Ukrainer in russischer Kriegsgefangenschaft

Russland nimmt Staatsgeiseln

Hunderttausende Tote und Verwundete, Tausende Kriegsgefangene: Die menschlichen Kosten des Krieges sind immens. Russische Gerichte verurteilen zahlreiche Kriegsgefangene zu hohen Gefängnisstrafen, so auch den ukrainischen Menschenrechtler Maksym Butkewytsch.

Wie viele Menschenleben der von Russland angezettelte Angriffskrieg gegen die Ukraine bislang gekostet hat, weiß vermutlich niemand so genau. Allein Schätzungen über tödliche Verluste bei den russischen Streitkräfte belaufen sich auf über 100.000. Hinzu kommt eine mutmaßlich bis zu doppelt so hohe Zahl von nicht mehr kampffähigen Verwundeten. Beide Seiten hätten zusammen fast eine halbe Million tote und kriegsversehrte Soldaten zu beklagen, schätzte die US-Regierung im August.

Auch über die Zahl der zivilen Opfer gibt es bislang nur Schätzungen. Zwar wird in diesem Zusammenhang oft die Uno zitiert, der zufolge vom Beginn der umfassenden Invasion bis zum 24. September dieses Jahres 9.701 Zivilisten getötet worden seien, doch sind das nur die eindeutig verifizierten Todesopfer. Die tatsächliche Zahl liege »wesentlich höher«, nimmt die Uno an, denn sie verfüge über keine ausreichenden Informationen aus Städten, die unter großer Zerstörung von Russland erobert wurden, wie beispielsweise Mariupol.

Gründlich belegt ist hingegen die am Freitag vergangener Woche veröffentlichte Zahl 37.052. Das russische oppositionelle Nachrichtenportal Mediazona durchkämmt gemeinsam mit der BBC systematisch öffentlich zugängliche Quellen auf Hinweise zu in der Ukraine ums Leben gekommenen russischen Soldaten und wertet insbesondere Beiträge von Angehörigen in den sozialen Medien, Äußerungen regionaler Behörden oder in regionalen Medien veröffentlichte Mitteilungen aus. Wenn möglich, dokumentieren ehrenamtliche Helfer:innen frisch errichtete Grabstellen auf Friedhöfen. Die Liste mit den meisten Todesfällen führen die Gebiete um Rostow, Jekaterinburg und Tscheljabinsk, aber auch die Republiken Baschkortostan und Burjatien an. Allein innerhalb der vergangenen zwei Wochen kamen 1.272 Meldungen hinzu.

Immer wieder gibt es Berichte über Folter in russischer Gefangenschaft.

Auch was die Zahl ukrainischer Armeeangehöriger in russischer Gefangenschaft angeht, halten sich offizielle russische Stellen bedeckt. Anfang Ok­tober sprach das Oberhaupt der sogenannten Donezker Volksrepublik, Denis Puschilin, in einer für Kriegspropaganda bekannten Sendung des russischen Staatsfernsehens, »Solowjow Live«, von rund 500 russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine, allerdings ohne Gewähr, da die ukrainische Seite keine Personenangaben übermittle. ­In über das ganze Land verstreuten russischen Justizvollzugsanstalten hielten sich nach Puschilins Aussagen hingegen »Tausende« ukrainischer Kriegsgefangene auf.

Am Freitag voriger Woche machte die beim ukrainischen Ministerium für Reintegration der zeitweise russisch besetzten Gebiete angesiedelte Kommis­sion, die für Gefangene zuständig ist, dazu konkrete Angaben, die interessanterweise weit unter den bisherigen fünfstelligen Schätzungen liegen. Demnach seien insgesamt 3.574 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte und 763 Zivilist:innen von Russland gefangen genommen worden. 1.953 von ihnen kamen im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei, demnach verblieben über 2.300 ukrainische Staatsangehörige in russischer Hand. Weder das Internationale Rote Kreuz noch die Vereinten Nationen haben direkten Zugang zu allen Gefangenen in Russland.

Immer wieder gibt es Berichte über Folter in russischer Gefangenschaft. Beispielsweise sagten im August ein Dutzend ehemaliger Kriegsgefangener, die bei einem Gefangenenaustausch freigekommen waren, der BBC, sie seien in Gefangenschaft in der südrussischen Stadt Taganrog bei Verhören mit Schlägen und Elektroschocks traktiert worden.

Einer der ukrainischen Gefangenen in Russland ist der Menschenrechtler und Journalist Maksym Butkewytsch. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf dem Schutz der Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen, nach 2014 setzte er sich auch für Binnenflüchtlinge in der Ukraine ein. Doch nach Beginn des großangelegten Militärangriffs Russlands entschloss er sich wider seine pazifistischen Überzeugungen dazu, sich als Soldat freiwillig zu melden. ­Im Juni 2022 geriet er in russische Kriegs­gefangenschaft. Ein Gericht in Luhansk verurteilte ihn im März 2023 zu 13 Jahren Haft unter verschärften Bedingungen. Der Vorwurf: Er soll am 4. Juni zwei Zi­vilistinnen in einem Wohnhaus in Sjewjerodonezk verletzt haben. Allerdings erfolgte die Verlegung seiner Einheit an die Front erst Mitte des fraglichen Monats.

Russische Medien hatten nach seiner Gefangennahme Aufnahmen von ihm gezeigt, die zumindest Klarheit darüber verschafften, dass er lebendig war und sich in Gefangenschaft befand. Seine Eltern erhielten eine Mitteilung darüber, dass ihr Sohn nach einem Gerichtsprozess gegen einen russischen Offizier ausgetauscht werden sollte.

Danach herrschte Funkstille bis zur Urteilsverkündung. Seit der Bestätigung des zuvor ergangenen Urteils im Berufungsverfahren vor einem Moskauer Gericht Ende August fehlt von Butke­wytsch erneut jede Spur. Längst hätte er aus der Untersuchungshaft in eine Strafkolonie verlegt werden müssen, die wiederum innerhalb einer vorgegebenen Frist eine Kontaktperson des Häftlings hätte informieren müssen. Briefe an ihn werden nicht zugestellt oder kommen mit dem Stempel »Kein Recht auf Briefverkehr« versehen an die Absenderadresse zurück. Auf den Verbleib von Butkewytsch angesprochen, erklärte der russische Regierungssprecher Dmitrij Peskow unlängst, die Strafvollzugsbehörde sei nicht verpflichtet, den Aufenthalt von Verurteilten mit hohen Haftstrafen mitzuteilen.

Dass die Behörden eigens einen Stempel haben, mit dem sie den Briefverkehr ablehnen, deutet darauf hin, dass es sich bei Butkewytsch nicht um einen Einzelfall handelt. Denn wäre dem so, hätte vermutlich ein handschriftlicher Vermerk genügt. Eine derartige Verbotspraxis gab es bisher nicht. Häftlingen wird zwar im russischen Strafvollzug die Kommunikation unter diversen Vorwänden oft erschwert, jedoch nicht grundsätzlich verboten. Allerdings dauert es auch bei russischen Verurteilten oft Wochen, bis Angehörige Kenntnis über deren Aufenthalt erhalten, da der Transport per Zug nicht selten über diverse Zwischenstationen in weit entfernte Regionen erfolgt – eine physische wie psychische Tortur.

In den ersten Kriegsmonaten gab es noch zahlreiche Gefangenenaustausche, doch wurden diese mit der Zeit seltener. Zuletzt fand am 7. August ein Austausch statt.

Wie die Chancen auf einen Gefangenenaustausch für Butkewytsch und viele weitere ukrainische Häftlinge derzeit stehen, ist ungewiss. In den ersten Kriegsmonaten gab noch zahlreiche Gefangenenaustausche, doch wurden diese mit der Zeit seltener. Zuletzt fand am 7. August ein Austausch statt und es ist unklar, ob es derzeit überhaupt Verhandlungen über eine Fortsetzung gibt.

Die russische Seite hat Dutzende Strafverfahren gegen ukrainische Kriegsgefangene eingeleitet und Gerichte haben bereits zahlreiche drakonische Urteile verhängt. Einige dieser Verfahren in Donezk endeten sogar mit lebenslänglichen Haftstrafen und 30 Jahren Freiheitsentzug, die Anklage lautete auf Mord an Zivilisten. In einem weiteren Verfahren lautete das Urteil 26 Jahre Haft; am vergangenen Donnerstag verurteilte das Oberste Gericht in Donezk einen Mann zu 25 Jahren Haft.

Seit Sommer sind 22 ukrainische Staatsangehörige, darunter acht Frauen, vor dem Militärgericht in Rostow angeklagt. Sie alle sollen dem Regiment Asow angehört haben, auch die Frauen, die während der heftigen Kämpfe im Frühjahr 2022 im Stahlwerk Asowstal in Mariupol als Köchinnen beschäftigt waren. Ihnen werden schwere Vergehen vorgeworfen, dar­unter Zugehörigkeit in einer terroristischen Vereinigung und eine versuchte gewaltvolle Machtübernahme – gemeint ist der Kampf gegen die in­ter­na­tional nicht anerkannten so­genannten Volksrepubliken in der Ost­ukraine nach 2014 –, wofür sie eine Mindeststrafe von 15 Jahren Haft erwartet, aber auch bis lebenslänglich wäre möglich.

Die Vermutung liegt nahe, dass Russland mit diesen Verfahren Verhandlungsmasse aufbaut, um wegen Kriegsverbrechen verurteilte russische Offiziere aus ukrainischer Gefangenschaft freizubekommen. Bereits im September 2022 tauschte Russland über 200 Gefangene, darunter über 100 Angehö­rige des Regiments Asow, gegen 55 Personen in ukrainischer Gefangenschaft aus. Auch der wegen des Vorwurfs des Hochverrats inhaftierte ukrainische Politiker und langjährige Verbündete Wladimir Putins, Wiktor Medwed­tschuk, wurde dabei an Russland ausgehändigt.

Russland versucht auch, ukrainische Kriegsgefangene und Deserteure anzuwerben. Ende Oktober teilte das russische Verteidigungsministerium mit, dass sich innerhalb einer Woche 54 ukrainische Armeeangehörige freiwillig ergeben hätten. Zur selben Zeit berichtete beispielsweise die russische staat­liche Nachrichtenagentur Ria Novosti darüber, dass das Freiwilligenregiment »Bogdan Chmelnizkij« in eine russischen Einheit integriert worden sei und nach dem obligatorischen Fahneneid zum Fronteinsatz entsendet werde. Dieses Regiment wurde Ende Februar aufgestellt und bestand zu dem Zeitpunkt aus rund 70 Personen, von denen, so Ria Novosti, 95 Prozent ehemalige Angehörige der ukrainischen Streitkräfte mit Kampferfahrung ­seien.