Die Revolution der Stubenhocker

Zwischen Manga und Anime, Computerspiel und Sammelleidenschaft wächst in Japan eine neue Subkultur heran - die Otaku.

Sie sind häßlich und tragen Brillen. Sie sitzen vor ihren Fernsehern und Computern, sammeln Comics, Zeichentrickfilme, Plastikmonster und Mädchenpuppen und kümmern sich nicht weiter um die Außenwelt. Sie werden Otaku, Maniaks, genannt. Als neue Erscheinung der japanischen Jugendkultur wurden sie anfangs geringgeschätzt und verlacht, doch allmählich fragen sich die japanischen Eltern, Lehrer und Politiker, wohin das alles führen soll. Manche fürchten gar, daß den Otaku die Zukunft gehört.

Die westliche Gesellschaft kann über einen Mangel an komischen Käuzen, Stubenhockern, Spinnern, Fans, Freaks oder anderen Besessenen nicht klagen. Doch die japanische Gesellschaft, die sich auf ihre Einheitlichkeit so viel zugute hält, sieht in den jugendlichen Verweigerern zunehmend einen ernsthaften Angriff auf ihre Ideale. "Der Nagel, der aus dem Brett ragt", warnt das japanische Sprichwort, "wird eingeschlagen." Die Otaku aber ragen nicht hervor:

Sie ziehen sich einfach zurück. Sie gründen nicht, wie es gesellschaftlich vorgeschrieben ist, mit Mitte Zwanzig eine Familie und dienen auch nicht als Angestellte einer Firma. Sie verschwinden in den medialen Parallelwelten, die eigentlich nur als zeitweilige Möglichkeiten von Spiel, Spaß und Erholung vorgesehen waren.

So sehr die Tokioter der Arbeit ergeben sind, so hemmungslos nutzen sie auch das offiziell sanktionierte Freizeitangebot. In den Tokioter Vergnügungsvierteln Roppongi und Kabukicho, die tagsüber nahezu ausgestorben scheinen, schlingern abends die Geschäftsleute zwischen Pachinkokugeln, Hostessen und Reiswein. Die bunt-lärmenden Spielsalons freilich sind auch tagsüber schon stark frequentiert - von Schülern und Schülerinnen, die ungeachtet ihrer strengen Uniformen hier ihren pubertären Träumen nachjagen. Auf virtuellen Autobahnen liefern sie sich mörderische Verfolgungsjagden, als unbesiegbare Agenten erschießen sie reihenweise ausländische Finsterlinge und schließen zu guter Letzt eine dankbar quietschende Jungfrau in die Arme. Mit zusammengebissenen Zähnen stehen die Spieler vor den lärmenden Maschinen. Ihr Spiel ist harte Arbeit. Die virtuellen Welten sind so verdichtet und durch Aktion aufgeladen, daß sie viel realer scheinen als die trübe Wirklichkeit. Wenn sie einige Stunden gespielt haben, blinzeln die jungen Tokioter etwas ungläubig in das Licht des Nachmittags, der leer und langweilig scheint. Glücklicherweise können sie auch zu Hause ihren Computerspielen nachgehen oder in die ähnlich aufregenden Welten der Manga oder Anime eintauchen.

Vor wenigen Jahren schien die Tokioter Welt noch in Ordnung zu sein. Im Yoyogi-Park trafen sich an jedem Sonntag vom Morgen bis zum frühen Nachmittag die Jugendlichen, um Rock'n'Roll zu tanzen. Dafür schlüpften sie aus ihren vorgeschriebenen Schuluniformen und legten eine Rockerkluft an, die vom Entenschwanz über die Lederjacke bis zum spitzen Schuh nichts zu wünschen übrig ließ. Zur atemberaubend lauten Musik bestimmten die herausgeputzten Vortänzer die Schrittfolgen ihrer Gruppen. Die braven Tokioter Einwohner standen am Rande und genossen das Spektakel, das pünktlich am frühen Abend sein Ende fand. Die Rock'n'Roller schlüpften wieder in ihre Schuluniformen. Sie hatten sich ausgetobt. Sie hatten sich gezeigt und waren bewundert worden. Das genügte ihnen. Bis auf den heutigen Tag treffen sich die Rock'n'Roller sonntags am Yoyogi-Park und gelten längst als Touristenattraktion.

Die heutigen Jugendlichen finden im zeitlich begrenzten Ausstieg keine rechte Freude mehr. Sie bevölkern lieber auch an allen anderen Tagen die Zwischenreiche, die von der japanischen Spielindustrie angeboten werden. Ausbildung und Arbeit sind ihnen dazu keine ernstzunehmenden Alternativen. Diese jugendlichen Verweigerer leben in Nischen, die die einst so geschlossene und normierte japanische Gesellschaft zunehmend bietet.

Man findet die Otaku gelegentlich in den Tokioter Manga-Cafés, in denen man zur Tasse Kaffee eine Dreiviertelstunde Lesezeit für die ausliegenden Comics erhält. Nach Ablauf der Zeit wird man höflich, aber bestimmt um den Platz für die nachrückenden Gäste gebeten. Doch die japanischen Comics werden überall in der Stadt gelesen, in der U-Bahn, an der Kreuzung, im Autostau. Und sie werden von allen Leuten gelesen, von gestreßten Angestellten und braven Hausfrauen und kichernden Schulmädchen. Kurz gesagt: Wenn die Tokioter nicht telefonieren, dann lesen sie Comics.

Jährlich werden über zwei Milliarden Comic-Zeitschriften und -Bücher in Japan verkauft. Ein Drittel aller japanischen Druckerzeugnisse sind Manga. Die monatlich erscheinenden Hefte sind so dick wie Telefonbücher, meist auf schlechtem Papier gedruckt und für den schnellen Konsum bestimmt. Oft findet man die ausgelesenen Hefte in den Ablagen der U-Bahn. Die Vielfalt ist überwältigend; es gibt Manga für Mädchen, Manga für Jungen, Manga für Frauen, Horror-, Porno-, Satire- und Nonsense-Comics. Sie füllen die Zeitschriften-Regale der Läden und werden dort schon im Stehen von den Lesern verschlungen. Die Manga gelten nicht, wie in den westlichen Gesellschaften, als Kinderkram oder jugendgefährdend, sondern sie haben mittlerweile einen selbstverständlichen Platz in der Massenkultur.

Anders als die amerikanischen, belgisch-französischen oder deutschen Comics bestechen die japanischen Manga durch ihre seitenlang visuelle, fast sprachlose Gestaltung. Die ganze Seite ist wichtiger als das einzelne Panel. Dieser Bilderfluß fördert, vor allem bei den aktionsbegierigen männlichen Jugendlichen, die rasante Lesegeschwindigkeit - sie schaffen etwa 16 Seiten pro Minute und gehen im Sog der angedeuteten Stimmungen völlig auf. Die Manga werden von rechts nach links und von oben nach unten gelesen, die einzelnen Panels müssen vom Leser aber zuweilen auch wiederholt werden, so daß sich ingesamt eine kreisförmige Lektüre ergibt. Dieser dynamischen Form entsprechen die oft gewalttätigen Geschichten in den Jungen-Manga; die Mädchen-Manga bieten weiche, fließende Bilder und entsprechend innerliche, gefühlsbetonte Geschichten.

Aus der unübersehbaren Zahl der Manga-Zeichner seien hier nur drei Meister herausgehoben. Tezuka Osamu, der "Gott der Manga" und oft als "japanischer Walt Disney" bezeichnet, hat in seinem Leben etwa 150 000 Seiten gezeichnet, 700 Manga veröffentlicht und 60 Zeichentrickfilme geschaffen, von denen im Westen zumindest "Astroboy" bekannt wurde. Tsuge Yoshiharu hat mit seinen lyrischen Comics die Manga in die Nähe der etablierten Künste gerückt. Otomo Katsuhiro schuf mit dem SF-Manga "Akira" Mitte der achtziger Jahre eine beeindruckende Endzeitvision, die auch als Anime längst zu den Klassikern des Genres zählt. Im Vergleich zu den amerikanischen Comics fällt an den japanischen Manga auf, daß sie die strikte Zweiteilung in Gut und Böse vermeiden, die Helden in gefährdeter und gebrochener Weise zeigen und auch den Schurken eine eigene Moral zugestehen. Überhaupt sind die Manga strikt den japanischen Kulturcodes verpflichtet, was dem westlichen Leser die Lektüre zuweilen erschwert, sie aber auch reizvoll machen kann.

Einen lohnenden ersten Einblick in die Subkultur der Manga bieten die "Comic-Markets", die an manchen Wochenenden in Tokio und anderen japanischen Großstädten abgehalten werden. In riesigen Hallen drängen sich dann Zehntausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene an den ordentlich zusammengestellten Karees aus Tischen vorbei, auf denen Stapel und Berge von Manga zum Verkauf ausliegen. Die Verkäufer sitzen auf Klappstühlen an der Innenseite, während die Käufer mit begehrlichen Blicken an den ausgebreiteten Schätzen vorbeiflanieren, in Kisten kramen oder sich stehenden Fußes der Lektüre ergeben. Hier sind nicht nur die gängigen Titel erhältlich, sondern auch Fan-Magazine und Untergrund-Erzeugnisse, die sich um die japanischen Zensurbestimmungen nicht scheren. Viele der Besucher haben die Kleidung ihrer Lieblingsfiguren angelegt und promenieren nun als Monster, Außerirdische, Tiere, Motorradhelden, Soldaten mit Stahlhelmen. Andere treten als uniformierte Mädchen mit Selbstladern auf, Jungs sind als Prinzessinnen verkleidet.

Längst sind auf diesen Märkten nicht mehr nur Manga erhältlich, sondern auch Anime, die japanischen Zeichentrickfilme, die oft auf erfolgreichen Manga-Serien basieren. Entsprechend ist die jeweilige Fan-Gemeinde kaum zu unterscheiden. Anime bieten meist halbstündige Serien-Folgen, die für das Fernsehen, manchmal auch für den eigenständigen Video-Markt produziert werden; es gibt mittlerweile auch "abendfüllende" Anime. Als Klassiker ist hier wiederum "Akira" von 1988 zu nennen, der auch im Westen und auch außerhalb der Comic-Szene Anerkennung gefunden hat. Die Hauptrolle in diesem Film spielen weniger die jugendliche Motorradgang und das Militär, das an Kindern und Jugendlichen parapsychologische Experimente vornimmt, sondern vielmehr die Stadt Neo-Tokyo im Jahr 2019. In verblüffend ausgetüftelten Bildern (Otaku wissen natürlich, daß in diesem Film 237 verschiedene Farben verwendet wurden) von Hochhauskomplexen, Kanalisationssystemen, Auto-Highways wird der Alptraum einer Megalopolis kurz vor dem Zusammenbruch beschworen. Das Finale wird freilich den westlichen Zuschauer noch erheblich verstören; jedenfalls bis er auch andere Anime gesehen hat. Das japanische Publikum ist an einem Happy-End offensichtlich nicht besonders interessiert, weitaus mehr Anteilnahme erregt ein tragischer Held, der im heroischen Scheitern seine Würde bewahrt oder findet. In vielen Anime finden sich ausgedehnte Sterbeszenen; ob der Held oder der Schurke stribt, ist nicht von Bedeutung. Ist hierin die Umgestaltung der japanischen Samurai-Tradition zu sehen, so finden sich in den Anime auch viele Anklänge an die shintoistischen und buddhistischen Traditionen.

Die Hauptperson von "Phantom Quest Corp." bespielsweise ist einer shintoistischen Priesterin nachempfunden, die Geister und Dämonen austreiben kann. Sie hat allerdings ganz alltägliche Hobbies: Einkaufen, Reisweintrinken und Karaoke. Morgens läßt sie sich von dreißig Weckern aus dem Schlaf klingeln, und täglich verzweifelt sie angesichts ihres Kontostandes. Ihre kleine Schwester hat ebenfalls übernatürliche Fähigkeiten: Wenn sie vor Aufregung schreit, legt sie ihre Umgebung in Flammen. Überhaupt werden den meisten Frauen in den Anime übernatürliche Kräfte zugestanden, die sie meist im Dienst der guten Sache einsetzen, manchmal aber auch, um den hübschen Schuljungen zu kriegen. Den Beziehungen zwischen den Charakteren, meist jugendlich verklemmt und schrecklich albern, gilt das Hauptaugenmerk der Anime. Dabei wird auch gern zwischen den Geschlechtern hin- und hergesprungen: Sobald Ranma in "Ranma 1/2" mit kaltem Wasser übergossen wird, wechselt er/sie das Geschlecht und treibt die entgeisterte Familie an den Rand des Wahnsinns.

Die phantastischen Möglichkeiten des Zeichentrickfilms werden im japanischen Anime voll ausgekostet. Weltraumkämpfe sind an der Tagesordnung, wobei die Ausstattung der Kampfmaschinen wie "M. D. Geist" aberwitzig übertrieben wird. Regelmäßig fallen auch Monster mit entsetzlichen Tentakeln über Jungfrauen her. Sind hier offensichtlich heimliche Jungswünsche am Werk, so fallen doch auch die zahlreichen "starken" Frauen mit schweren Waffen auf. Die Diskussion über die Zukunft der Technologie wird durchaus pessimistisch betrieben: zahllose Cyberborgs und andere Mensch/Maschine-Mixturen geraten in ernsthafte Identitätskonflikte. Die Zukunft ist eine überaus finstere und anstrengende Angelegenheit, und nach Ansicht der Otaku geht man ihr am besten aus dem Weg, indem man zu Hause bleibt und sich Anime-Videos ansieht.

Das Phänomen der Otaku ist im Westen nicht lange unbemerkt geblieben. Der französische Regisseur Jean-Jacques Beineix hat Mitte der Neunziger eine dreistündige Dokumentation über "Otaku" herausgebracht, die kürzlich - um zwei (!) Stunden gekürzt - auch im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Die Japanologin Jacqueline Berndt hat 1995 mit "Phänomen Manga" eine fundierte Einführung in die japanische Comic-Kultur vorgelegt, und in Amerika erschien kürzlich mit Antonia Levis "Samurai from Outer Space" eine reichhaltige und witzige Untersuchung zum japanischen Zeichentrickfilm. In Amerika haben diese Filme längst ihr Publikum gefunden; "Otaku" ist dort nicht, wie in Japan, ein abfälliges Schimpfwort, sondern eine Art Ehrentitel für Eingeweihte. Die amerikanischen Jugendlichen lieben diese Filme, und auch die ihnen zugrundeliegenden Comics, vor allem wegen der überraschenden Charaktere und der völlig ungewohnten Geschichtenführung. Unter diesen Fans ist es en vogue, sich am Telefon ganz japanisch mit "Moshimoshi" zu melden und während des Gespräches dauernd in korrekter Weise zu verbeugen. Umgekehrt wird mittlerweile auch von japanischen "amecomi"-Fans (eine Zusammenziehung aus american comics) berichtet. Der Austausch von Comic-Heften und Animationsfilmen mag nicht eben das sein, was Eltern und Erzieher im Sinn hatten, als sie für eine "multikulturelle Erziehung" plädierten, aber es ist ein Anfang und kein schlechter bis jetzt.

Was in Amerika und Japan populär ist, wird auch in Deutschland früher oder später begierig aufgenommen. So nimmt es nicht wunder, daß es auch hierzulande längst eine eifrige Fangemeinde gibt, die sich mit japanischen Manga und Anime beschäftigt. Wie es sich für wahre Fans gehört, wird in den einschlägigen Fan-Magazinen hitzig diskutiert, ob man die Filme im untertitelten Original oder in einer synchronisierten Fassung sehen sollte, es wird darüber spekuliert, ob Nene aus "Bubblegum Crisis" jemals einen Freund findet, und ob die kühle, intellektuelle Silia Stingray überhaupt menschlich ist. Man tauscht sich darüber aus, wie man an "neuen Stoff" rankommt, und man meldet in der Rubrik Brieffreundin: "Hi! Ich suche BGC-, Ranma, Dragonball und Sailor Moon-Fans, die eine Brieffreundin suchen." Selbstverständlich finden auch hier "Conventions" statt, auf denen sich die Fans in den Kostümen ihrer Lieblinge treffen und Trading-Cards, Poster, Filme, Soundtracks, Hefte, Games kaufen oder tauschen. Sie ähneln darin, auch wenn sie das vermutlich weit von sich weisen würden, den Star-Trek-Fans, die ja ebenfalls mit Hingabe ein Paralleluniversum bewohnen und die gewöhnliche Wirklichkeit eher für einen schlechten Witz halten.

Ein kürzlich ausgerichtetes "Anime-Festival" in zwei Berliner Kinos (auch wenn Anime zuallerletzt für Kinos gedacht sind) hatte einen derart großen Zulauf, daß einige Filme nun auch in das normale Programm aufgenommen wurden. In den hiesigen Comicläden werden immer mehr Mangas angeboten. Die alteingesessenen Fans bleiben natürlich bei ihren amerikanischen Comics, die Jungen hingegen, vor allem die türkischen Kids (die meist genau wissen, was hip ist), drängen sich in der japanischen Abteilung. Und nebenbei erfährt man hier, daß auch die koreanischen Manga exzellent sein sollen.