Wie zerronnen, so gewonnen

Die deutschen Wirtschaftsinstitute halten Börsenturbulenzen für eine konjunkturelle Randerscheinung

Im Herbstgutachten für Forschungsinstitute, mit dem jährlich der Reigen wirtschaftspolitischer Rechtfertigungen in Bonn eröffnet wird, klingt spätsommerliche Stimmung nach. Der Aufschwung werde durch den Export getragen und eine Belebung des Binnenmarkts sei unmittelbar zu erwarten. Aber auch frühherbstliche Mißstimmung: Auf dem Arbeitsmarkt reiche das voraussichtliche Wachstum von 2,8 Prozent für 1998 nicht aus, dafür hätte man sich steuerpolitisch einigen müssen. Und schließlich herbstliche Verdrießlichkeit: Ostdeutschland falle nicht nur zurück, es laufe auch Gefahr, Erreichtes wieder zu verlieren.

Die Crux liegt zweifellos in der Beschäftigungspolitik. Mit der drastisch heruntergefahrenen Arbeitsmarktpolitik gab es an der Erwerbslosigkeit nichts mehr zu bemänteln. Bei konjunktureller Belebung schrumpfte die Zahl der Erwerbstätigen von 34,4 Millionen im Jahre 1996 auf mittlerweile 33,9 Millionen (Stand: Juli 1997). Die Zahl registrierter Arbeitsloser nahm in diesem Zeitraum von 3,9 Millionen auf 4,3 Millionen zu. Da der Geist der Zeit Arbeit für teuer, anspruchsvoll und inflexibel hält, sollen Tarif-, Arbeits-, und Sozialrecht neu definiert werden. In dieser Situation hätte die Bundesregierung eine Auswertung angelsächsischer Erfahrungen durch die Wirtschaftsforscher für angebracht gehalten. Aber die beauftragten Institute konnten sich nicht einigen. Fünf waren für eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, eins blieb zurückhaltend.

Das DIW (Berlin) will nicht einsehen, daß eine Lohnsenkung zu mehr Beschäftigung führen soll. Vielmehr haben die Berliner Forscher den Verdacht, daß eine solche Politik auf Umverteilung des Beschäftigungsvolumens auf unterem Niveau hinausläuft. Ob sich aber dieser wirtschaftspolitische Streit zuspitzt, hängt nun sehr stark von Konjunktur und Wahlkampf ab. Insofern wurden die Konjunkturforscher auch immer wieder gelöchert, ob Börsenturbulenzen nicht das Gutachten zur Makulatur gemacht hätten? Wir haben mit dem Börsenboom unsere Ergebnisse nicht hochgerechnet, erklärten die Ökonomen. Warum sollen wir den Crash von unserer Prognose abziehen?

Die Frage aber lautet: Erschrak die Börse vor möglichen Krisenszenarien, oder nahm sie eine konjunkturelle Wende vorweg? Wirtschaft und Politik sind von finanzkapitalistischen Extratouren überzeugt. Volkswirtschaft und Unternehmen befänden sich in guter Verfassung, heißt es unisono. An den Börsen würden nur Übertreibungen zurückgenommen werden. Jedenfalls würden Rückwirkungen begrenzt bleiben. Investmentfonds müssen Wertberichtigungen an ihrem Aktienbesitz vornehmen, aber mit den ihnen zugeflossenen Mitteln können sie auch wieder preiswert Titel einkaufen. Zwar sind einige Konzerne um die Gelegenheit gebracht worden, durch Börsengänge Kapital abzuschöpfen - allen voran Volkswagen. Aber die um das Heimkehrer-Kapital wieder flüssig gemachten Geld- und Kapitalmärkte drücken die Zinsen. Dazu kommen neben den überbewerteten Aktienmärkten wieder Anleihen- und Immobilienmärkte zu ihrem Recht. Allerdings wies der amerikanische Ökonom John Kenneth Galbraith in International Herald Tribune darauf hin, daß die vermögensmäßigen Neubewertungen nicht ohne Folgen für Automobile, Multi-Media-Ausrüstungen und Eigentumswohnungen bleiben würden. Also: Wie zerronnen, so gewonnen?

Die Börsen in Europa und Amerika wären nur zu einem mächtigen Resonanzkörper für die in Hongkong ausgelösten Turbulenzen geworden, erklären Chef-Ökonomen von Banken und Konzernen. Südostasien müsse sich auf weniger Wachstum einstellen, der mit stabilisierten Banken und nachgeholter Infrastruktur zu verbessern sei. Auf diesen Modernisierungsbedarf haben es Siemens, Holzmann und die Deutsche Bank abgesehen. Gegen Abwertungen sicherten sie sich mit Derivaten ab, das heißt mit Optionen, ihre Produkte unabhängig von tagesaktuellen Kursen zu bestimmten Preisen zu verkaufen, und ihre Investoren ließen sie bei Hermes versichern. Die außenwirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Europa und Südostasien seien untergeordnet, beschwichtigen die Wirtschaftsinstitute. Zwar stütze sich die deutsche Konjunktur auf den Export, räumen die Konjunkturforscher ein, aber dieser spiele sich im wesentlichen zwischen den europäischen Ländern und zwischen Europa und den USA ab.

Diese Rechnung kann natürlich auch anders aufgemacht werden. Durch die Finanzkrisen sind bereits Thailand, Indonesien und Südkorea in eine Rezession gestolpert. Rücksichtslos hätten die Tigerstaaten, beschreibt der Hochschullehrer Elmar Alvater diesen Parvenü-Kapitalismus, ihre Naturressourcen in Devisenbringer verwandelt. Deren Krise trifft in erster Linie Japan, das in diesem Sommer selber von einem Konjunkturrückschlag getroffen wurde. Bis jetzt habe das japanische Finanzkapital die Stunde der Wahrheit hinausschieben können, kommentiert der Kritiker des Finanzkapitals, Robert Kurz, weil es seine Zinsen künstlich niedrig halte. In Hongkong wurde man sich nicht nur über die geplatzten Tigerträume im klaren, sondern auch über die Schwierigkeiten der Kapitalisierung in der Volksrepublik China.

Der US-Ökonom Lester Thurow interpretierte in der Los Angeles Times die Turbulenzen als "classic crisis of overcapacity". Kurz: mit der Südostasien-Krise ist der Weltwirtschaft nicht nur der entscheidende Expansionsfaktor weggebrochen, sondern die dadurch ausgelösten Kapitalbewegungen destabilisieren Währungen und Banken.

Somit spitzt sich also alles auf die Frage nach der amerikanischen Konjunktur zu. Womöglich bietet Winfried Wolf das fehlende Puzzlestück. Der PDS-Bundestagsabgeordnete geht von einer konjunkturellen Wende im nächsten Jahr aus. Auch ohne Finanzkrise könnte 1998 wieder eine internationale Rezession anstehen. Seine Argumente lauten: Der zyklische Gleichlauf der kapitalistischen Metropolen wurde Anfang der neunziger Jahre unterbrochen. Wegen Vereinigung, Golfkrieg und Immobilienkrise gingen Deutschland, USA und Japan ihre eigenen Konjunkturwege. Diese Konstellation verhalf den USA zu einer vorteilhaften Lage. Mit Südostasiens Deflation, Europas Maastricht-Politik und Japans Deregulierungsschritten seien aber die Kräfte der Synchronisation wieder gestärkt worden. Wolf sieht die Tage des US-Zyklus gezählt, weil die Kapazitätsauslastung zurückging, Intel, Coca Cola und Microsoft ihre Gewinnerwartungen nach unten revidierten und Beschäftigungsabbau ankündigten.

Sollte dies für den Börsenkrach als vorweggenommene konjunkturelle Wende sprechen, womit wir nach unserer Weltreise wieder zu Hause angekommen wären, dann hätten wir es mit einem ausgesprochenen schwachen Zyklus zu tun. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Arbeitslosensockel Krise um Krise aufgeschichtet. In diesem Zyklus ließ der Rückgang der Beschäftigung nicht einmal in der Belebung nach. Das muß natürlich den gesamten finanziellen Überbau der Haushalte und Sozialversicherungen ins Wanken bringen. Insofern bereitet nicht der Sozialstaat dem Wachstum Probleme. Es ist genau umgekehrt der Fall. Überakkumulation sei das Problem, erklärt der Sozialismus-Redakteur Joachim Bischoff. Jede neue Kapitalanlage setze die Veränderung einer alten voraus. Das gehe mit dem ständigen Überschuß an Kapital und Arbeit einher.