Zehn Jahre nach dem Völkermord ist die Situation der Yezid:innen im Irak miserabel

Zwischen den Fronten

Ein Gutachten der NGOs Pro Asyl und Wadi über die Lage der Yezid:innen im Irak stellt die miserablen Lebensbedingungen dar, unter denen sie zehn Jahre nach dem Völkermord durch den »Islamischen Staat« leben. Zudem fordert es einen generellen Abschiebestopp in den Irak.

Vor fast genau zehn Jahren stürmte die Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) das Siedlungsgebiet der ­yezidischen Minderheit um den Gebirgsstreifen Jabal Sinjar an der irakisch-syrischen Grenze. Die irakische Regierung erwies sich als unfähig ­einzugreifen und auch die Peshmerga der Regionalregierung der Autonomen Region Kurdistan verschwanden praktisch über Nacht. Der Schutz der Yezid:innen stand auf niemandes Prioritätenliste.

Wer nicht rechtzeitig floh, wurde meistens erschossen, insbesondere alle Männer. In einigen Fällen sollen Yeziden auch lebendig begraben worden sein. Schätzungsweise 7.000 Frauen und Mädchen wurden als Sklavinnen entführt und anschließend als Ware gehandelt. Hilfe erhielten die Yezid:in­nen nur von der Arbeiterpartei Kur­distans (PKK) und den Volksverteidigungseinheiten (YPG) des syrischen PKK-Ablegers PYD. Nach anfänglichem Zögern griffen zudem die USA aus der Luft in die Kämpfe ein.

Am 19. Januar 2023 erkannte der Deutsche Bundestag den Völkermord an den Yezid:innen an. In dem Beschluss heißt es: »Die Diaspora ist Teil unserer Gesellschaft mit all ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Der Deutsche Bundestag wird sich mit Nachdruck zum Schutz êzidischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen.« Einen rechtlichen Schutz beinhalteten diese schönen Worte aber keineswegs. Und dann kochten AfD und Union die Debatte über angeblich »300.000 vollziehbar ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber« hoch.

Die Mehrzahl der aus Sinjar vertriebenen Yezid:innen lebt auch nach zehn Jahren noch in Flüchtlings­lagern im irakischen Kurdistan – die Zahlen schwanken zwischen 200.000 und 280.000 Menschen.

In Wirklichkeit ist die Zahl niedriger, außerdem haben über 200.000 der betroffenen Personen eine Duldung. Am Ende kam der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg auf eine Zahl von 51.000 Ausreisepflichtigen. Es gibt vielfältige Gründe, warum eine Abschiebung nicht möglich ist, beispielsweise weil es keine Flugverbindung nach Damaskus gibt. Betroffene haben auch noch Aussicht auf eine Duldung. Trotzdem versprach Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober im Spiegel Abschiebungen »im großen Stil«. Der sonst oft schweigsame Kanzler machte Abschiebungen damit verbal zur Chefsache.

Eine große Menge von Personen, die man zur Ausreise zwingen könnte, gibt es aus rechtlichen und praktischen Gründen gar nicht. Umso gnadenloser handelt man in Fällen, in denen die Abschiebungen möglich ist. Davon betroffen sind unter anderen Yezid:in­nen in Deutschland, da das Bundesinnenministerium nicht mehr von einer Verfolgung von Yezid:innen im Irak ausgeht.

Nur die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Thüringen haben einen temporären Schutz für Frauen und Kinder verfügt. Dieser ist auf sechs Monate begrenzt und kann nicht verlängert werden. Was gut gemeint ist, ist für die Betroffenen zynisch. Auch wenn man einen besonderen Schutz für Frauen und Kinder befürworten kann, so darf das doch nicht heißen, dass es egal ist, was mit Männern geschieht. Außerdem werden auf diese Weise Familien auseinandergerissen.

Zweifel an Persepktive der Yezid:innen im Irak

Ein Gutachten der NGOs Pro Asyl und Wadi vom April »Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak« äußert Zweifel daran, dass die Yezid:innen dort auf lange Sicht überhaupt eine Perspektive haben. Der Angriff des IS war nur das bisher letzte Glied in einer langen Kette von Verfolgungen, die bereits dazu geführt haben, dass die yezidische Minderheit in der Türkei und Syrien so gut wie nicht mehr existent ist. Die sprachlich überwiegend der kurdischen Bevölkerung zuzurechnenden Yezid:in­nen sind eine Religionsgemeinschaft, die von den Muslimen nicht als sogenannte Buchreligion wie sie selber, Christen und Juden anerkannt wird und damit in den Augen gläubiger Muslime keine Existenzberechtigung hat. Dazu hält sich weiter hartnäckig das Gerücht, dass Yezid:innen den Teufel anbeten.

Diese reagieren auf die feindliche Umwelt, indem sie nur in Gruppen siedeln, vorzugsweise an abgelegenen Stellen wie dem Sinjar-Gebirge (kurdisch: Shingal). Doch mittlerweile ringen im Sinjar verschiedene Mächte miteinander. Die Grenzen des Gebiets sind zwischen der kurdischen Regionalregierung und der Zentralregierung umstritten. Die PKK hat hier dank ihrer Hilfe für die Yezid:innen Einfluss gewonnen: Der Großteil der Yezid:innen des Sinjar konnte damals durch einen von Kämpfern der PKK und der YPG freigehaltenen Korridor ins kurdische Gebiet Nordsyriens fliehen und über die Türkei zurück in den Irak gelangen, in das kurdische Autonomiegebiet, das östlich des Sinjar liegt.

Das kurdisch verwaltete Gebiet Rojava in Syrien wird immer wieder von der Türkei angegriffen, die mit ihrer Luftwaffe und mit Drohnen gezielt Menschen tötet. Auch der Iran versucht, Einfluss zu gewinnen, und es gibt eine kaum zu überblickende Zahl von Milizen, denen man nicht trauen kann. Der IS kam nicht gänzlich aus der Ferne, häufig kamen die Mörder und Vergewaltiger aus einem arabischen Nachbardorf. Die Leute sind noch immer da oder kommen nun ebenfalls zurück. Häuser und wichtige Anlagen für die Landwirtschaft in dem trockenen Gebiet wurden zerstört. Es gibt wohl Wiederaufbaupläne, aber schon wegen der unsicheren Lage sind viele nicht zurückgekehrt. Man könnte Olaf Scholz an seine eigenen Worte erinnern: »Ohne Sicherheit ist alles andere nichts.«

Deshalb lebt die Mehrzahl der aus Sinjar vertriebenen Yezid:innen auch nach zehn Jahren noch in Flüchtlings­lagern im irakischen Kurdistan – die Zahlen schwanken zwischen 200.000 und 280.000 Menschen. Dem Gutachten zufolge hat die kurdische Verwaltung an einer hohen, die Uno an einer niedrigen Zahl Interesse, deshalb und aufgrund von Fluktuation gebe es keine genauen Angaben. An andere Orte im Irak zu gehen, sei aus ökonomischen und aus Sicherheitsgründen nicht möglich. Das würde im Irak auch niemand von den Yezid:innen erwarten, die nicht überall im Land erwünscht sind. Nach dem Völkermord gebe es kein Zurück mehr: »Traumatisierte Opfer stehen Nachbar:innen gegenüber, die potentielle Täter waren – und es potentiell ­jederzeit wieder werden können.«

Der Autor des Gutachtens, Oliver M. Piecha, und der Geschäftsführer von Wadi, Thomas von der Osten-Sacken, sind Autoren der ­Jungle World; Anm. d. Red.