Der bürgerlichen Freiheit liegt die strukturelle Ungleichheit zugrunde

Bedingte Freiheit

Die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft gilt für alle Bürger gleichermaßen und bedingt genau deshalb soziale Ungleichheit. Zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen den Staat in der Reproduktion dieses ungleichen Verhältnisses.

Freiheit, Gleichheit und Eigentum sind die tragenden Säulen der bürgerlichen Ordnung. Aus ihrem Schutz bezieht der Rechts- und Verfassungsstaat seine Legitimation. Die ideologische Rechtfertigung staatlicher Herrschaft präsentiert den Staat als neutralen Schiedsrichter und Dienstleister. Der Staatsapparat sorgt mittels allgemeingültiger und verbindlicher Regeln dafür, dass alle Staatsbürger ihre privaten Interessen verfolgen dürfen. In dieser Hinsicht tritt der Staat als neutrale Koordinationsinstanz vorpolitischer Interessen auf, die es lediglich zu ordnen gelte.

Nun stehen die jeweiligen Interessen unterschiedlich situierter Bürger, etwa Mieter und Vermieter oder Arbeitnehmer und -geber, in einem gegensätzlichen Verhältnis zueinander. Dies ergibt sich mit Notwendigkeit aus der allgemeinen Geltung individueller Rechte für alle Staatsangehörigen. Die staatliche Garantie des Privateigentums beispielsweise gilt unabhängig davon, ob jemand viel oder wenig davon hat.

Indem das bürgerliche Recht vom konkreten Inhalt (also etwa Art und Menge des Privateigentums) absieht und allen Rechtssubjekten gleichermaßen – ohne Ansehen der Person – die exklusive Verfügungsgewalt über ihr Eigentum (und also den Ausschluss Dritter von dessen Benutzung) zusichert, verschafft es freilich denen einen strukturellen Vorteil, die viel Eigentum haben. Sie können denjenigen, die wenig oder nichts besitzen, ein Angebot unterbreiten, dass diese zwar de jure (Vertragsfreiheit), kaum aber de facto (Hunger) ablehnen können.

Die Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen Bindungen war ebenso Befreiung wie Zumutung.

Kurzum: Die staatliche Einrichtung und Durchsetzung formal gleicher Rechte bringt die soziale Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft hervor, indem sie den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx) etabliert. Zugleich hält sich derselbe Staat – nun allerdings in Form sozialstaatlicher Einrichtungen – die Versorgung derjenigen zugute, die bei der Verfolgung ihrer Interessen in eine materielle Notlage geraten sind.

Es ist die staatlich gewährte Freiheit nicht nur Voraussetzung privatwirtschaftlicher Aktivitäten und der sich dar­aus ergebenden Konflikte. Zu den Menschen- und Bürgerrechten, für deren Durchsetzung sich die liberal-demokratischen Rechtsstaaten weltweit rühmen, gehört nicht zuletzt die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Die Möglichkeit freiwilliger Mitgliedschaft in einer selbstgewählten Assoziation unterschied denn auch die moderne bürgerliche Gesellschaft von ihren ständischen Vorläufern, in denen Zugehörigkeit, Identität und Biographie des Einzelnen durch Stand, Korporation und Religion festlegt waren.

Die Inanspruchnahme der neu hinzugewonnenen Freiheiten im Zuge der Auflösung ständisch verfasster und insofern qua Geburt vorstrukturierter Lebens- und Arbeitswelten hatten freilich – wie alles in der Moderne – einen ambivalenten Charakter. Die Herauslösung des Einzelnen aus traditionellen Bindungen war ebenso Befreiung wie Zumutung.

Arbeitervereine, Gewerkschaften und Genossenschaften gründeten sich als Not- und Interessenvertretungsgemeinschaften. Ihre Solidarität war weniger hehres Ideal, geboren aus Nächstenliebe und Brüderlichkeit, als vielmehr eine Reaktion auf Mangel und politische Unterdrückung.

Die bürgerliche Gesellschaft, die an die Stelle der ständischen Ordnung trat, war Fluch und Segen zugleich. Nahezu unerschütterlich war im Frühliberalismus der Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Vereins- und Assoziationswesens. Als mit der Gründung von immer neuen Aktiengesellschaften während des wirtschaftlich-industriellen Aufschwungs in den 1840er Jahren die »soziale Frage« an Dringlichkeit gewann, erwarte man ihre Lösung von genau dem Organisationsprinzip, das die alte Ordnung der Korporationen und Zünfte allmählich unterminierte: dem Verein. Ökonomische und – wie man später sagen sollte – zivilgesellschaftliche, also ideelle, kulturelle oder soziale Vereinsziele wurden noch nicht streng voneinander unterschieden. So verfolgten etwa die unzähligen Vereine zur »Förderung der vaterländischen Industrie« neben Zwecken von Bildung, Wissenschaft und Geselligkeit ganz handfeste wirtschaftspolitische Ziele. Beides sollte – noch ganz im Sinne der Aufklärung – dem Fortschritt der ganzen Gesellschaft, ja der Menschheit insgesamt dienen.

Die fortschreitende Industrialisierung ließ den Idealismus des Frühliberalismus zerstieben. Arbeitervereine, Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften gründeten sich als Not- und Interessenvertretungsgemeinschaften. Ihre Solidarität war weniger hehres Ideal, geboren aus Nächstenliebe und Brüderlichkeit, als vielmehr eine Reaktion auf Mangel und politische Unterdrückung.

Bürgerliche Sozialreformer des 19. Jahrhunderts wie Lorenz von Stein oder Otto von Gierke priesen an den freiwilligen Zusammenschlüssen weiterhin die Möglichkeit einer Überwindung, ja Sublimierung von Partikular- und Sonderinteressen zugunsten eines Gemeinwohls. Die Sphäre kollektiver Selbstorganisation zwischen Staat und Bürgern sollte nicht nur sogenanntes »Markt- und Staatsversagen« durch »freiwilliges Engagement« korrigieren, wie man in der heutigen Engagement- und Zivilgesellschaftsforschung sagt. Das freiwillige, unentgeltliche und gemeinwohlorientierte, oder kurz: zivilgesellschaftliche Handeln »engagierter Aktivbürger« war von Anfang weit mehr als eine pragmatische Form der Selbsthilfe.

»Markenkern« und Grenze auch jeder noch so kritischen Zivilgesellschaft ist die Öffentlichkeit. Die Macht zivilgesellschaftlicher Organisationen beschränkt sich qua Verfassung darauf, die gesellschaftliche Probleme »lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterzuleiten« (Jürgen Habermas).

»Bürgerschaftliches Engagement« galt und gilt bis heute als wichtiger, ja unentbehrlicher Beitrag zum Gemeinwohl. Aus der gemeinsamen ideologischen Ausrichtung auf den Nationalstaat als Schicksalsgemeinschaft und Garant »unseres Wohlstands« erklärt sich die Wahlverwandtschaft zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Der gemeinsame Nenner beider ist der Bezug aufs Allgemeine – wobei die Interpretationen beispielsweise von Protestbewegungen und Regierung über Inhalt und Realisierung des Allgemeinwohls durchaus voneinander abweichen können (und sollen).

Das Über- und Unterordnungsverhältnis steht jedoch von vorneherein fest: »Markenkern« und Grenze auch jeder noch so kritischen Zivilgesellschaft ist die Öffentlichkeit. Die Macht zivilgesellschaftlicher Organisationen beschränkt sich qua Verfassung darauf, die gesellschaftliche Probleme »lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterzuleiten« (Jürgen Habermas), damit diese die entsprechenden administrativen Maßnahmen zur Problemlösung einleiten kann. Ob und wie die jeweilige Regierung – schließlich wird sie genau dafür in demokratischen Wahlen von ihren Bürgern ermächtigt – Anregungen und Vorschläge, beispielsweise von sozialen Bewegungen, aufnimmt und verarbeitet, bleibt ihr selbst überlassen.

Die Zivilgesellschaft gilt dementsprechend genau dann als verantwortungsbewusst, wenn sie konstruktive Vorschläge zur Lösung der Klima-, der Flüchtlings- oder der Energiekrise formuliert. Entweder indem sie sich der diversen Probleme und Defizite in Eigenverantwortung gleich selbst annimmt und also dem frühliberalen Prinzip der Selbstkorrektur der bürgerlichen Gesellschaft folgt. Oder aber, indem sie durch Verbesserungsvorschläge der regierungsamtlichen Betreuung »lebensweltlicher Problemlagen« zuarbeitet. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten steht die Zivilgesellschaft. Wer sie zum Motor des Fortschritts erhebt, hat vielleicht eine Vorstellung, aber keinen Begriff von ihr.