Julia Ostrowskaja, Juristin, im Gespräch über Geschlechtergerechtigkeit in Russland

»Bei der Geschlechtergleichheit hat sich statistisch nichts geändert«

In Russland sollen auch 14jährige Jugendliche arbeiten gehen, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Gleichzeitig stehen einige Berufe Frauen nicht offen und diese werden auch dazu angehalten, sich um Nachwuchs zu kümmern. Ein Gespräch mit der Juristin Julia Ostrowskaja über Arbeitsproteste und Abtreibungen.
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Gab es in Russland in den vergangenen zwei Jahren in Bezug auf arbeitsrechtliche Bestimmungen signifikante Veränderungen?
Ja, seit vergangenem Sommer dürfen Jugendliche ab 14 Jahren einer Lohnarbeit nachgehen. Internationalen Regelungen gemäß darf die Altersgrenze nicht unter 15 Jahren liegen. Damit wurde also Kinderarbeit legalisiert.

Weshalb kam dieses Thema denn überhaupt auf die Tagesordnung?
Wegen akuten Fachkräftemangels. Natürlich ist völlig klar, dass Teenager keine Fachkräfte sind und sich einen Job im Niedriglohnsektor suchen, beispielsweise bei Lieferdiensten. Das entsprechende Gesetz wurde in zwei Duma-Ausschüssen diskutiert – im Jugendausschuss, der diese Veränderungen angeregt hat, und im Familienausschuss. Es fiel das Argument, dass junge Menschen auf diese Weise früher Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt sammeln, gleichzeitig hieß es aber auch, dass sie damit einen eigenen Beitrag zur schwierigen finanziellen Versorgung vieler Familien leisten können. Kindern eine solche Last aufzubürden, ist alarmierend. Vielmehr bräuchte es angemessene Sozialleistungen und eine Anhebung der Löhne.

»Schon seit Jahren wird intensiv über den Fachkräftemangel debattiert, was mit der Abwanderung migrantischer Arbeitskräfte zu tun hat, aber auch mit der demographischen Entwicklung.«

Regte sich gegen dieses Gesetz Widerstand?
Die Föderation der unabhängigen Gewerkschaften, der größte gewerkschaftliche Zusammenschluss in Russland, hat diese Initiative mit Verweis auf internationale Normen kritisiert. In der ersten Textfassung war sogar davon die Rede, gänzlich von arbeitsrechtlichen Kontrollen bei Firmen und Betrieben abzusehen, die Jugendliche beschäftigen. Gegen diese Klausel liefen die Gewerkschaften Sturm, so dass Kontrollen nun möglich bleiben. Zwingend sind sie aber nicht. Übrigens wurde über das Gesetz am 1. Juni abgestimmt – dem internationalen Kindertag.

Und die Arbeitgeberseite?
Die unterstützte die Initiative, schließlich war klar, dass Kinder schlecht bezahlte, einfache Tätigkeiten verrichten werden, für die es nicht leicht ist, Erwachsene zu finden.

Ist definiert, welche Arten von Beschäftigung in Frage kommen, und gibt es Ausschlusskriterien?
Es gelten die allgemeinen Kriterien für minderjährige Erwerbstätige, so dass beispielsweise gesundheitsgefährdende Tätigkeiten und Nachtarbeit grundsätzlich ausgeschlossen sind. Aber es gibt keine Liste mit möglichen Arbeitsbereichen mehr, die wurde nämlich abgeschafft.

Liegen bereits Erkenntnisse über die praktischen Auswirkungen der Gesetzesänderung vor?
Anhand der vorliegenden statistischen Angaben lassen sich noch keine Schlussfolgerungen ziehen, da die Statistik für das Jahr 2023 Arbeitskräfte erst ab 15 Jahren erfasst.

Gab es über die Absenkung der Altersgrenze eine Diskussion in der Öffentlichkeit?
Die Gewerkschaften wurden zwar einbezogen, eine öffentliche Debatte fand jedoch nicht statt. Schon seit Jahren wird allerdings intensiv über den Fachkräftemangel debattiert, was mit der Abwanderung migrantischer Arbeitskräfte zu tun hat, aber auch mit der demographischen Entwicklung. Geburtenstarke Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt und gehen in Rente, während geburtenschwache Jahrgänge nachrücken. Im Moment sind deshalb noch weitere Vorschläge für Steuermechanismen in der Diskussion, zum Beispiel die Möglichkeit für Frauen, den Mutterschaftsurlaub vorzeitig abzubrechen bei Fortzahlung staatlicher Leistungen in vollem Umfang.

Wie passt das mit den laut geführten Debatten über sogenannte traditionelle Werte zusammen? In dem Zusammenhang werden immer wieder absurde Vorschläge eingebracht, wie der Appell, gebärfähige Frauen sollten erst Kinder bekommen, bevor sie eine Berufskarriere anstreben, und sich am besten vor allem um den Nachwuchs kümmern. Um ihre berufliche Qualifikation geht es dabei gar nicht. Das ist doch ein großer Widerspruch.
Eben. Mit Blick auf den Zustand der Wirtschaft passt das nicht zusammen. Frauen stellen die Hälfte der Arbeitskraft und es ist schlichtweg unrealistisch, sie massenweise der Reproduktion wegen dem Arbeitsmarkt zu entziehen. Mehr noch, Frauen verfügen über eine bessere Ausbildung und Qualifikation als Männer. Gleichzeitig ist in Russland das Lohnniveau gering, das trifft auch auf staatliche Sozialleistungen zu. Einer einzigen Person ist es also unmöglich, für den Unterhalt der Familie aufzukommen, zumal mit mehreren Kindern.

Das heißt, die russische Gesellschaft ist gar nicht dazu in der Lage, das von Staat und Kirche propagierte traditionelle Lebensmodell zur Norm zu machen?
Das ist reiner Populismus. Unter Ökonom:innen herrscht Konsens, dass sich dieses Modell nicht verwirklichen lässt.

Wie steht es um das Abtreibungsrecht? Versuche, dieses einzuschränken, treffen bei russischen Frauen auf viel Kritik.
Ohnehin ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche rückläufig. Das liegt an einer gestiegenen Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, aber auch an besserer Aufklärung, die zwar nicht in der Schule stattfindet, aber durch den Zugang zum Internet. Bei kommerziellen Gesundheitseinrichtungen kann man zudem, anders als in den staatlichen, auch kurzfristig Beratungstermine wahrnehmen. Verbote für private Kliniken, Abtreibungen vorzunehmen, würden zur Überlastung staatlicher Einrichtungen führen. Das wiederum könnte bedeuten, dass eine schwangere Frau keinen Termin ergattert, um innerhalb der gesetzlichen Frist bis zur zwölften Schwangerschaftswoche einen Abbruch vornehmen zu lassen. In den vergangenen Jahren erlebte die privat organisierte Medizin in Russland einen Aufschwung. Nach Angaben der Gewerkschaften ist das medizinische Personal im staatlichen Gesundheitsbereich völlig überlastet.

Eines der Argumente für Abtreibungsverbote in privaten Einrichtungen besteht darin, dass der Staat andernfalls keine Kon­trolle ausüben könne.
Für medizinische Dienstleistungen braucht es eine staatliche Lizenz, dieses Argument ist also hinfällig. Zwar besteht eine Schweigepflicht, ihr sind aber alle unterworfen, auch Beschäftigte staatlicher Einrichtungen. Übrigens sieht das Gesetz derzeit eine prinzipielle Wahlfreiheit zwischen staatlichen und kommerziellen medizinischen Dienstleistungen vor, für Abtreibungsverbote in privaten Kliniken müsste das geändert werden. In einigen Regionen gilt ein Verbot bereits, die Antimonopolbehörde hat deshalb aber ein Prüfungsverfahren eingeleitet. In der Duma fand der Vorschlag, landesweit Schwangerschaftsabbrüche in privaten Kliniken zu verbieten, keine Mehrheit.

In Russland stehen Frauen nicht alle Berufe offen, vor allem gesundheitsschädliche in der Eisen-, Stahl- und Chemieindustrie oder im Bergbau. Wie steht es in dieser Hinsicht um die Geschlechtergerechtigkeit?
Bis vor kurzem waren 456 Berufe für Frauen nicht zugänglich, jetzt sind es noch 100. Perspektivisch wird es noch weniger Ausnahmen geben oder diese Liste wird völlig ad acta gelegt. Dafür braucht es eine Einigung der Regierung, der Arbeitgeberseite und der Gewerkschaften.

Vor einiger Zeit machte ein Streik der neu gegründeten Gewerkschaft der bei Lieferdiensten Beschäftigten von sich reden. In welcher Form finden Arbeitskämpfe in Russland statt?
Was Verstöße gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen betrifft, gab es dagegen in den vergangenen Jahren eine gleichbleibend hohen Zahl an Protestaktionen, Hunderte jedes Jahr. Gemeint sind keine Klagen vor Gericht, sondern kollektiv geführte Arbeitskämpfe. Meist geht es um nicht oder mit Verzögerung bezahlte Löhne. Manchmal handelt es sich um Arbeitsniederlegungen, manchmal wenden sich Belegschaften mit Protestschreiben an staatliche Stellen. Kundgebungen und Demonstrationen unterliegen in Russland immer noch pandemiebedingten Einschränkungen.

»Es wird viel über den Mangel an migrantischer Arbeitskraft debattiert, gleichzeitig hat Russland nicht die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation ratifiziert, die die Rechte von Arbeitsmigrant:innen regelt.«

Nicht immer initiieren Gewerkschaften diese Proteste, zumal sie gar nicht in allen Branchen existieren. Gerade im Online-Handel sieht es schlecht aus, abhängig Beschäftigte gelten dort oft nicht als solche, sondern als Sub­unternehmer:innen. Dieses Problem lässt sich weltweit beobachten, nur der Umgang damit fällt je nach Land sehr unterschiedlich aus. Dass sich in Russland die Gewerkschaft Kurier gegründet hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn es braucht letztlich verbindliche Strukturen, um überhaupt Verhandlungen über eine arbeitsrechtliche Ausgestaltung führen zu können.

Wie hat sich die Teilmobilmachung auf den Arbeitsmarkt und die Karrierechancen für Frauen ausgewirkt?
In einzelnen Firmen und Betrieben konnten Frauen Leitungsfunktionen übernehmen. Rein statistisch betrachtet hat sich im Bereich der Geschlechtergleichheit nichts geändert. Gerade in technischen Berufen, die in Russland männlich dominiert sind, wurden, wenn Ersatz gebraucht wurde, andere männliche Arbeitskräfte herangezogen. Schlosser oder Dreher werden händeringend gesucht, aber offene Stellen nicht mit Frauen besetzt.

Durch Arbeitskräfte aus Zentralasien lässt sich der Fachkräftemangel offenbar auch nicht kompensieren. Wie sieht es mit der Geschlechterungleichheit unter Migrant:innen aus?
Es existiert schlichtweg keine detaillierte Statistik, die darüber Auskunft geben könnte, in welchen Branchen Männer und Frauen aus Zentralasien und aus anderen ehemaligen Sowjetrepu­bliken arbeiten. Schon 2020 haben wir mit einem Zusammenschluss von über 100 Nichtregierungsorganisationen der russischen Regierung eine Empfehlung ausgesprochen, eine Statistik nach Alter, Geschlecht und dergleichen zu führen.

Präsident Wladimir Putin forderte aufgrund des Mangels an migrantischer Arbeitskraft im Dezember, eine eigenständige Behörde zu schaffen. Eine solche, den sogenannten Migrationsdienst, gab schon einmal, nur wurde sie 2016 abgeschafft.
Es wäre sinnvoll, sie wieder einzurichten. Interessant ist, dass viel über den Mangel an migrantischer Arbeitskraft debattiert wird, während Russland bis heute nicht die Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen ratifiziert hat, die die Rechte von Arbeitsmigrant:innen regelt. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre erschien die Debatte darüber regelmäßig auf der Tagesordnung der Kommission, in der Regierung, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften vertreten sind und deren Votum für die Ratifizierung erforderlich ist. Aber die Diskussion wird jedes Mal wieder aufgeschoben. Würden die Rechte von Arbeitsmigrant:innen besser geschützt, würde es mit Sicherheit attraktiver, in Russland zu arbeiten.

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Julia Ostrowskaja

Julia Ostrowskaja

Bild:
privat

Julia Ostrowskaja ist Juristin und setzt sich für die Gendergerechtigkeit in der Arbeitswelt ein. Sie ist Mitglied des Regional Civil Society Engagement Mechanism (ECE-RCEM), einem organisierten Forum für zivilgesellschaftliches Engagement in regionalen Prozessen der United Nations Economic Commission for Europe für nachhaltige Entwicklung.