Der »Islamische Staat« tritt in Syrien und dem Irak wieder aggressiver auf

Die Rächer des IS

Seit Anfang des Jahres tritt die Terrororganisation »Islamische Staat« in Syrien und im Irak wieder offener und aggressiver auf. Im April kam es zu einer Reihe von Terroranschlägen.

Der Angreifer kam beim Fastenbrechen. Am 27. April habe ein der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) zugehöriger bewaffneter Kämpfer in der ostsyrischen Provinz Deir ez-Zor mindestens sieben Menschen getötet, berichtete das kurdische Nachrichtenportal Rudaw unter Berufung auf die britische NGO Syrian Observatory for Human Rights (SOHR). In der von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), dem 2015 unter anderem aus kurdischen Milizen hervorgegangen ­Militärbündnis, das mit Unterstützung der westlichen Staaten gegen den IS kämpfte, kontrollierten Stadt Abu Kha­shab habe ein Beamter abendliche ­Gäste empfangen, als der Terrorist das Feuer auf die Gruppe eröffnete. Zwei Tage zuvor hatte der IS drei syrische Regierungssoldaten in den etwas weiter westlich gelegenen Bishri-Bergen getötet.

Die Attentate gehören zu einer Reihe von Terroranschlägen, die der IS für den Fastenmonat Ramadan angekündigt hatte. Am 17. April hatte der neue Sprecher der Organisation, Abu Omar al-Muhajir, in einer Videobotschaft eine »Kampagne der Rache« ausgerufen; es handelte sich um eine Reak­tion auf den Tod des IS-Anführers Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi, der am 3. Februar bei einem Einsatz von US-Spezialkräften im Nordwesten Syriens ums Leben gekommen war. Außerdem diene die als »Schlacht der Rache für die zwei Scheichs« bezeichnete Terrorkampagne der Vergeltung für den im März getöteten Sprecher des IS, Abu Hamza al-Qurashi. Der Moment für eine neue Terroroffensive sei günstig, hieß es in dem Video, wie die FAZ berichtete, denn der Krieg in der Ukraine binde die Kräfte Russlands und der westlichen Staaten.

Den Worten folgten Taten: 42 Anschläge in neun Ländern, darunter Syrien, Afghanistan, Nigeria, Libyen und Usbekistan, habe der IS in wenigen Tagen im April für sich in Anspruch genommen, berichtete das Nachrichtenportal al-Monitor. Dieses berichtete am 20. April außerdem, der IS habe in Syrien Angriffe auf Truppen des Assad-Regimes und auf mit dem Regime verbündete Milizen intensiviert. »Der IS zielte auf Militärbaracken, Ölfelder und große Konvois der syrischen Armee. Er setzte verschiedene Waffen ein, darunter Mittel- und Kurzstreckenraketen, was bedeutet, dass er derzeit über ein reichhaltiges Waffenarsenal verfügt«, schrieb al-Monitor weiter.

Am 17. April hatte der neue Sprecher des IS, Abu Omar al-Muhajir, in einer Videobotschaft eine »Kampagne der Rache« ausgerufen.

Der IS war im März 2019 in Syrien zwar besiegt worden, aber die Organisation besteht weiter. In ihrem Kerngebiet im Irak und Syrien zog sie sich in den Untergrund zurück. Kämpfer gingen in kaum besiedelte Gebiete in der Bergregion Bishri in Syrien, den Steppenlandschaften südlich von Shingal (arabisch: Sinjar) und den zwischen den kurdischen Parteien im Nordirak und der Zentralregierung umstrittenen Regionen um Kirkuk und Khanaqin im Irak. Einige Kämpfer des IS schlossen sich der ehemals zu al-Qaida gehörenden, in Nordwestsyrien aktiven ­Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) an, andere den protürkischen Milizen in Tal Abyad und Afrin. Sowohl im irakischen Mossul als auch in Deir ez-Zor hatte sich außerdem ein IS-Unterstützernetz erhalten, dort können die Islamisten bis heute auf Sympathien in Teilen der Bevölkerung zählen.

Bereits im vergangenen Jahr häuften sich die Aktivitäten des IS. Vor allem in ländlichen Regionen im Süden des von den Syrischen Demokratischen Kräften kontrollierten Teils der Provinz Deir ez-Zor gilt es als offenes Geheimnis, dass der IS teilweise wieder offen auftritt, wenn keine SDF-Kämpfer präsent sind. Aber auch im Irak gilt das Gebiet südlich der ehemaligen IS-Hochburg Ba’aj, also südlich jener Region, in der 2014 der ­Genozid an den Yeziden verübt wurde, als Gebiet, in dem sich der IS weiterhin bewegen kann. Dabei handelt es sich um eine Steppenregion ohne feste Siedlungen, die nur von Nomaden genutzt wird und die deshalb nie unter staatlicher Kontrolle stand. In den umstrittenen Grenzregionen zwischen der Autonomen Region Kurdistan und den Gebieten der Zentralregierung kam es immer wieder von Ver­stecken aus zu kleineren Überfällen auf Zivilisten und Soldaten.

Am 20. Januar trat mit einer Gefängnisrebellion im Nordosten Syriens ge­legenen Hasakah die Stärke und Kampfbereitschaft des IS wieder offen zu Tage. Der IS koordinierte einen Angriff auf das wichtigste Gefängnis der Stadt mit 4 000 IS-Gefangenen, die gleichzeitig einen Aufstand im Inneren des ­Gefängnisses begannen, während zusätzlich auf dem wichtigen Weg zwischen Bagdad und Kirkuk ein Militärposten niedergebrannt wurde. Zehn Tage dauerten die Kämpfe in Hasakah. Etwa 400 Kämpfer konnte der IS dabei befreien. Die meisten blieben bis heute untergetaucht.

Nach der Operation in Hasakah und der Tötung des IS-Anführers al-Hashimi al-Qurashi am 3. Februar gingen im Februar die kleineren Angriffe des IS zurück. Mit 16 Anschlägen im Irak und 19 in Syrien fiel der Februar vergleichsweise unblutig aus. Im März und April waren aber wieder mehr An­griffe sowie eine territoriale Ausweitung ihrer Ziele zu beobachten.

Auch außerhalb seiner angestammten Operationsgebiete ist der IS aktiv. In den vergangenen Wochen häuften sich Angriffe der lokalen Ableger des IS in Israel am Sinai und der sogenannte IS-Khorasan verübte Anschläge in Afghanistan. Auch in afrikanischen Ländern, in Mosambik, der Demokratischen Republik Kongo, Nigeria, Niger und Mali beanspruchte der IS diverse Attacken für sich.

Die ehemaligen Hauptgegner des IS sind unter Druck geraten, weil die tür­kischen Streitkräfte seit Februar gegen die SDF in Syrien und die yezidischen Widerstandseinheiten in Shingal vorgehen, die die Türkei der PKK zurechnet. Auch die irakische Armee bekämpft in Shingal die yezidischen Milizen, die gegründet worden waren, nachdem nach 2014 weder die irakische Armee noch die nordirakischen Peshmerga die yezidische Bevölkerung vor dem IS schützen konnten. Ihre Entwaffnung und die türkische Offensive könnten die Posi­tion des IS im Irak und in der syrischen Provinz Deir ez-Zor weiter verbessern.