Kritik an Bedürfnissen muss von der Kritik am Kapitalverhältnis ausgehen

Wie die Milch ins Glas kommt

Statt bestimmte gesellschaftliche Ausformungen von Bedürfnissen zu kritisieren und so zu tun, als seien diese beliebig politisch aushandelbar, muss die Vermittlung von Bedürfnisbefriedigung durch das Kapitalverhältnis zum Gegenstand der Kritik gemacht werden.

Vor einem Jahr veröffentlichten Robin Celikates, Rahel Jaeggi, Daniel Loick und Christian Schmidt »11 Thesen zu Bedürfnissen« auf der Website »Kritische Theorie in Berlin«. Eine Auseinandersetzung mit diesen Thesen bildet den Auftakt einer Disko-Reihe über Bedürfnisse.

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Im Sommer 1942 diskutierten Mitglieder des Instituts für Sozialforschung und einige Gäste, darunter Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Günther Anders und Bertolt Brecht, im kalifornischen Exil bei mehreren Treffen über Bedürfnisse. Anlass dafür war eine Rede des damaligen US-Vizepräsidenten Henry A. Wallace im Mai desselben Jahres. Dieser hatte verkündet, es sei technologisch möglich, dass alle Menschen auf der Welt genug zu essen bekämen. Er erklärte die Verbesserung des Lebensstandards der »common people« überall auf der Welt zu einem Ziel, das mit der Niederschlagung des nationalsozialistischen Deutschlands verbunden sein solle. Der Sieg der Freiheit müsse auch »Freiheit von Mangel« einschließen: Jeder müsse jeden Tag ein Glas Milch trinken können. Die kritischen Theoretiker und ihre Gäste diskutierten daraufhin die Frage, ob im Kapitalismus eine solche Verbesserung des Lebensstandards für alle möglich sei und die periodischen ökonomischen Krisen überwunden werden könnten.

Im Winter 2023 veröffentlichten Robin Celikates, Rahel Jaeggi, Daniel Loick und Christian Schmidt auf der Website »Kritische Theorie in Berlin« des Centre for Social Critique an der Humboldt-Universität zu Berlin »11 Thesen zu Bedürfnissen«, mit denen sie eine Debatte eröffnen wollten. Sie stellten sich damit in die Nachfolge der Kritischen Theorie, die sie mit einer »emanzipatorischen Politik der Bedürfnisse« für die Gegenwart aktualisieren wollen.

Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden

Die vom bestehenden System hervorgerufenen sozialen und ökologischen Krisen zeigen in der Tat, dass Bedürfnisse und deren Befriedigung ein zentraler Punkt für die Kritik und die Überwindung der Destruktivität der Verhältnisse sind. Ging es bei der Diskussion 1942 jedoch noch darum, wie die kapitalistische Gesellschaft als System ökonomisch vermittelter Ausbeutung und Herrschaft in ihrer Entwicklung kritisiert werden kann, suchen die Autoren von 2023 mit ihrer Darstellung des Pro­blems der Bedürfnisse als Verteilungskonflikt den Anschluss an das, was sie als progressive soziale Bewegungen verstehen.

Als Ausgangspunkt wird stipuliert, der Kritik der Gesellschaft gehe es um Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden. Das ist zweifellos zutreffend. Von da aus gehen die »11 Thesen« aber in eine Richtung, die von der Kritik der Gesellschaft als objektivem System der Ausbeutung und der Herrschaft wegführt: Da sich unterschiedliche, einander teils entgegengesetzte gesellschaftliche Kräfte auf Bedürfnisse berufen, seien diese in ihrer scheinbaren Natürlichkeit zu kritisieren. Bedürfnisse ­seien »extrem variabel und formbar«. Deswegen ließen sich grundlegende Bedürfnisse nur definieren, indem man diese so allgemein fasse (Menschen brauchen Luft zum Atmen und eine gewisse Anzahl an Kalorien et cetera), dass jegliches kritische Potential verloren gehe. Jede substantiellere Bestimmung grundlegender Bedürfnisse sei umstritten und umkämpft.

Den »sozialen Prozess der kollek­ti­ven Bedürfnisbildung«, von dem in den »11 Thesen« als einem bereits real existierenden ausgegangen wird, gibt es in den bestehenden Verhältnissen gar nicht.

Das so konstruierte Problem soll nach Meinung der Autoren zu einer zentralen Einsicht der Kritischen Theorie zurückführen. Diese bestehe darin, dass Bedürfnisse nie einfach gegeben, nicht unmittelbarer Ausdruck der Natur, sondern immer gesellschaftlich vermittelt seien und umstrittenen Interpretationen unterlägen. Da sie aus historischen Prozessen hervorgingen, selbst im Zentrum politischer Kämpfe stünden und daher nicht objektiv bestimmbar seien, könnten sie auch nicht als Anknüpfungspunkte für soziale Kämpfe dienen. Eine emanzipatorische Politik der Bedürfnisse gehe deshalb nicht von Bedürfnissen aus, die außerhalb der Politik geformt würden, sondern politisiere die Bedürfnisse und unterwerfe sie einem Prozess der politischen Formierung, der selbst transformativ sei und auf die Überwindung bestehender Herrschafts- und Ausbeutungsformen ziele.

Die »11 Thesen« verfehlen damit die Kritik der gesellschaftlichen Objektivität, weil in ihnen ein analytischer Schritt fehlt, der für die Kritik, die Marx und der Kritischen Theorie eigen war, entscheidend ist. Für diese Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft war die Einsicht grundlegend, dass es im Kapitalismus nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um die Produktion zur Erzielung von Mehrwert geht. Diese grundlegende Verkehrung, in der alles, Menschen und Natur, zum Mittel des Zwecks der Mehrwertproduktion wird, muss der Ansatzpunkt der Kritik sein. Das ist die gesellschaftliche Form der Vermittlung der Bedürfnisse, auf die es der Kritischen Theorie ankommen muss, denn diese entscheidet darüber, welche Bedürfnisse überhaupt befriedigt werden.

Das ist auch der springende Punkt in Adornos »Thesen über Bedürfnis« (1942), die er bei einem der Treffen vortrug. Der bestehende Mangel, die Leiden und die nicht befriedigten Bedürfnisse sind auf dieser Welt so offensichtlich, dass eine Unterscheidung von wahren und falschen Bedürfnissen in dieser Gesellschaft irrelevant ist. Der soziale Zusammenhang wäre in einer Weise zu organisieren, die dieses Leiden dauerhaft beendet. Das verlangt eine völlig andere Form der Vermittlung, die die Menschen zum Zweck der Produktion macht, statt die Produktion zum Zweck der Menschen, der sie nur als Mittel dienen.

Alle Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung von der Vermittlung durch den Warentausch abhängig

Die Kategorien Mangel und Leid, die Adorno verwendet, weisen auch darauf hin, dass die Natur, die im sozialen Begriff des Bedürfnisses enthalten ist, entscheidend bleibt. Menschen haben als Naturwesen bestimmte Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen. Die Form, in der diese Bedürfnisse befriedigt werden oder auch unbefriedigt bleiben, ist sozial oder gesellschaftlich vermittelt und historisch verschieden, aber diese Bedürfnisse selbst sind substantiell gegeben und entstehen nicht erst in historischen Prozessen.

Die Menschen sind an das Kapitalverhältnis gebunden, weil nur vermittelt durch die Waren- und Wertform die Befriedigung ihrer grundlegenden Bedürfnisse möglich ist. Der ökonomische Zwang des Kapitals liegt in der Unmöglichkeit begründet, die grundlegenden Bedürfnisse anders als über die Waren- und Wertform zu befriedigen. Solange alle Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung von der Vermittlung durch den Warentausch abhängig sind und von diesem bestimmt werden, geht deshalb auch der in den »11 Thesen« geforderte Versuch, falsche und wahre ­Bedürfnisse zu unterscheiden, am eigentlichen Problem vorbei.

Wenn postuliert wird, die Befriedigung von Bedürfnissen im Kapitalismus sei »immer die Befriedigung der Bedürfnisse der einen auf Kosten der Bedürfnisse der anderen, auf Kosten derjenigen Bevölkerungsgruppen, deren Bedürfnisse nicht zählen«, wird das Pro­blem der unbefriedigten Bedürfnisse als ein Problem der ungerechten Verteilung und falscher Bedürfnisse aufgefasst, die auf Kosten anderer befriedigt würden. Statt das Problem der gesellschaftlichen Verkehrung und die Form der Vermittlung, die im Kapitalverhältnis begründet sind, zu benennen, wird die Kritik bestimmter Bedürfnisse gefordert.

Irrationaler Prozess

Um die Frage der Notwendigkeit von Bedürfnissen kann es jedoch sinnvollerweise erst dann gehen, wenn die gesellschaftlich produzierte Not beendet ist. Es gibt in den bestehenden Verhältnissen gar keinen »sozialen Prozess der kollektiven Bedürfnisbildung«, von dem in den »11 Thesen« aber als einem bereits real existierenden ausgegangen wird. Der Prozess der Produktion und der Befriedigung von Bedürfnissen unterliegt vielmehr der gesellschaftlichen Vermittlung durch das Kapitalverhältnis und ist daher irrational.

In den bestehenden verkehrten Verhältnissen kann es nicht um »eine egalitäre Neuordnung der Bedürfnisbefriedigung« und um »eine radikaldemokratische Bedürfnispolitik, in deren Mittelpunkt die freie und gleichberechtigte Teilhabe aller an den Prozessen der Bedürfnisbildung steht« ge­hen, sondern nur um eine grundlegende Neugestaltung dieser Verhältnisse.

Soll das Zustandekommen von Bedürfnissen kritisiert werden, so muss dieses als Ganzes irrationale und nicht der kollektiven Selbstbestimmung unterliegende Verhältnis kritisiert und überwunden werden. Die Kritik der gesellschaftlichen Verkehrung und der Form der gesellschaftlichen Vermittlung durch das Kapitalverhältnis ist die einzige Form, in der Bedürfnisse poli­tisiert und sie einem Prozess der politischen Formierung unterworfen werden können. Das ist der ganze Sinn von Adornos »Thesen über Bedürfnis«: Erst wenn die notwendigen Bedürfnisse in einer klassenlosen Assoziation, die nicht mehr von der Produktion für den Mehrwert als Zweck bestimmt wird, befriedigt werden, stünde das Verhalten zur Welt nicht mehr unter dem Zwang, diese zur Verwertung zuzurichten.

In den bestehenden verkehrten Verhältnissen kann es also gar nicht um »eine egalitäre Neuordnung der Bedürfnisbefriedigung« und um »eine radikaldemokratische Bedürfnispolitik, in deren Mittelpunkt die freie und gleichberechtigte Teilhabe aller an den Prozessen der Bedürfnisbildung steht« ge­hen, wie es in der letzten der »11 Thesen« heißt, sondern nur um eine grundlegende Neugestaltung dieser Verhältnisse. Dazu bedarf es einer anderen Form der sozialen Vermittlung, die die gesellschaftliche Verkehrung und die Verselbständigung der Vermittlung gegen die durch es Vermittelten beendet und durch kollektive Selbstorganisation von Produktion, Reproduktion und Verteilung überwindet. Die Objektivität des gesellschaftlichen Prozesses ist nur durch die Selbstorganisation der Menschen als Produzenten zu beenden und zu überwinden. Erst dann wäre es möglich, als Assoziation freier Individuen über Bedürfnisse zu entscheiden und dadurch über die Notwendigkeit hinauszukommen, die Bedürfnisse auf der verkehrten Grundlage zu befriedigen.