger von Agrarförderung der EU in Spanien. Denn die EU vergibt ihre Fördermittel nach der Größe des Besitzes. Abelló ist befreundet mit dem ehemaligen König Spaniens, Juan Carlos, und mit José María Aznar, einem rechtskonservativen ehemaligen Ministerpräsidenten Spaniens. Es folgen die Familie Alba mit 34 000 Hektar Landbesitz, Carlos March mit über 30 000 Hektar, an vierter Stelle steht mit 23 000 Hektar die Familie von Samuel Flores. Dieser betreibt bereits seit 2006 einen riesigen Solarpark und in großem Stil biologische Landwirtschaft.

2020 gründete sich der Dachverband Aliente (Alianza Energía y Territorio), zu dem über 200 regionale Gruppen von den antikapitalistischen Ecologistas en Acción bis hin zu ­Ornithologenverbänden zählen. Der Verband fordert, dass die Förderung erneuerbarer Energien im Einklang mit Umweltschutz und kleinbäuerlicher Landwirtschaft auf dem ohnehin entvölkerten Land erfolgen muss.

Die Familie in »Alcarràs« stimmt ein bekanntes Lied des republikanischen Spaniens an, dass sich gegen die Großgrundbesitzer richtet und das Recht der Kleinbauern einfordert, selbst Land zu bewirtschaften. Dabei inszeniert der Film weder ein ländliches Idyll, noch idealisiert er die ländliche Solarwirtschaft, wie viele Linke es tun.

Alcarràs – Die letzte Ernte (Spanien/Italien 2022). Regie: Carla Simón. Darsteller: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset, ­Albert Bosch, Ainet Jounou, Josep Abad, Montse Oró, Carles Cabós, Berta Pipó.
Kinostart: 11. August