Ramón Grosfoguel und die Delegitimierung Israels im Postkolonialismus

Historische Verrenkungen

Wie Judith Butler, seine berühmtere Kollegin an der kalifornischen Universität Berkeley, ist der dort lehrende Soziologe Ramón Grosfoguel der Ansicht, Israel habe sich den Angriff der Hamas selbst zuzuschreiben. Aber in seiner Solidarität mit den Feinden des jüdischen Staates geht er noch sehr viel weiter als Butler. Mit der Hinwendung zu islamistischen Positionen verrät die dekolonialistische Theorie auch den eigenen Anspruch auf Befreiung.

Die »genozidale ethnische Säuberung Palästinas« sei noch gar nicht wirklich verstanden worden – so beginnt der neue Aufsatz von Ramón Grosfoguel mit dem bezeichnenden Titel »Gaza: Das Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts« auf der Website der Islamic Human Rights Commission (IHRC). Darin breitet der puerto-ricanische Soziologe und Professor für Chicano and Latino Studies in Berkeley seine bekannte These vom »kolonial-rassistischen« Charakter des Staats Israels und den Nazi-Methoden des zionistischen Projekts noch einmal aus und verschärft den Ton.

Grosfoguel hat Jüdinnen und Juden in einem wissenschaftlichen Aufsatz bereits vor Jahren als »Weiße« klassifiziert, die den Holocaust in­strumentalisieren würden, um selbst einen Genozid zu begehen. Die Parallelen zwischen der Nazi-Politik der Judenvernichtung und der zionistischen Politik der »Vernichtung der Palästinenser«, schreibt er jetzt, ­seien »enorm«. Der Gaza-Streifen sei heutzutage kein Freiluftgefängnis, sondern »das größte Konzentrationslager der Welt«.

Um den Staat Israel als kolonialistisch und gar nazistisch darzustellen, bedarf es schon einiger historischer Verrenkungen.

Um den Staat Israel als kolonialistisch und gar nazistisch darzustellen, bedarf es schon einiger historischer Verrenkungen: Vor Tausenden von Jahren seien die Hebräer:innen die Opfer der Pharaos gewesen, schreibt Grosfoguel, heutzutage seien hingegen die »zionistisch jüdischen, siedlerkolonialistischen Eliten die neuen ›Pharaos‹ im gelobten Land«. Um das »Gründungsnarrativ des israelischen Staats« zu entmystifizieren, müsse betont werden, dass hebräische und jüdische Identität nicht dasselbe seien.

Nur so kann Grosfoguel die Jüdinnen und Juden dann als Kolonialherren beschreiben, die die Paläs­tinenser:innen unterdrücken. Letztere verkörpern für ihn die »Diversität der Spiritualitäten und der antiken kosmologischen Traditionen«. Der Staat Israel beruhe auf der ­»illegalen Besetzung von Territorien und der forcierten Vertreibung der indigenen palästinensischen Bevölkerung«. Hierin gründe eine enge Korrelation zwischen »Siedlerkolonialismus und Genozid«. Seit der Staatsgründung 1948 betreibe der jüdische Staat »ethnische Säuberung« an den Palästinenser:innen.

Grosfoguel gehört zu den Protago­nist:innen der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika

Grosfoguel gehört zu den Protago­nist:innen der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika. Diese ist ein Sammelsurium aus Ansätzen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich vor allem mit den Auswirkungen des europäischen Kolonialismus befassen. Die Effekte des Kolonialismus, die auch nach dem Ende der politisch-administrativen Herrschaft wirksam bleiben, bezeichnete der peruanische Soziologe Aníbal Quijano (1930–2018) als »Kolonialität«.

Entstanden sind die dekolonialistischen Ansätze unter anderem aus verschiedenen Strömungen linker Theorie und Praxis des 20. Jahrhunderts. So hatten sich die Dependenztheorien der sechziger und siebziger Jahre mit den ökonomischen Abhängigkeiten der globalen Peripherie vom nordamerikanisch-westeuropäischen Zentrum als Folge des Kolonialismus beschäftigt. Ihren ökonomischen Fokus erweitert die dekolonialistische Theorie, indem sie danach fragt, inwiefern auch die kulturellen Praktiken und das Wissen kolonial geprägt sind.

Zudem gehören antikoloniale Theoretiker wie der peruanische Marxist José Carlos ­Mariátegui (1894–1930) und der algerisch-französische Psychiater Frantz Fanon (1925–1961) zu den Vorläufern, auf die sich die Schriften explizit beziehen. Es gibt Studien zu indigenen Bevölkerungsgruppen, theoretische Beiträge zur Handlungsmacht der Subalternen, historische Studien, feministische Theorie und vieles mehr. Nur wenige dekolonialistische Autor:innen aus Lateinamerika haben zum israelisch-palästinensischen Konflikt gearbeitet. Die wenigen Arbeiten und Äußerungen, die es gibt, bekräftigen dabei zumeist den antiimperialistischen Konsens.

Dem 7. Oktober misst Grosfoguel keinen besonderen Stellenwert zu; das Recht auf Selbstverteidigung gelte »im internationalen Recht nicht für Kolonisierer und genozidale Kriminelle«.

Die Einordnung des israelischen Staats als »Kolonialmacht« ist in der antiimperialistischen Linken gängig. Die Rede vom »Siedlerkolonialismus« unterstellt Ähnlichkeiten bei der Staatsgründung Israels mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten in Afrika und Lateinamerika, die historisch kaum zu halten sind. Die Shoah als zentrale politische und ethische Grundlage der Staatsgründung muss dabei ausgeblendet oder relativiert werden. Auch in Grosfoguels Text wird die industrielle Judenvernichtung nur beiläufig erwähnt, aber nicht als eine historische Zäsur gewertet, aus der Konsequenzen erwachsen.

Dem 7. Oktober misst Grosfoguel ebenfalls keinen besonderen Stellenwert zu; das Recht auf Selbstverteidigung gelte »im internationalen Recht nicht für Kolonisierer und genozidale Kriminelle. Es existiert nur für kolonisierte Völker und Opfer von Genoziden.« Die Juden sind damit nicht gemeint.

Grosfoguels Tirade geht weit über die antiimperialistische Argumentation hinaus. Er richtet sich nicht nur gegen Israel als vorgebliche Kolonialmacht, sondern bekennt sich auch zu dem, was die islamistischen Feinde Israels als ihren antikolonialen Kampf bezeichnen. Die in London ansässige Islamic Human Rights Commission, auf deren Website sein Text veröffentlicht wurde, ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich dem Kampf gegen »Islamophobie« und Menschenrechtsverletzungen widmet, aber auch dem Thema »Dekolonialität«.

»Gaza: Das Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts«

Anders als die linke dekolonialistische Theorie in Lateinamerika beschäftigt sich die IHRC aber weniger mit den kulturellen Effekten des europäischen Kolonialismus und der eurozentrischen Wissensproduktion. Im Fokus stehen vielmehr aktuelle Kampagnen, die das Leben von Muslim:innen in verschiedenen Ländern der Welt betreffen: Es wird zum Erhalt und Ausbau von Moscheen aufgerufen und Diskriminierung in westlichen Ländern beklagt. Auch eine »propalästinensische« Kampagne gibt es sowie zahlreiche Rubriken, die sich auf Palästina beziehen.

Neben dem Aufsatz »Gaza: Das Warschauer Ghetto des 21. Jahrhunderts« finden sich dort zahlreiche weitere Beiträge Grosfoguels; neben dem surinamischen Aktivisten Sandew Hira ist er offenbar die zentrale theoretische Referenz der IHRC.

Was man dort unter Dekolonialität versteht, lässt ein Blick in den virtuellen Buchshop erahnen. Hier findet sich beispielsweise unter der Rubrik »Contemporary Struggles« neben Texten über den israelisch-palästinensischen Konflikt gleich hinter Mahatma Gandhis »Colonialism and the Call to Freedom« ein Buch mit dem Titel »The Man Who Shakes the Whole World: Part 1«. Das Werk versammelt Reden und Schriften des Imam Khumayny, besser bekannt als Ayatollah Ruhollah Khomeini. Dieser bezeichnete Israel bekanntlich als »Krebs­geschwür« und rief zu dessen Vernichtung auf. Den von ihm 1979 ­ausgerufenen al-Quds-Tag unterstützt die IHRC alljährlich.

Eine Distanzierung davon sucht man bei Grosfoguel vergeblich. Das Problem ist aber nicht die fehlende Abgrenzung von einem einzelnen Buch oder Autor, sondern zur Ideologie der islamistischen Mobilisierung. Denn darin sieht Grosfoguel nicht etwas eine Gefahr für Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Geschlechtergerechtigkeit und andere emanzipatorische Errungenschaften. Im Gegenteil, der Islamismus erscheint als Bündnispartner im Kampf gegen »den Westen«.

Anbiederung an den Islamismus

Auch der argentinische Literaturwissenschaftler und dekolonialistische Theoretiker Walter Mignolo hat sich in seinem Buch »Epistemischer Ungehorsam« positiv auf eine islamisch-arabische Tradition berufen. Dabei behauptete er in einer Nebenbemerkung, Khomeini sei einer von verschiedenen Denkern gewesen, die in den sechziger und siebziger Jahren »die Dekolonialität klar erkannt« hätten. Während die Bemerkung bei Mignolo aber weder erklärt noch vertieft wird, zieht Grosfoguel aus seiner positiven Islam-Referenz Konsequenzen.

In einer Videobotschaft von 2020, die ebenfalls auf der IHRC-Website zu finden ist, lobt Grosfoguel die Islamische Republik für ihr »couragiertes Handeln« und ihre »Solidarität«, nachdem der Iran eine Öllieferung an Venezuela geschickt hatte. Beide Länder litten schließlich unter dem Embargo des US-Imperialismus. Die Anbiederung an den Islamismus spiegelt sich auch in Grosfoguels Haltung zur Hamas. Anstatt sich vom Islamismus abzugrenzen, spielt Grosfoguel die Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 systematisch herunter. Die Hamas habe »keine zivile Bevölkerung attackiert«, heißt es in dem zitierten Text, vielmehr sei Israel verantwortlich für die meisten zivilen Opfer des Hamas-Angriffs.

Was von einem »Frieden« zu erwarten ist, der vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Vorstellungen der iranischen Mullahs, der Hizbollah im Libanon und der Houthis im Jemen gezimmert werden soll, mag man sich lieber nicht ausmalen.

Die von Israel hinsichtlich der getöteten Zivilist:innen in Umlauf ­gebrachten »fake news« (Grosfoguel) dienten nur dazu, die Hamas zu delegitimieren. Kein Wort zur islamistischen Ausrichtung der Organisation, zum Ziel der Vernichtung Israels in ihrer Charta, zur Politik des Jihad und zum reaktionären Frauenbild. Grosfoguel setzt vielmehr seine po­litischen Hoffnungen auf die »Achse des Widerstands«, die Israel permanent ins »Kreuzfeuer« nehme, »ausgehend von Gaza, dem Libanon, Syrien, Irak und Jemen«.

In dieser Vision wird der Staat Israel schließlich zerstört werden: Weil die Zweistaatenlösung obsolet sei, »werden wir einen Staat Freies Palästina mit verschiedenen Glaubensrichtungen und Nationen sehen, die miteinander in Frieden leben«. Was von einem solchen »Frieden« zu erwarten ist, der vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen Vorstellungen der iranischen Mullahs, der Hizbollah im Libanon und der Houthis im Jemen gezimmert werden soll, mag man sich lieber nicht ausmalen.

Vom Antiimperialismus ist hier nur noch der Hass auf den Staat Israel als Verbündetem des »US-Imperialismus« geblieben. Von der Perspektive auf Befreiung, getragen vom Bemühen um neue Formen emanzipa­torischer Praxis, ist unter den Vorzeichen einer reaktionären und regressiven Religionspolitik nichts mehr übrig. Im Gegenteil, in der Allianz mit dem Islamismus macht sich die dekolonialistische Theorie nicht nur zum Sprachrohr antisemitischer Ideologie und menschenverachtender Praxis, sie verrät auch den eigenen Anspruch auf eine gerechte Welt.