In Russland gibt es eine Welle rechtsextremer Gewalt

Rückkehr der Nazi-Skins

In Russland gibt es zahllose Fälle neonazistischer Übergriffe. Junge Nazis filmen ihre brutalen Taten, um sie auf Telegram zu verbreiten.

Ende Februar erschien in einer Moskauer Nachbarschaftsgruppe in den sozialen Medien ein Foto von glatzköpfigen jungen Männern in schweren Stiefeln und Bomberjacken. »Skinheads sind in der U-Bahn gesichtet worden. Erinnert ihr euch an diese Subkultur?« hieß es in der Bildunterschrift.

Das Foto wirft ein Schlaglicht auf den Rechtsextremismus in Russland im dritten Jahr der Invasion der Ukraine. Vor dem Krieg schien es noch, als gehöre die Nazi-Skinhead-Subkultur einer vergangenen Ära an. Ihre Ästhetik war in den neunziger Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR – wie so vieles andere – aus dem Westen nach Russland importiert worden. Die Szene war groß und gewalttätig, ihre Mitglieder verübten viele rassistische Morde.

Nachdem Putin 1999 Präsident geworden war, fanden sie Unterschlupf in Organisationen, die im Rahmen der sogenannten Politik des »kontrollierten Nationalismus« entstanden. Der Staat versuchte damals, die Rechtsextremen zu steuern, indem er ihnen erlaubte, sich zu organisieren.

Doch das vom Kreml gepflegte Monster ließ sich nicht einhegen. 2009 erreichte die rechtsextreme Gewalt mit 548 Morden ihren Höhepunkt. Die immer stärker werdende extreme Rechte entwickelte sich zu einer potentiellen Bedrohung für das Putin-Regime. Nach einem Großaufmarsch mit Straßenschlachten in Moskau im Jahr 2010 verboten die Behörden die größten nationalistischen Organisationen und sperrten ihre Anführer ein. Nach dem Beginn des Kriegs in der Ukraine 2014 spalteten sich die Reste der rechtsextremen Bewegung schließlich: Die »Hitleristen« liefen zur Ukraine über, während die »Imperialisten« loyal blieben.

Doch in Russland ist offenbar eine neue Generation von Rechtsextremisten herangewachsen. Das geht aus einem aktuellen Bericht des Sowa-Zen­trums hervor, das die extreme Rechte in Russland seit mehr als 20 Jahren beobachtet. »Seit dem Frühjahr 2023 verzeichnen wir einen rasanten Anstieg rassistischer Gewalt«, heißt es dort. Dem Bericht zufolge werden die rassistischen Gewalttaten meist von Gruppen Jugendlicher begangen, die von den Nazi-Skinheads der frühen nuller Jahre inspiriert sind.

Die neue Generation der russischen extremen Rechten ist noch nicht organisiert und hat bisher keine politischen Ambitionen. Es handelt sich um eine chaotische Welle der Gewalt.

Bislang beschränken sich die meisten Gewalttaten auf Vandalismus und kleinere Angriffe auf Migranten und der faschistischen Weltanschauung gemäße Gegner – Antifaschisten, Kommunisten, LGBT-Personen. Es gibt aber auch bereits Fälle von brutalen Gruppenprügeleien und sogar Morden. Am 18. August erstach ein rechtsextremer Aktivist einen Schwarzen in Jekaterinburg. Im November erstachen Jugendliche einen unbekannten Obdachlosen und filmten die Tat. In Nowosibirsk schlugen zwei Schüler einen Mann zu Tode. Sowa zufolge liegt das derzeitige Ausmaß der rechtsextremen Gewalt bereits auf dem Niveau der Mitte der nuller Jahre, der Blütezeit der Nazi-Skinhead-Bewegung.

Es gibt jedoch wichtige Unterschiede. Die neue Generation der extremen Rechten ist noch nicht organisiert und hat bisher keine politischen Ambitionen. Es handelt sich um eine chaotische Welle der Gewalt, in der die Bilder von der Front aufscheinen. Die Fernsehnachrichten und Telegram-Kanäle in Russland sind täglich gefüllt mit Kriegspornos – der Messaging-Dienst Telegram ist das beliebteste soziale Medium in Russland, dort verfolgen viele Russen unter anderem das Kriegsgeschehen.

Auf diese Bilder antworten die Neonazis mit ihrem eigenen Content. Sie nehmen ihre Angriffe auf Video auf und veröffentlichen sie in anonymen Telegram-Kanälen. Die 13- und 14jährigen Schüler, die in Nowosibirsk wegen Mordes festgenommen wurden, gaben zu, den Mann getötet zu haben, um Inhalte für ihren Kanal zu filmen.

Als Reaktion entstand das Nazi Video Monitoring Project (NVMP). Deren Mitglieder – anonyme Freiwillige – versuchen, mit Hilfe von Techniken der Open Source Intelligence die Umstände der Nazi-Verbrechen zu ermitteln. Nach Veröffentlichungen des NVMP verhaftete die Polizei am 26. Januar sechs Neonazis in Rybinsk in der Region Jaroslawl. Sie sollen ein Mitglied der örtlichen Kommunistischen Partei verprügelt, die Tat gefilmt und die Aufzeichnung ins Internet gestellt haben. Seit der Gründung des NVMP im September 2023 hat das Projekt bereits 300 rechtsextreme Videos dokumentiert, die 454 Angriffe zeigen.

Alle diese Videos wurden von anonymen Gruppen rechtsextremer jugendlicher Skinheads produziert und auf Telegram veröffentlicht. Die Kanäle tragen ironische Namen wie etwa »Kein Krieg außer Rassenkrieg« – angelehnt an die linke Parole »Kein Krieg außer Klassenkrieg«. Meist stellen sich diese Rechtsextremisten gegen das Regime. Für sie ist Putin ein »alter Bolschewik« und der Krieg in der Ukraine ein »Bruderkrieg von Slawen gegen Slawen«. Aus diesem Grund zerschneiden Rechtsextreme Reifen und schlagen die Scheiben von Autos mit »Z«-Aufklebern ein, verunstalten Militärplakate und setzen Rekrutierungsbüros und Schaltkästen auf Bahngleisen in Brand.

Einer der aufsehenerregendsten Fälle im Jahr 2022 war die National Socialism/White Power Crew (NS/WP), die geplant haben soll, Russlands obersten Propagandisten, den Fernseh- und Radiomoderator Wladimir Solowjow, zu ermorden. Die Gruppe bestand aus sieben Personen, von denen fünf bereits verurteilte Nazi-Skinheads waren. Die NS/WP behauptete, dass ihnen die Ukraine »egal« sei.

Nach Angaben der rus­sischen Behörden geht jedoch aus Tonbandaufzeichnungen hervor, dass ukrainische Sicherheitsdienste sie mit dem Attentat beauftragt hatten. Davon berichtete das russische Oppositionsmedium Mediazona. Den russischen Behörden zufolge war der Vermittler zwischen den ukrainischen Sicherheitsdiensten und NS/WP der ukrainische Neonazi Artem Deriglasow, der in der Ukraine eine lebenslange Haftstrafe für den Mord an einem Polizisten im Jahr 2010 verbüßt.

NS/WP-Mitglieder inspirierten eine neue Nazi-Generation, indem sie auf Telegram detaillierte Anleitungen zum Begehen von Verbrechen und Geschichten über »Menschenjagd« veröffentlichten. Im Juni 2023 deckte der russische Inlandsgeheimdienst FSB eine Gruppe von acht Jugendlichen namens »Paragraph 88« auf, die versucht hatte, die Fernseh-Propagandistin Margarita Simonjan und den Fernsehstar Ksenija Sobtschak zu töten. Die Gruppe soll ebenfalls zum NS/WP-Netzwerk gehört haben.

In vielerlei Hinsicht wurde diese Flut rechtsextremer Gewalt im Land vom Regime selbst provoziert, das seit Kriegsbeginn den ethnischen russischen Nationalismus geschürt hat. Staatliche Funktionäre und sogar das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, sprachen verstärkt von der »Gefahr durch Migranten«. Putin selbst äußert sich zum Teil zurückhaltender und betont in Reden auch mal, dass Russland ein multiethnisches Reich sei – was unter anderem daran liegen könnte, dass überproportional viele der Soldaten, die im Krieg gegen die Ukraine kämpfen, keine ethnischen Russen sind, sondern den Minderheiten aus der verarmten Peripherie angehören.

In dieser Gemengelage scheint die Strategie des »kontrollierten Nationalismus« eine Renaissance zu erleben. Unmittelbar nach dem Einmarsch in die Ukraine entstanden zwei große nationalistische Organisationen: die Russische Gemeinschaft des ehemaligen Omsker Beamten Andrej Tkatschuk, und der Nordische Mann des rechtsextremen Rappers Mischa Mawaschi. Die beiden Organisationen ähneln einander auffallend und agieren oft gemeinsam. Sie sind äußerst behördentreu, sammeln regelmäßig Spenden für die russischen Frontsoldaten und wirken wie ein neuer Versuch des Kremls, die Nationalisten unter Kontrolle zu bringen. Doch wie die Geschichte gezeigt hat, lassen sich dem rechtsextremen Monster schwer Fesseln anlegen.