Mobilisierung des Angebots, keine Nachfrage

Luxemburger Beschäftigungsgipfel unter deutscher Hegemonie

Die Leitlinien der EU-Kommission, die die mittelfristigen Ziele der Arbeitsmarktpolitik definieren, sind unverbindlich geblieben. Die deutsche Regierung konnte sich auf dem Luxemburger Beschäftigungsgipfel durchsetzen und eine konkrete Festlegung und Überprüfbarkeit der Arbeitsmarktpolitik verhindern. Die 18 Millionen Arbeitslosen in der EU - das sind 10,6 Prozent aller Erwerbspersonen - werden auch weiter damit leben müssen, daß Fehler im Beschäftigungssystem und konkrete Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit nur auf ihrer, der Angebotsseite, gesucht werden.

Die EU-Kommision hatte ursprünglich eine Reduzierung der durchschnittlichen Arbeitslosenquote in der Union auf sieben Prozent und damit die Schaffung von 12 Millionen neuer Arbeitsplätze innerhalb von fünf Jahren vorgesehen. Eine Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb von sieben Jahren sollte das strategische Ziel sein. Erreicht werden sollte dieses Ziel mittels gegenseitiger Kontrollmechanismen und verbindlicher Zielvorgaben. Allerdings hatte dieser Vorschlag von vornherein nur eine moralische Dimension.

Konkrete Strafmaßnahmen, beispielsweise der Ausschluß aus der EU-Förderung, Kürzungen bei Investitionszulagen oder gar Strafgebühren für Länder, die keine oder unzureichende Aktionsprogramme zur Erreichung der Ziele auflegen, fehlten im vorgelegten Leitlinienprogramm der Kommission.

Bereits vor der Konferenz hatte es die deutsche Regierung geschafft, den Leitlinien ihre Verbindlichkeit zu nehmen. Jetzt erstellt die Europäische Kommission einmal im Jahr einen Bericht, in dem sie die jeweilige Lage auf den Arbeitsmärkten der 15 Mitgliedsländer beschreibt und die Umsetzung der Leitlinien, die in Luxemburg verabschiedet wurden, untersucht. Konkrete Zielvorgaben erfolgten nur für die Bekämpfung der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit. Die 15 EU-Regierungen sind nach den Luxemburger Vereinbarungen verpflichtet, innerhalb von fünf Jahren dafür zu sorgen, daß jedem arbeitslosen Jugendlichen innerhalb von sechs Monaten "ein Neuanfang" auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Erwachsene müssen bis zu einem Jahr warten, bis sich für sie ein Törchen auftut - bei der Berufsberatung im Arbeitsamt möglicherweise.

Bei ihnen reicht nämlich schon eine "individuelle Betreuung in Form von Berufsberatung", um die Vorgaben des Luxemburger Gipfels, die in "nationale Aktionsprogramme" umgesetzt werden sollen, zu erfüllen. Auch die Formulierung der "Chance zur Teilhabe am Arbeitsmarkt" für Jugendliche wurde unter dem Druck der Bundesregierung bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Junge Leute haben nun ein Recht auf Teilhabe "in Form eines Arbeitsplatzes, einer Ausbildung, einer Umschulung, einer Berufserfahrung oder einer anderen, die Beschäftigungschancen fördernden Maßnahme". Explizit zählen auch unbezahlte Praktika zu diesen Maßnahmen.

Auch bei der ursprünglich angestrebten Erhöhung des Anteils der Arbeitslosen in der Weiterbildung auf 25 Prozent jährlich erfolgte eine Aufweichung der vorgesehenen Ziele - zufällig mit einer Formulierung, die es erlaubt, daß Deutschland die vorgesehene Marge von 20 Prozent jetzt schon erreicht. Es sollen jetzt nämlich "alle aktiven Wiedereingliederungsmaßnahmen" dazuzählen. Auch die hierzulande beliebten kommunalen Zwangsarbeiten für Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose oder sie ergänzende Modelle wie der "Kombi-Lohn", bei dem das Sozialamt in Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern Prämienarbeitsplätze im privaten Sektor finanziert, werden so bald zur gesamten Palette der Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz gehören können.

Daß durch die Luxemburger Leitlinien der Druck auf die Arbeitslosen noch stärker werden wird, zeichnet sich durch die Unterordnung der Arbeitsmarktpolitik unter die "Notwendigkeit der weiteren Sanierung der Staatsfinanzen und maßvollen Lohnabschlüsse" ab, wie es in der Luxemburger Erklärung der Staats- und Regierungschefs heißt. Die Hauptverantwortung für die Beschäftigungspolitik liege demnach bei den "Sozialpartnern" und nicht bei der Politik. Eine "flexiblere Arbeitsorganisation", "niedrigere Lohnnebenkosten", Steuersenkungen für die Betriebe, Bereitstellung von Risikokapital für kleinere und mittlere Unternehmen von der Europäischen Investitionsbank sind die weiteren Vorgaben für die nationalen Aktionsprogramme, die bis Juni 1998 von den Regierungen vorgelegt werden sollen.

Die staatliche Bezuschussung der Beschäftigung arbeitsloser Jugendlicher und Langzeitarbeitsloser, mehr Teilzeitjobs, größere Lohnunterschiede und mehr Druck auf Sozialhilfeempfänger und Jugendliche, jede offerierte Beschäftigung oder Ausbildung anzunehmen, sind weitere Vorschläge, die die "Angebotsseite" des Arbeitsmarktes mobilisieren sollen.

Der neue Konsens in Europa, die "Reaktivierung" der Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger durch Jobzuweisung und Arbeitsdienst, verschiebt die Balance zwischen Arbeitsrecht und Arbeitspflicht. Von ersterem ist keine Rede mehr, gleichzeitig werden die Arbeitnehmer verpflichtet, sich für jeden nur denkbaren Job zu qualifizieren und sich direkt nach aktuellen Marktgesichtspunkten ihre Berufsperspektive für die nächsten Jahre zusammenzubasteln. Da gleichzeitig immer weniger Vollerwerbsstellen zur Verfügung stehen - seit 1991 wurden in Deutschland eine Million Arbeitsplätze mehr vernichtet als neue geschaffen -, in denen die Mobilisierten nach ihren Beschäftigungsmaßnahmen arbeiten könnten, läuft das propagierte Modell auf eine rasante Ausweitung der Teilzeitarbeit nach dem Beispiel der Niederlande mit deutschen Ergänzungen hinaus.

Wie in den Niederlanden, wo der Anteil der Teilzeitarbeit mehr als doppelt so hoch ist wie momentan in Deutschland, wird die Kombination aus Ausweitung der Teilzeitarbeit, zeitgleichem Abbau der Vollerwerbsstellen und des Arbeitszwangs für Sozialhilfeempfänger zu einem faktischen Lohnstopp und realen Einkommensverlusten für die Mehrheit der Beschäftigten führen. Wie dort wird das Rentensystem durch eine niedrige staatliche Basisrente ersetzt werden, da die nötigen Beiträge nicht mehr gezahlt werden können.

Umsetzen kann die Regierung Kohl die Luxemburger Beschlüsse mit ihren alten Rezepten. Bei der im nächsten Jahr anstehenden Reform des Bundessozialhilfegesetzes soll die bereits seit 1982 bestehende Arbeitspflicht für kommunale Aufgaben weiter verschärft und das Sozialhilfeniveau insgesamt weiter gesenkt werden. Die "Eingliederungshilfe" genannten Lohnzulagen für Langzeitarbeitslose in diesem Sektor trägt die Bundesanstalt für Arbeit und damit die Versicherten selber, die Arbeitgeber sparen nicht nur die Sozialbeiträge gleich vollständig ein, sondern auch nochmals einen zusätzlichen Teil des Lohnes, der für neu eingestellte Langzeitarbeitslose sowieso schon um 20 Prozent niedriger als der Tariflohn ist.

Auch das vom BDA vehement geforderte "Kombi-Lohnmodell" aus Sozialhilfe und Niedriglohn ist mit den Luxemburger Beschlüssen vereinbar. Nach diesem Vorschlag, der breite Unterstützung aus Regierung und Opposition genießt, wird privat eingestellten Sozialhilfeempfängern und Langzeitarbeitslosen von den Arbeitgebern für einen Vollerwerbsarbeitsplatz ein Minimallohn bezahlt. Die notwendige Summe, um über das gesetzlich festgelegte Existenzminimum zu kommen, wird vom Sozialamt bezahlt, ebenso die Sozialabgaben. Die Arbeitslosenhilfe wird ersatzlos gestrichen.

Für die Betroffenen bedeutet das, daß sie nur noch für die Dauer von maximal einem Jahr Arbeitslosengeld beziehen könnten. Die Kombination aus Sozialhilfe und Minimallohn würde danach der Regelfall, die Ablehnung eines derartigen Kombilohn-Jobs würde mit einer Streichung oder massiven Kürzung der Sozialhilfe bestraft.

Durchsetzen kann sich damit eine sozialdemokratisierte Version des neoliberalen Modells der Jobbeschaffung: Arbeitszwang für den Niedriglohnsektor, verstärkter Druck zur Flexibilität auf den mittleren Ebenen und Freistellung der Unternehmen von Sozialabgaben. So stellt Luxemburg eine Wegscheide dar, an der der Abschied vom Sozialstaat alter Prägung steht.