Yeziden protestieren in Berlin gegen Abschiebungen in den Irak

Zurück zu den Völkermördern

Seit kurzem droht immer mehr Yeziden die Abschiebung in den Irak. In Berlin führten deshalb mehr als 30 Menschen einen Hungerstreik.

Vorige Woche hungerten sie noch. Anfänglich waren es über 30 Yeziden (auch Eziden oder Êzîden), am vorvergangenen Dienstag befanden sich immer noch 15 von ihnen im Hungerstreik. Seit dem 9. Oktober hatten sie auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude in Berlin ausgeharrt. Etwa 150 weitere Menschen hielten eine Mahnwache ab, um den Protest zu unterstützen. Sie verlangten zu erfahren, warum sie oder ihre Verwandten in den Irak abgeschoben werden sollen.

Erst als am Freitag Luise Amtsberg, die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechte, die Protestierenden vor dem Reichstagsgebäude aufsuchte, beendeten sie den Hungerstreik. Über 20 Personen sollen bis dahin nach Aussage eines Anwesenden ins Krankenhaus gebracht worden sein. Der Hungerstreik hatte fast zwei Wochen gedauert.

Die yezidische Diaspora in Deutschland ist mit 200.000 Personen die größte weltweit. Sie war überrumpelt, als sich in letzter Zeit die Fälle angedrohter Abschiebungen in den Irak häuften. »Mitte August habe ich das erste Mal von der Abschiebung eines Eziden erfahren«, sagt die Rechtsanwältin Kareba Hagemann der Jungle World, »seitdem haben die täglichen Anfragen von ezidischen Schutzsuchenden aus dem Irak stark zugenommen.« Rund 50 Fälle von konkret von Abschiebung bedrohten Yeziden bearbeite ihre Kanzlei gerade.

»Mitte August habe ich das erste Mal von der Abschiebung eines Eziden erfahren, seitdem haben die Anfragen von ezidischen Schutzsuchenden aus dem Irak stark zugenommen.« Kareba Hagemann, Rechtsanwältin

Hagemann ist selbst Yezidin aus dem Sinjar-Gebirge, einer Region im Nord­irak. Dort hatte der »Islamische Staat« (IS) ab 2014 einen Genozid an den Yeziden verübt. Nach Angaben des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat der IS dort zwischen 5.000 und 10.000 Menschen getötet. 7.000 Frauen und Kinder wurden entführt, versklavt und systematisch vergewaltigt. 2.700 Personen gelten als vermisst, immer noch werden Massengräber gefunden. 400.000 Menschen wurden vertrieben. Auch Hagemann verlor eine Angehörige. Mehrere Verwandte von ihr sind bis heute vermisst. »Der Irak ist für Eziden nicht sicher«, sagt sie.

Schon seit einigen Jahren erhalten immer weniger Yeziden bei Asylverfahren Schutz – die Quote sank von über 90 Prozent im Jahr 2017 auf unter 49 Prozent im vergangenen Jahr. Doch lange wurden nur Straftäter und Gefährder abgeschoben. Das hat sich geändert. Hintergrund ist offenbar eine Vereinbarung, die Deutschland im Mai mit der irakischen Regierung getroffen hat. Über deren Inhalt wurde Stillschweigen vereinbart. Nach Angaben der »Tagesschau« handelte es sich um kein rechtlich bindendes Abkommen, sondern zunächst nur um eine inoffizielle Verabredung, die mehr Abschiebungen ermöglicht.

Solche Abkommen haben für die Bundesregierung derzeit oberste Priorität. Erst vergangene Woche sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Bundestag: »Das Wichtigste, was wir für die Zukunft brauchen, sind aber Migrationsabkommen. Das ist der entscheidende Unterschied zu vielem, was in den letzten Jahren war.« Joachim Stamp (FDP) wurde im Februar sogar zum Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen ernannt. Ein solches mit dem Irak dürfte dabei an erster Stelle stehen: Ende 2022 lebten in Deutschland etwa 35.000 ausreisepflichtige Iraker.

Erst im Januar hatte der Bundestag den Massenmord an den Yeziden im Irak als Genozid anerkannt. Holger Geisler, ehrenamtlicher Geschäftsführer des yezidischen Vereins Ezidxan International Aid, sagte der Jungle World, dies sei »wichtig für die Eziden und das eigene Gewissen« gewesen, habe aber keine rechtlichen Konsequenzen gehabt. Er verweist auf Urteile des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg im Jahr 2019, denen zufolge es »keine Gruppenverfolgungen« von Yeziden im Irak mehr gebe. Rechtlich stehe einer Abschiebung von Yeziden nichts mehr im Wege. Auch die Bundesregierung antwortete auf eine Anfrage der Linkspartei im März, dass seit 2017 »angesichts der Verbesserung der Lage in den Wohngebieten von Jesidinnen und Jesiden« nicht mehr von einer Gruppenverfolgung gesprochen werden könne.

Erst im Januar hatte der Bundestag den Massenmord an den Yeziden im Irak als Genozid anerkannt.

Doch Yeziden schweben im Irak immer noch in Gefahr. Im Mai, als die Bundesregierung gerade ihre Abschiebevereinbarung unterzeichnete, schilderte Ronya Othman in der FAZ die dortige Bedrohungslage. Zahlreiche Imame hätten damals das Gerücht verbreitet, Yeziden hätten eine Moschee angezündet, und zur Gewalt gegen Yeziden aufgerufen. Das Resultat sei eine »Welle aus Hass und Hetze« gewesen. In den sozialen Medien sollen Anschläge auf yezidische Camps und ein neuerlicher Genozid diskutiert worden sein. Das Foto eines yezidischen Mädchens sei mit Worten wie »der IS hat sie vergessen« kommentiert worden.

Auch eine Cousine von Hagemann habe in einem Camp von Binnenflüchtlingen einen Aufseher als ihren ehemaligen IS-Peiniger erkannt. »Es ist wichtig zu unterscheiden«, sagt Hagemann. »Wenn Eziden zurückgeschickt werden, gehen sie nicht nach Hause. Ihre Häuser wurden zerstört. Wenn Sie Glück haben, gehen sie in überfüllte Camps, wenn nicht, in die Obdachlosigkeit.« Und selbst wenn sie es in die Camps schafften, sei nichts gewonnen – gerade aus ihnen kamen viele nach Deutschland, »weil es dort nicht auszuhalten ist«, so Geisler.

Nachdem länger kaum in den Irak abgeschoben worden war, ist im September der erste sogenannte Sammelcharter dorthin gestartet; ein weiterer Flug sei für November geplant, berichtete die »Tagesschau«. An Bord des Flugzeugs befanden sich nach Angaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration sieben Iraker. Wie viele Yeziden darunter waren, ist nicht bekannt: Die »Volks- und Religionszugehörigkeit wird nicht verpflichtend erfasst«, sagten unter anderem das BAMF, das bayerische Innenministerium und das zuständige nordrhein-westfälische Ministerium der Jungle World. Lediglich das bayerische Innenministerium gab an, dieses Jahr mindestens vier Yeziden in den Irak abgeschoben zu haben. Die tatsächliche Zahl könne aber höher liegen.

Die Yeziden haben ihren Protest vor dem Reichstagsgebäude abgebrochen. Doch sollten sie bis zum 30. Oktober keine Antwort von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) darauf erhalten, warum trotz der schlechten Sicherheitslage so viele Yeziden in den Irak abgeschoben werden sollen, wollen sie die Aktion wieder aufnehmen. Die Mahnwache wurde vom Verein Vereinigung der Êzîden ursprünglich bis zum 24. Dezember angemeldet.

»Was mich besonders trifft«, sagt Hagemann, »ist, dass man den Leuten gesagt hat: ›Auch wenn ihr nur geduldet seid, habt ihr keine Abschiebung zu befürchten.‹ Und jetzt werden in einer Hauruckaktion so viele Personen zurückgeschickt.« Es treffe »die Schwächsten«, sagt Geisler, »die keine Lobby haben«. Der yezidische Journalist Ziyad Farman fragt im Gespräch mit der Jungle World: »Wofür ist Asyl, wenn nicht für solche Menschen?«