Oleksij Arestowytsch, vormals Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, fordert Verhandlungen mit Russland

Trügerische Friedensrufe

Ein ehemaliger Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Oleksij Arestowytsch, fordert Verhandlungen mit Russland und ein Einfrieren des Kriegs. Das entspricht der kriegsmüden Stimmung mancher Ukrainer – realistisch ist es nicht.

Kiew. Der großangelegte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon 21 Monate an. Auf beiden Seiten wächst die Kriegsmüdigkeit, die Zahl der Opfer steigt unablässig, doch die Front verschiebt sich seit längerem kaum. In den westlichen Staaten wächst die Zustimmung für jene, die an der Wirksamkeit und Notwendigkeit der Unterstützung für die Ukraine zweifeln. Auch in der Ukraine selbst gibt es vereinzelte Stimmen, die sich für Verhandlungen mit Russland aussprechen und damit für eine Abkehr von der ­offiziellen Position, dass es keine Gespräche mit dem Aggressor geben solle, solange dieser ukrainisches Territorium besetzt hält.

Der prominenteste unter den Vertretern dieser Position ist Oleksij Ares­towytsch, ein ehemaliger Berater des Büros von Präsident Wolodymyr Selenskyj, der in seinem jüngsten Interview mit dem deutschen Wochenmagazin Stern von einer »Pattsituation« an der Front sprach, zu Verhandlungen mit dem Kreml aufrief und Präsident Selenskyj als »Diktator« bezeichnete.

Solche Aussagen eines ehemaligen hochrangigen ukrainischen Regierungsberaters stoßen im Westen auf großes Interesse. Doch wer ist Aresto­wytsch und wie sind seine Vorschläge zu bewerten?

Arestowytsch hatte nie eine hochrangige Position im Staatsapparat inne, sondern wurde lediglich als »externer Berater des Präsidialamts der Ukraine« geführt.

Arestowytsch absolvierte die ukrainische Militärakademie und diente bis 2005 in der Armee. Danach wurde er Schauspieler in Fernsehsendungen und Werbespots. Er begann außerdem, seine Dienste als Coach anzubieten, und bot »psychologische Schulungen« an. Damals war er Mitglied der rechtsextremen Partei Bruderschaft. Einmal sprach er sogar auf einer Veranstaltung mit dem russischen rechtsnationalistischen Philosophen und Propagandisten Aleksandr Dugin. Doch war er zu dieser Zeit der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Das änderte sich in den Jahren 2013 und 2014: Revolution und Krieg veränderten die Ukraine zutiefst. Arestowytschs militärischer Hintergrund, seine Erfahrung als professioneller Schauspieler und seine Kommunikationsfähigkeiten ermöglichten es ihm, als politischer Kommentator rasch ein großes Publikum zu finden.

Er positionierte sich als russischsprachiger Patriot der Ukraine, Unterstützer des Euromaidan und Befürworter entschlossener militärischer Maßnahmen gegen die von Russland unterstützten Separatisten. Doch bereits 2017, als die patriotische Maidan-Euphorie in der ukrainischen Gesellschaft weitgehend verflogen war, sagte Ares­towytsch, dass er »seit dem Frühjahr 2014 viel gelogen« habe, um proukrainische Propaganda zu betreiben, und er nicht einmal selbst ein Patriot sei. Er kritisierte die ukrainische Gesellschaft und die Medien als »infantil« und kündigte an, sich auf »Bildungsprojekte« und Coaching zurückzuziehen.

Doch der Rückzug aus der Politik währte nicht lange. Im Jahr 2020 nahm Arestowytsch einen Posten als Berater des Büros von Präsident Selenskyj an, obwohl er diesen zuvor als »Oligarchenmarionette« bezeichnet und dessen Wähler scharf kritisiert hatte. Als jedoch die öffentliche Unterstützung für Selenskyj zurückging und einige ukrainische Unternehmer und ihre Medien in Konflikt mit dem Präsidenten gerieten, änderte auch Arestowytsch seine Position und wurde wieder Kritiker der Regierung.

Nach dem Februar 2022 traten die meisten internen Konflikte in der ukrainischen Politik in den Hintergrund. Mit seinen Videos wurde Arestowytsch der prominenteste, wenn auch inoffizielle Sprecher der ukrainischen Regierung. Sein ruhiger und selbstbewusster Kommunikationsstil passte perfekt zu den Bedürfnissen des Publikums während der ersten unübersichtlichen und traumatischen Wochen des Kriegs. Aresto­wytschs Popularität wuchs enorm, obwohl er zahlreiche falsche Aussagen ­tätigte, die im ukrainischen Internet längst zu Memes geworden sind. Bekannt ist etwa seine Prognose, der Krieg werde in »zwei oder drei Wochen« abgeschlossen sein. Arestowytsch hatte jedoch nie eine hochrangige Position im Staatsapparat inne, sondern wurde lediglich als »externer Berater des Präsidialamts der Ukraine« geführt.

Im Januar 2023 verkündete Aresto­wy­tsch, dass es sich bei einer Rakete, die in einem Lagerhaus in Dnipro einschlug, möglicherweise um ein Geschoss der ukrainischen Luftabwehr gehandelt habe. 44 Personen waren dabei ums Leben gekommen. Später nahm Ares­towytsch seine Behauptung zurück und sagte, er habe sie in überarbeitetem Zustand geäußert. Doch da hatte sie bereits enorme Entrüstung ausgelöst. Offenbar hatte die ukrainische Öffentlichkeit nunmehr kein Bedürfnis mehr nach Arestowytschs souveräner Gelassenheit: Er musste zurücktreten, äußerte sich jedoch weiterhin regelmäßig auf seinen Social-Media-Kanälen zum Krieg und zur Politik des Landes. Bald sah er auch Selenskyj wieder kritischer. Auch dies entsprach dem Wandel der öffentlichen Meinung.

In seinem Interview mit dem Stern legte Arestowytsch dar, warum er begonnen habe, Selenskyj zu kritisieren: »Das Volk ist voll mit unserer siegestrunkenen Propaganda unseres Präsidenten«, und: »90 Prozent glauben weiterhin an den Sieg und eine Rückkehr zu den Grenzen von 1991.« Er wolle sich gegen die öffentliche Meinung stellen und den verblendeten Ukrainern erklären, warum sie nicht auf die Rückeroberung aller Gebiete hoffen können. Aber schon im nächsten Satz des Interviews sagt er, dass »alle, insbesondere Soldaten und ihre Familien, verstehen, dass das derzeit unmöglich ist«.

Das zum Allgemeinplatz gewordene »Patt« an den Fronten ist in keiner Weise stabil. Es ist ein fragiles Gleichgewicht zwischen ukrainischer und russischer Armee, das jederzeit aus der Balance geraten könnte.

Sind die Ukrainer also voll von siegestrunkener Propaganda oder verstehen sie, dass ein militärischer Sieg unmöglich ist? Und zielt Arestowytsch darauf ab, das Publikum seiner Illusionen zu berauben, oder schwingt er nur wieder einmal mit dem Pendel der öffentlichen Meinung? Tatsächlich hat er sich während seiner gesamten Laufbahn stets als rigoroser Nonkonformist dargestellt, während er in Wirklichkeit den Wandlungen der öffentlichen Meinung folgte.

Arestowytsch schlägt Verhandlungen mit Russland, ein »Einfrieren« des Kriegs, die Aufhebung des Ausreiseverbots für Männer und eine unternehmerfreundlichere Wirtschaftspolitik vor. Das wollen große Teile der kriegsmüden ukrainischen Gesellschaft hören. Die ukrainischen sozialen Medien sind voll von Videos, in denen Männer gewaltsam in die Rekrutierungsbüros geschleppt werden. Gleichzeitig verlangen die Angehörigen derjenigen, die sich in den ersten Wochen des Kriegs freiwillig gemeldet haben, Erklärungen von der Regierung, wann ihre Väter, Söhne und Ehemänner an der Front abgelöst werden und nach Hause zurückkehren können. Arestowytsch und andere nutzen diese Stimmung aus und kritisieren, dass die Regierung nicht in der Lage sei, die Mobilisierung richtig zu organisieren.

Bedeutender für die ukrainische ­Gesellschaft ist die Frage der Rechte der russischsprachigen Ukrainer und Ukrainerinnen. Arestowytsch wirft der Regierung vor, sie zu verletzen. Die meisten Politiker, die vor der Invasion als Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung vor allem im Südosten des Landes auftraten, halten sich derzeit politisch zurück. Einige tun das aus Angst, wegen ihrer Verbindungen zu russischen Agenten verfolgt zu werden wie der mittlerweile nach Russland ausgetauschte Politiker und Oligarch Wiktor Medwedtschuk, der zuvor in Haft saß. Aber das Thema hat sich nicht erledigt.

Die seit langem schwelenden Konflikte über die Rolle des Ukrainischen und des Russischen in der Öffentlichkeit sind vor kurzem durch den kuriosen Fall von Iryna Farion wieder aufgeflammt. Diese ist Mitglied der rechtsextremen Partei Swoboda und erbitterte Gegnerin von allem, was mit Russland zu tun hat. Sie geriet mit der populären, als Eliteeinheit geltenden Dritten Sturmbrigade aneinander, die zu den Asow-Militäreinheiten gehört. Farion kritisierte, dass viele Mitglieder der Einheit und der Streitkräfte im Allgemeinen Russisch sprechen, und unterstellte ihnen, sie seien unpatriotisch.

Farion wurde öffentlich von vielen scharf kritisiert, sowohl von ehemaligen Asow-Mitgliedern als auch Studenten der linken Gewerkschaft Direkte Aktion (Prjama Dija). Letztere organisieren an der Universität, an der Farion als Professorin für ukrainische Philologie arbeitete, Proteste gegen sie. In deren Folge wurde Farion entlassen und ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet. Ihr wird unter anderem vorgeworfen, dass ihre versehentliche Veröffentlichung privater Informationen über einen proukrainischen Studenten auf der Krim, mit dem sie korrespondiert hatte, zu dessen Verhaftung durch die russischen Behörden geführt habe.

Sprachpolitische Konflikte sind allerdings nicht Arestowytschs Hauptthema, sondern der Aufruf zu Verhandlungen. Er behauptet, dass auch Russland den Krieg nicht fortsetzen wolle und bereit sei, die »Pattsituation« zu akzeptieren und sich mit den bisherigen Eroberungen zufriedenzugeben. Russland habe sich in die Defensive begeben, die ­ukrainische Offensive konnte sie nicht durchbrechen, also gebe es keinen Grund weiterzukämpfen.

Russland scheint diese Ansicht allerdings nicht zu teilen. Zeitgleich mit der ukrainischen Offensive in der Region Saporischschja im Sommer führten die russischen Streitkräfte große Offensiven im Norden, um Charkiw und Luhansk, durch. Auch bei Donezk haben sie ihre Angriffe nicht eingestellt. Die ukrainische Offensive kam auch deshalb nicht weit, weil die russische Armee jeden Meter Terrain heftig verteidigte und Gegenangriffe führte. Und derzeit greift Russland mit Unmengen von Infanterie und gepanzerten Fahrzeugen bei Awdijiwka an. All das zeigt, dass der Kreml nicht bereit ist, den Konflikt »einzufrieren«. Das zum Allgemeinplatz gewordene »Patt« an den Fronten ist in keiner Weise stabil. Es ist ein fragiles Gleichgewicht zwischen ukrainischer und russischer Armee, das jederzeit aus der Balance geraten könnte.

Russlands Propagandisten sprechen nicht von der Einnahme von Städten wie Bachmut oder Awdijiwka, sondern von Kiew und Odessa.

Es scheint so, als strebe die russische Regierung nach wie vor an, die ukrainische Seite so lange zu bekämpfen, bis ihre Front zusammenbricht. Russlands Propagandisten sprechen nicht von der Einnahme von Städten wie Bachmut oder Awdijiwka, sondern von Kiew und Odessa. Welche Motivation sollte Russland also für Verhandlungen haben?
Arestowytsch argumentiert in seinem Interview mit dem Stern, dass beide Seiten, auch Russland, eine Verschnaufpause bräuchten, um ihre militärische Stärke wiederaufzubauen. Dann könnte entweder ein Machtwechsel im Kreml stattfinden und die »nächste Generation der russischen Politiker wird nüchtern auf die Dinge blicken«, oder die Ukraine könne ihre Verteidigungsfähigkeit stärken, um Russland von weiteren Angriffen abzuhalten. Aber wissen auch die Russen, dass sie eine Verschnaufpause brauchen? Wenn man bedenkt, wie heftig sie in den vergangen zwei Monaten entlang der gesamten Frontlinie angegriffen haben, erscheint das fraglich.

Und warum sollten sich die Machtverhältnisse in Moskau ändern, solange Putin lebt? Wäre die Ukraine in der Lage, ihre militärische Stärke und Wirtschaft unter den Bedingungen einer beschädigten Infrastruktur, der ständigen Gefahr einer neuen Eskalation und der schwindenden Unterstützung durch die westlichen Verbündeten wiederaufzubauen?

Arestowytsch versteht das durchaus. In einem seiner Telegram-Posts schreibt er: »Ohne Garantien unserer Partner und ohne unser Programm ­einer starken Steigerung unserer Fähigkeiten ist es unmöglich, überhaupt über einen Waffenstillstand zu sprechen. Wenn die Führung der Russischen Föderation die Vorteile einer Beendigung des Krieges nicht begreift, dann werden wir kämpfen.« Aresto­wytsch erwähnte eine weitere wichtige Voraussetzung für mögliche Verhandlungen: Sicherheitsgarantien der westlichen Verbündeten. Bislang ist eine Bereitschaft, solche zu gewähren, nicht zu erkennen; es sieht auch nicht so aus, als würde die Ukraine in naher Zukunft in die Nato aufgenommen werden. Ohne die Nato-Mitgliedschaft bestehen sogenannte Sicherheitsgaran­tien nur in Zusagen über die Lieferung militärischer Ausrüstung.

Arestowytsch gibt also zu, dass Verhandlungen und selbst ein vorübergehender Waffenstillstand nur möglich sind, wenn sichergestellt wäre, dass die russische Armee bei jedem neuen Versuch, die Ukraine vollständig zu unterwerfen, entscheidend geschlagen werden würde. Diejenigen, die zum Frieden aufrufen, sprechen das nicht gerne aus, doch es ist notwendig, es zuzugeben: Wenn eine solche Kraft nicht von der Ukraine und ihren Verbündeten organisiert und aufrechterhalten werden kann, dann wäre die einzige Möglichkeit, »Frieden« in der Ukraine zu erreichen, die Übergabe des Landes an Putin. Und selbst dann bliebe die Frage offen, wie lange ein solcher »Frieden« andauern würde.