Mit Mutter Teresa und Bill Gates in die Zukunft

Hinter Stoibers Vorschlag zur Regionalisierung des Sozialsystems steht das Konzept der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission

Mit seinem Vorschlag, die Sozialversicherung zu regionalisieren, schien der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber außerhalb Bayerns allein zu stehen. Das CDU-Präsidium erteilte ihm eine Absage, selbst der CSU-Gesundheitsminister Seehofer distanzierte sich von dem Vorstoß seines Parteichefs. Es sah nach typisch bayerischem Lokalpatriotismus und einem populistischen Wahlkampfmanöver aus. Nur eine Tatsache störte dieses Bild: Sachsens Ministerpräsident, dessen Land selbst auf Ausgleichszahlungen angewiesen ist, hielt treu zu seinem bayerischen Kollegen.

Das hatte einen guten Grund: Stoiber stützt sich bei seinen Vorschlägen auf die Arbeit der 1995 eingesetzten bayerisch-sächsischen Zukunftskommission. Am 25. November hatte diese Kommission unter Vorsitz des Bonner Wirtschaftswissenschaftlers und Junge Freiheit- Autoren Meinhard Miegel ihren über 200 Steiten starken Abschlußbericht unter dem Titel "Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage" vorgelegt. Wie Stoiber fordert die Kommission darin die Regionalisierung der Arbeitsmarktpolitik, der Krankenkassen und der Sozial- und Pflegeversicherung. Ein Finanzausgleich zwischen einzelnen Regionen soll weitgehend abgeschafft werden. Lediglich ein "Mindeststandard" zur Bekämpfung und Milderung von "Katastrophen, politischen Ausnahmesituationen und unveränderbaren Standortnachteilen" soll erhalten bleiben. Nur so könne dem erlahmten regionalen Wettbewerb um bestmögliche Problemlösungen wieder auf die Sprünge geholfen werden.

Doch diesen Mut zur Ungleichheit fordert die Kommission bei weitem nicht nur von den Regionen. Zumindest "begrenzte Zeit" müßten "größere Unterschiede der individuellen Einkommen hingenommen werden". Weder Staat noch Wirtschaft könnten in der Zukunft im bisherigen Umfang Beschäftigung und "Daseinsvorsorge" gewährleisten. Statt dessen setzt die Zukunftskommission auf die sattsam bekannten Rezepte der Deregulierung des Arbeitsmarktes, eine Privatisierung der sozialen Absicherung und eine Entlastung des Sozialsystems durch kostenlose soziale "Bürgerarbeit", die als "sinnvolle Betätigung" und "Dienst an der Gemeinschaft" das angebliche "Arbeitsverbot" für Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose ablösen soll.

Auch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, Verkürzung der Lebensarbeitszeit in Kopplung mit einer Absenkung des Rentenniveaus, mehr Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung führen die Experten - neben Miegel auch der Soziologe Ulrich Beck - in ihrem Programm gegen die Massenarbeitslosigkeit. "Einfache, personenbezogene Dienste" sollen Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern längerfristig einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt beschaffen. Dazu müßten nur die "mentalen Barrieren" abgebaut werden, die heute noch verhinderten, daß die Deutschen als Dienstmädchen, Butler oder Chauffeure arbeiten.

Soweit nichts Neues im deregulierten Sozialstaat - doch die Verpackung der Vorschläge der Kommission hat es in sich. Leitbild der Kommission ist die "unternehmerische Wissensgesellschaft" - nach der "Risikogesellschaft" und der "Teilhabegesellschaft" eine dankenswerte Konkretisierung dessen, was Kommissionsmitglied Beck in den letzten zehn Jahren vorschwebte, wenn er von "Individualisierung" schwadronierte. Der klassische Arbeitnehmer soll zum selbständigen Kapitalisten werden in einer Gesellschaft, die angeblich nicht mehr vom Produzieren, sondern vom Verteilen von Informationen lebt. Das Problem: "Neue kollektive Leitbilder für unternehmerisch handelnde Menschen" müssen her - und dies war wohl die wahre Aufgabe der "Zukunftskommission": Interpretationsmuster und Begründungen zu liefern, weshalb der Um- und Abbau des Sozialstaats unvermeidlich sei, und so das Legitimationsdefizit angesichts horrender Gewinne auf der einen und extremer Lasten auf der anderen Seite abzubauen.

Ein anschauliches Beispiel für das Angestrebte und für eine weitere Verschärfung der Umverteilung am Standort ist der Vorschlag der Kommission zur "Bürgerarbeit". Gemeint sind damit alle Formen ehrenamtlicher Tätigkeit vom Vereinsengagement in Umwelt, Kunst und Kultur über die Pflege öffentlicher Anlagen bis zur Betreuung von Obdachlosen, Asylbewerbern, Lernschwachen, Kranken und "Sterbenden". Die Finanzierung einzelner Projekte sollen Unternehmen und Wohlfahrtsverbände bereitstellen. Mit solchem "Sozialsponsoring" könnten nach Becks Vorstellung transnationale Konzerne ihr Image aufpolieren. Für die guten Taten würden Arbeitslose, Hausfrauen, Studenten, Rentner und Sozialhilfeempfänger herangezogen. Öffentliche Anerkennung in Form von Auszeichnungen und indirekte materielle Anreize wie Rentenansprüche oder Qualifikationsbescheinigungen sind vorgesehen, um die Bürgerarbeit attraktiv zu machen. Eine Entlohnung ist aber nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Beck schlägt vor, Bürgerarbeit solle "nicht entlohnt, aber belohnt" werden. Nach ähnlichen Maßstäben wie bei der Sozialhilfe soll der Staat ein "Bürgergeld" auszahlen, "wenn das Existenzminimum nicht anderweitig gesichert werden kann". Das Niveau der Sozialhilfe und des zukünftigen Bürgergelds werde gegenüber heute durch den Ausbau des Niedriglohnsektors weiter gesenkt, was den "Einfallsreichtum der Bevölkerung" erhöhen und den "Druck der Zuwanderung von Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten" senken soll.

Mit dem smarten Slogan "Bürgerengagement statt Arbeitslosigkeit finanzieren" preist Beck sein Konzept an, kann aber nicht dessen Herkunft aus dem gegenwärtigen neoliberalen Krisendiskurs verbergen. Der "nicht mehr finanzierbare Sozialstaat" soll durch den "Freiwilligensektor" und die "Sozialfigur des Gemeinwohlunternehmers" als einer Verbindung von "Mutter Teresa und Bill Gates" durch kostenlose Arbeit abgelöst werden. So kann im Sozial- und Pflegebereich massiv gespart werden, eine generelle Lohnsenkung in den unteren Lohngruppen und im gesamten Sozialbereich wäre die unmittelbare Folge. Sozialhilfe bzw. Arbeitslosenhilfe gibt es nur noch gegen Arbeit in diesem Niedriglohnsektor. Die Sozialabgaben müssen entweder von den Kommunen oder gleich von den Beschäftigten alleine bezahlt werden. So fordert die Kommission, daß die Bürger ihren Arbeitslohn künftig brutto ausgezahlt bekommen sollen und ihre Steuern und Sozialabgaben vollständig selbst bezahlen, was eine generelle Lohnsenkung erst richtig effektiviert.

Daß sich nicht nur Stoiber und Biedenkopf von Becks und Miegels Zukunftsvision inspirieren lassen, bewies am 5. Dezember Familienministerin Claudia Nolte (CDU). Anläßlich des "Internationalen Tags des Ehrenamtes" eröffnete sie feierlich die "Nationale Freiwilligen-Agentur" in Berlin und forderte: "Soziales Engagement muß schick werden." Eine versteckt im Bericht der Kommission enthaltene Lösung des Rentenproblems wurde dagegen noch nicht öffentlich diskutiert: Durch eine "unerwünschte Nebenwirkung" ihres Konzepts, geben Miegel, Beck und Co. zu, werde die Lebenserwartung der Bevölkerung besonders in den benachteiligten Regionen sinken.