Das unmögliche Möbelhaus

Im schwedischen Städtchen Porla hat Charlotte von Mahlsdorf eine verkleinerte Kopie ihres Berliner Gründerzeitmuseums ausgestellt.

Zwei Wimpel wehen an der Villa Hamilton, dem letzten Haus vor dem Wald: gelbes Kreuz auf blauem Grund. "Die Herrschaft ist zu Hause", bedeutet dies nach alter Sitte in Porla, einem Weiler mit fünfzig Häusern drumherum, inmitten endloser Wälder. "Ist das nicht herrlich", sagt Charlotte von Mahlsdorf, "egal, aus welchem Fenster ich gucke, überall sehe ich Bäume und Grün. Als ich aus Berlin wegging, sagte mir eine Freundin: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Ich habe gesagt: Ick bin keen Baum, ich bin eine Blume, und mein' Blumentopf hab' ich immer dabei."

Am Ende einer Sackgasse, gesäumt von weißgetünchten, teils leerstehenden Villen, sechs Kilometer vom nächsten Kino und zweihundertfünfzig von Stockholm steht Mahlsdorfs Blumentopf: sechs Zimmer voller Gründerzeitmöbel sowie ihre achtköpfige Entourage, rechnet man die drei Hunde mit.

Alles scheint beim alten: Das im Juni eröffnete Sekelskiftetmuseet, das "Jahrhundertwendemuseum", ist eine verkleinerte Kopie ihres Berliner Gründerzeitmuseums, und auch die Geschichten, die CvM erzählt sind dieselben geblieben: bekannt aus Funk und Fernsehen, belegt in zig Artikeln, in Büchern und Filmen von und mit ihr sowie auf einer CD. CvM, das marktgerechte Multimedia-Event. Die Legende lebt.

Sie begleitet im leiernden Tonfall des Museumsführers durch Salons voller Fauteuils, Anrichten, Elchgeweihe (aus Ostpreußen), durch das Schlafzimmer ihrer Mutter selig, die Küche. Undsoweiter. In jedem Zimmer Uhren. Die Pendelschläge unterlegen das monotone Rezitativ, tick-tack: Mit Fünfzehn zu sammeln angefangen, weibliches Wesen im männlichen Körper, selbst wenn ich das Geld hätte, würde ich mich nicht operieren lassen, undankbares Berlin.

Die bürgerlichen Ameublements zeugen von all jenen Konventionen, unter denen Lothar Berfelde sein Leben lang litt. Geboren am 18. März 1928, ging er als Transvestit durch die Hölle des Hitlerfaschismus, gequält von seinem Vater, einem überzeugten Nazi und Sadisten, den der Junge mit fünfzehn Jahren erschlug. Der Vatermord machte die Unheilkundler auf den Jungen aufmerksam, er wurde an Dr. Robert Ritters berüchtigtes "Zigeunerforschungs"-Institut in Tübingen geschafft, das sich in den vierziger Jahren mit asozialen Jugendlichen beschäftigte. Lothar erlebte das Kriegsende im Moabiter Knast und wurde erst im Mai 1945 entlassen: Mitten im Bombenhagel irrte er durch Berlin zurück nach Mahlsdorf, um die Möbel zu retten - so die Darstellung Mahlsdorfs. Der Rest ist Geschichte: 1992 bekam Deutschlands bekanntester Transvestit das Bundesverdienstkreuz verliehen - auf den Namen Charlotte v. Mahlsdorf. CvM wirft einen Pfennig aus der Kaiserzeit in ein schrankgroßes Pianola anno 1900, und wie immer spielt es den "Traum einer Jungfrau". Abwesendes Lächeln, mit Lineal gezogen.

Der Zeitpunkt ihres dramatischen Abgangs war gut gewählt, denn kaum war sie in Schweden angelangt, fand ein Berliner Journalist heraus, daß sie für die Stasi gearbeitet hatte: Sechs Jahre lang gab sie als IM "Park" Informationen weiter - allesamt unbrauchbar. "Ich las ja keine Zeitungen", sagt sie dazu, "aber wenn die mich gefragt hätten, was Kaiser Wilhelm 1892 gemacht hat, hätte ich natürlich Bescheid gewußt." In ihre Autobiographie habe diese Episode einfach nicht mehr hineingepaßt, sagt sie dazu, das Buch wäre zu teuer geworden. So einfach ist das. Medientenor: Freispruch aufgrund von Naivität.

Aufgeklärte Bildungsbürger verlachen ihr Leben als Groschenroman, monieren ihr rückwärtsgewandtes Frauenbild, diagnostizieren Verlogenheit, Geldgier, Autismus und recherchieren investigativ, welche Episoden ihrer Autobigraphie geschönt, erfunden, erträumt sind. Und das sind viele. Es ist die Strategie "weibliche List", meint Mahlsdorf nur.

Vieles in ihren Selbstauskünften ist geschönt, erfunden, erträumt. Doch genau diese überbordende Phantasie, gepaart mit eisernem Willen, ist auch in Porla das Rezept für ihre persönliche Gründerzeit: Sie geht zu Gemeinderatsversammlungen, will den verfallenen Tanzsaal aufmöbeln, Phonographenshows abziehen und damit Busladungen voller Touristen in die Einöde locken. Sie paukt Schwedisch und will im Winter ein neues Buch schreiben - vielleicht sogar im Gründerzeitmuseum in Berlin, dessen Dachgeschoß gerade ausgebaut wird.

"Auch Kaiser Friedrich Wilhelm mußte ins Exil", sagt sie und blickt zu seiner Bronzebüste. "Wer ein nachempfindendes Gemüt hat, der weiß: Das war ein unglaublicher Sturz. Ich habe mir das Haus Doorn in Holland angesehen, das war ja kein Schloß, sondern ein Haus, und er wußte gar nicht, wo er all die Bilder aufhängen sollte. Und manchmal, wenn ich so überlege, wie ich all die Möbel aufstellen soll, denke ich an Haus Doorn. Kaiser Wilhelm hat ja von der Weimarer Republik 32 Möbelwagen mitnehmen können, das wurde ihm bezahlt. Aber die Bundesrepublik hat mir das nicht angeboten - obwohl ich keinen Krieg verloren habe."

Doch eigentlich stünde ihr eine Abfindung zu für ihre Sammlung im Schloß Friedrichsfelde, 207 000 Mark stünden ihr eigentlich zu - "Sylvie hat's ausgerechnet." Bis dahin lebt sie von ihrer Rente von 696 Mark und 52 Pfennigen.

Als die Naziskins noch Tagesthema waren, gab sie den Überfall von 1991 als Grund für ihren Umzug an. Sie habe Deutschland verlassen wegen der Undankbarkeit Berlins, sagt sie nun wahlweise. Was ihr größter Traum sei, fragte die Bild-Zeitung die Mahlsdorf, als sie am 18. April ihre Residenz bezog, und sie antwortete: Daß König Carl Gustav sie besuchen komme.

Verschämt schließt CvM die Tür ihres Schlafzimmers: Die Dienstmagd muß sich fein machen, denn es ist Sonnabend nachmittag und sie will ausgehen. Nach fünf Minuten erscheint die Mahlsdorf wieder, nun nicht als betuliche Perle, sondern als Dame. Die Schürze gegen einen schwarze Acryljacke vertauscht, mit Plastikstrass bestickt. Dann putzt sie am Südfenster der Küche ihre schwarzen Pumps. Draußen laufen die Hühner vorbei: "Hier schaue ich immer nach Süden und denke: Da ist Berlin."

Schließlich erscheint Mahlsdorf ausgehbereit auf der Veranda. Der Weg ins Zentrum des Ortes führt an weißgetünchten Sommerhäusern vorbei, Villa Benisch, Villa Steuch, jede zweite steht zum Verkauf: "För koppa". Mittelpunkt des Ortes ist der "Porla Brunn", ein Pavillon, der den Brunnen des Wasserkurortes beherbergt. Die hier ansässige Mineralwasserfirma ist königlicher Wasserlieferant. Das einstöckig-geduckte Porla Café gegenüber ist das älteste erhaltene Haus, 1875 erbaut und das Lieblingsetablissement der Mahlsdorf - abgesehen davon, daß es natürlich das einzige ist. "One Kakao please, and a Butterbrot", bestellt sie.

Mahlsdorf setzt sich ans Fenster, legt die Hände auf die Heizung und blickt durch die Vorhänge mit den blauen Schleifchen hinaus auf den Wald und das Hotel Slottet - auch so ein skurriles Raritätenkabinett vollgestopft mit Geweihen, Teppichen -, das nur öffnet, wenn sich ein Tourist hierher verirrt. Selten also. "Das Slottet ist kein Schloßhotel, das neben der Residenz steht, sondern selber ein Hotel-Schloß", schwärmt sie und gabelt flink ihr Sandwich mit Käse, Schinken, Gurken vom Teller mit dem Aufdruck "PORLA".

"Ute och hema, orla, särla - PORLA", liest die Mahlsdorf zwischen zwei Bissen eine alte Mineralwasserreklame an der Wand, "das kann ich schon verstehen. Es heißt: 'Drinnen oder draußen - morgens und abends: PORLA.'" So schwer sei die Sprache ja nicht, etwas wie urtümliches Deutsch eben: "Öppnet" heißt geöffnet, "huset" das Haus.

Die Schweden hätten den Kontakt zur Natur noch nicht verloren und auch der Sozialstaat funktioniere noch halbwegs: "Jeder hilft sich, jeder duzt sich - auch der König." Die weißen Holzhäuser mit den Säulen und Veranden erinnern sie an amerikanische Filme, in denen Colonial Style-Häuser die baumbestandene Mainstreet säumen, Pionierstädte eben, Vorposten der Zivilisation. Porla Brunn hat eine große Zukunft hinter sich, war einst ein mondäner Kurort, seit dem Dreißigjährigen Krieg berühmt für seine Heilquelle und seit dem achtzehnten Jahrhundert jeden Sommer ein Tummelplatz der Aristokratie aus ganz Europa. "Zwei von Deutschen angezettelte Kriege haben dem ein Ende gesetzt", weiß Charlotte von Mahlsdorf.

Um den "Gründerzeitlichen Geist" zu entdecken, geht die Mahlsdorf oft in den Wald. "Hier fühle ich mich als kleines Wesen", ruft sie und hangelt sich unter einer quer über den Weg gestürzten Birke hindurch.

Die Hälfte von Porla, und zwar die einst bessere, ist heute eine Geisterstadt. Nur noch die festen Basaltfundamente, verborgen zwischen Bäumen und Gebüsch, erinnern an die einstige Flaniermeile, die Strandvägen hieß, Strandstraße also. "Die Menschen jagen allen möglichen Dingen nach und denken, das ist wichtig ..." Nicht Regulatorengetick, sondern das Rauschen der Wälder untermalt jetzt ihre Allerweltsweisheiten: "Das letzte Hemd hat keine Taschen, sage ich immer. Und wenn ich durch den Wald gehe, bin ich reich; ich sehe die Häschen und Rehchen auf der Wiese und denke: Mensch, Lottchen, daß du das noch erleben darfst." Und beginnt mit ihren schwarzen Pumps zwischen dem Waldboden ein Fundament freizuscharren:

"Sieh mal, hier stand die Villa Bellevue!" Scharren, Staunen: "Da siehst du, wie schnell das Leben vorbeigeht. Hier waren die Damen mit Sonnenschirm und hier spielte das Kurorchester, und hier sind die Dienstmädchen rumgelaufen, nicht wahr, mit ihren Schürzchen. Und jetzt ist hier nichts mehr, und der grüne Wald deckt alles zu. Was haben die für Schicksale gehabt, nicht wahr: Glück in der Liebe oder nicht, Kinder oder nicht? Und wo liegen sie beerdigt? Das denke ich oft, wenn ich meine Möbel sehe. Wie schnell die Natur über alles weggeht. Wie mit 'ner kleinen Spinne oder hier so 'nem kleenen Käferchen, so ist das mit uns auch. Der Pfarrer hat völlig recht: Von Erde genommen, zu Erde geworden. Das ist alles irgendwie tröstlich. Ah, hier, da muß der Eingang gewesen sein", ruft sie, inspiziert ein Fundament. "Da muß ich noch einmal mit Gummistiefeln reinkrabbeln."

Die "wunderbare Aussicht" am Waldrand weist auf einen kahlen Torfstich, und was Charlotte "Wasserfall" nennt, ist bloß ein braunes Rinnsal. Wer ihre Geschichten auf Fakten reduziert, verpaßt das Beste: Ihre ansteckende Begeisterung, die das Oberspießige schrill erscheinen läßt: "Ich stelle mir hier immer vor", sagt sie am Wasserfall, "wie die Damen promeniert sind mit ihren Korsetts, und die Herren holten sie mit Kutschen ab. Und die sind hier nicht nur spazieren gegangen: Der Wald war dicht. Und dit waren auch nicht nur HeteropärchenÖ" Plötzlich Knacken, Rascheln - sie ist vom Pfad abgebogen und bricht nun ungestüm durch das Unterholz. "Wir gehen jetzt meinen Lieblingsweg zurück zum Haus." Sie bahnt sich den Weg mit ihrer Handtasche: "Lieber zerrissene Strümpfe als nicht den Wald genossen." Und steigt die Freitreppe zu einem alten Fundament empor: "Mal sehen, ob die Herrschaften zu Hause sind, ich klopfe mal an." Warten. "Ja, klar, die Bewohner sind da", sagt sie, "aber es sind keine Menschen."

Es scheint, als fasziniere Lottchen weniger die Gründerzeit als deren Untergang. Nicht die Imponiermöbel und strengen Konventionen selber, sondern ihr hinausgezögerter Verfall. Sie würde wohl über diese Unterstellung nur lächeln: zu spitzfindig. Also weiter. Schließlich taucht die Villa Hamilton jenseits der Kiefernstämme wieder auf. "Ist er nicht süß, mein kleiner Kasten", sagt Lottchen und kämpft sich durchs Gebüsch auf den Rasen, ein wildes Kind im Omakostüm. Und die Wimpel am morschen Vordach zeigen: Herrschaft ist daheim.

Sekelskiftesmuseet, Porla Brunn HB, Villa Hamilton, 69591 Laxo