Chicago, Berlin, kreuzüber

Unser Autor war Juror auf einem Festival in den USA und hat etwas Popcorn mitgebracht

Was geht vor in Illinois? 33 Jahre lang veranstaltet dort Michael Kutza in aller Seelenruhe und Selbstgewißheit sein US-Internationales Filmfestival, und mit einen Mal, 1997, stellt er sich bang die Frage, welche Perspektive es sonst in der Welt gebe?

Konkret: Wer ist der deutsche Tom Cruise? Antwort: Til Schweiger natürlich. Also wurde im Programm der internationalen Filmkritiker (Fipresci) "Knockin' On Heaven's Door" gezeigt (in der Auswahlkommission: Reiner Veit, vorgestellt als geschätzter Berliner Filmkritiker sowie Radio- & TV-Persönlichkeit, Dank auch an Eva Orbanz, Berlin). Jetzt weiß jeder in Chicago, was die deutsche Perspektive ist. Und ich bin dank dieser Fragestellung nach Chicago gekommen, weil in Folge der neuen Politik des Sich-Öffnens zum erstenmal in Illinois sowie den ganzen USA eine Internationale-Kritiker-Jury installiert worden war.

Sponsorflug nach Windy City (American Airways), wo es in der Tat sehr durch die Straßen pfiff, doch stimmte das mit dem Beinamen nicht mehr recht, obwohl ich mich doch gut vorbereitet hatte ("Viva Chicago"). Denn "Windy City" ist selbstredend eine Schwulenstadt, weshalb die entsprechende Stadt-Wochenzeitung der Szene (hohe Auflage!) auch diesen Titel hat. Und alle Schwullesben stehen auf "Berlin", denn genau so heißt der mega-beliebte Nachttreff 954 W Belmont Avenue. - Wie Schuppen fiel es mir von den Augen: hier, im Chicago Congress Hotel, hatte der Hamburger Jochen Hick 1993 seinen Film über den internationalen Leather Contest gedreht ("Menmaniacs: The Legacy of Leather"), und eben hier war aus US-zentrischer Sicht Ungeheures geschehen und Tom of Hamburg zum Mr. Leather gekürt worden.

Und jetzt war ich da. Und auf wen fiel mein eurozentristischer Blick? Auf den Berlinale-Chef Moritz de Hadeln. Er saß in der konkurrierenden, der Filmindustrie-Jury und erzählte mir alles über den Potsdamer Platz: für die Berliner Filmfestspiele zu eng, zu entfernt und sowieso nicht sein Ding. Und was fange ich mit den heimatlichen Offenbarungen an? Ja, so geht's: Die in Berlin hätten bei der Festivalverlegung nicht nur auf ihre Industrie-Jury, sondern auch auf die Filmkritikerjury (Fipresci) hören sollen. Haben sie aber nicht. Wogegen ich hiermit protestiere.

Mein Crossover von Herrn de Hadeln und Tom of Hamburg hatte böse Folgen: Mir wurde im fernen Chicago immer heimatlicher zumut. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem linken Auge. Die Union Stock Yards: die Schlachthöfe! Ja! Mein Brecht! Pierpont Mauler und die Heilige Johanna der Schlachthöfe! Meine Brecht-Aufbau-Ausgabe von 1956! - Der Grant Park! Die Anti-Vietnamdemonstration von 1968: alt vertraute TV- und Filmerlebnisse. - Und die Hochhäuser? - Der Fußgänger sieht sie nicht: Der Blick geht geradeaus, ebenerdig. Die Zeit der großen Architektur ist eh passé, und wenn ich mir Frank Lloyd Wright inzwischen hundert Jahre altes Home & Studio im Oak Park angucke, dann bin ich sowieso in den Villenstraßen zwischen Zehlendorf und Grunewald, Kiefern statt Eichen, allerdings. In Chicago sein und dann - Heimat im Herzen.

Ich begann, sehr, sehr ärgerlich zu werden. Was bloß gegen dieses permanente Nostalgiegefühl tun? Ist Chicago gar europäischer als Europas Metropolen? Berlinischer als Berlin? Bin ich in einer Art lebendigem Museum, wo all das funktioniert, was bei uns wegsaniert oder mindestens entkernt worden ist? Die gute alte Hochbahn umfährt im Zweiminutentakt Hochhäuser, in denen gewohnt wird (Marina City: 20 Stockwerke offene Garage; 60 rundum bewohnt). Die Fahrstühle, die Büros, die Geschäfte, die Cafés, das Hotel: alles großzügig abgenutzt, der Glanz verblichen, nicht unbedingt speckig, aber doch schon ein wenig abgegriffen, so richtig zum Sichwohlfühlen. Sicherlich wird wo modernisiert.

Ich war nicht da. Sondern wo abends Jazz gemacht wird; Charles Mingus-Kult im kompletten Ambiente der fünfziger Jahre. Wieder fühlte ich mich versetzt, live, in Filme aus den vierziger, fünfziger, sechziger Jahren. Mitten in der City, 11 W Grand Avenue, gab's einen Laden, den Jazz Record Mart, mit einem Riesenstock LPs dieser Zeit und Stapeln von Kisten mit unsortierten 45er Singles. Auf dem Rückweg traf ich Mel Gibson, der genauso aussieht wie im Film. Es war nachts, E Ohio St./N Wabash St. Und er war allein (nur zwei Body Guards). Meine Frage, geistesgegenwärtig und korrekt: ein Foto? Er nickte, der Blitz ging nicht, er lief weg. Rannte über die Straße. Kein Verkehr.

Der Fehlschlag war nicht weiter schlimm. Wir hatten Gibson schon vorher bei Stunts zugekuckt, zufällig, S Wabash Avenue/E Monroe St., kurz vor der EL (aviated), der Hochbahn. Und er hatte mit dem International Chicago Film Festival absolut nichts zu tun. Denn dieses hatte mit dem eigenen Mainstream nicht so richtig was am Hut. Und das, obwohl es voll gesponsert war und keinen einzigen Dollar Staats- und Steuergelder im Etat hatte. Auch das erinnerte an die gute alte Berliner Zeit, als Freund de Hadeln noch nicht seinen Promotion-Wettbewerb mit Mainstream vollgestopft hatte, der eh zwei Wochen später im Kino lief.

Und weiter zurück in die Vergangenheit: die Festivalfilme liefen in einem Innenstadtschachtelkino der, sagen wir, späten siebziger Jahre. Die Leinwand lag so tief, daß sie im unteren Drittel gut durch den Vordermann gefüllt wurde. Auch mußte man es aufgeben, die Untertitel zu lesen. Dafür konnte man sich voll auf die Kau- und Schluckgeräusche der Nachbarn konzentrieren. Gegen Popcorn-Geruch bin ich längst immun. Schwieriger wird es bei einem stillen Film wie dem taiwanischen "The River", der kaum Musik auf der Tonspur hat, dafür viel Stille, und der depressiv ist und semisuizidal. Und der Eimer mit Krack, Kräck, Kräckern wird und wird nicht leer.

Mainstream-Rezeption im E-Film-Kino. Ich weiß. Das Crossover der Rezeptionskulturen ist zu loben. Und wenn man nur eine Seele für das Himmelreich gewönne. Soll ich den Spex-Papst anrufen und fragen, ob auch genug für die Kinoerlebnis-Seite getan worden ist? Aber das Lenox-Hotel hat mir sowie schon 300 $ für die paar Telefonate berechnet, und Jungle World gibt mir auch nichts hierfür. - Im Festivalbüro wurde ich nicht mit schlauen Diskursen versorgt, auch hatte sich keiner angestrengt, das Unternehmen sonstwie verbal zu legitimieren. Mit jähem Erschrecken wurde mir klar, daß wir die Filme einfach so ansehen sollen, ohne mit ihrer Hilfe eigens fabrizierte Thesen zu beweisen. Aus der Perspektive des europäischen Intellektuellen: Diaspora in ganz Chicago!! Welch eine Aufgabe für alle Spexe! - Klammheimlich hatte ich meine Freude dran.

Statt pflichtschuldigst das Festival akademisch in Zucht zu nehmen, wenigstens in Form eines geordneten Berichts, füllte ich in eben diesem freundlichen Festivalbüro am Automaten meine Tüte mit heißem, ein wenig streng riechendem Popcorn und nahm, wie die anderen Kritiker wohl versorgt, in der Vorführung Platz.

Wir sahen die sehr romantische Komödie "Broadway Damage" - einen Debütfilm (Regisseur: Victor Mignatti), der ganz unbefangen, ohne jemand Zuständigen um Rat zu fragen, eine schwule WG- und Beziehungsgeschichte völlig unbeschwert so erzählt, als ob es nie eine Emanzipationsbewegung oder eine Filmästhetik nach Frank Capra ("Arsen und Spitzenhäubchen", 1941) gegeben hätte. Ein Lowlow-Budgetfilm, ausschließlich finanziert mit Genossenschaftsanteilen (5 000 $ das Stück), keinerlei Förderungsgeld. Ja, jedes deutsch/europäische Gremium hätte moniert, wo denn da das Thema geblieben und was denn am Film schließlich wichtig sei. Richtig. Der Film lebt davon, daß er herzlich unwichtig ist. Und daß es Spaß macht ihn zu sehen. Und daß man sich hinterher besser fühlt. Ich darf das hier mal ausnahmsweise so hinschreiben, weil ich ja ausprobieren will, wie es ist, wenn man seine antrainierte akademische Rolle ablegt. Einfach so.

Im Hinblick auf unsere Jury-Beratungen versuchte ich zwar noch, den sehr romantischen Jungregisseur mit der Frage zu ködern, ob es seine Absicht gewesen sei, mit der Ästhetik der Broadway/Capra-Komödie zu spielen. Iwo, sagte der, ich nehm' mir, was mir paßt. - Da nimmt sich einer was! Müssen wir da nicht aufpassen? Da kann ja jeder kommen! Und überhaupt: Da haben wir so viel für die Emanzipation getan und gemacht, und dann kommt irgendwer und macht davon Gebrauch, ohne einen Diener zu machen und Dankeschön zu sagen. Und gibt es nicht noch genug Unglückliche auf dieser Welt? Seht euch doch diese Visagen an: diesen Regisseur, diese Schauspieler, die lachen und grinsen frech und gucken dir dabei voll ins Gesicht!

Unsere Jury fand das gar nicht lustig und vermißte das Innovative oder sonstwie Fortschrittliche. Eduardo Antin ("Quint'n"), Chile, gibt die politisch engagierte Zeitschrift El Amante Cine heraus. Jean Roy ist Vizepräsident der internationalen Kritikervereinigung. Angela Baldassares Herzblut kommt aus Neapel, sie selbst im übrigen aus Montreal. - Argentinien, Frankreich, Italo-Kanada, Deutschland. Nur Michael Wilmigton, Chicago Sun-Time, vertrat die U.S.A.

Ob "Broadway Damage" den Weg nach Europa findet? Wir sehen hier ja schätzungsweise nur zehn Prozent der US-Produktionen, eben den Mainstream, der der Quantität nach bekanntlich keineswegs einer ist. Darüber gerät aus dem Blickfeld, daß wir uns in einem Teil der unbekannten 90 Prozent zu Haus fühlen könnten und daß Chicago als Stadtheimat anmutet, wie sie bei uns im Bestreben, innovativ oder sonstwie fortschrittlich zu sein, gerade abgeschafft wird.

Wenn bei uns in Europa ein Film reüssieren will, muß er die Gremien passieren, und die entscheiden schon vorher - über die Produktionsförderung. Ein wichtiges Thema muß also her. Total gremiengerecht wäre eine dreifache Determinierung. Ein bisexueller ausländischer Rollstuhlfahrer beispielsweise. In England. Dann gibt's Gelder von Land (British Film Institute) und TV (BBC). Das ist nichts Schlechtes. Und "Sixth Happiness", der erste Spielfilm des behinderten TV-Professionals Waris Hussein, ist richtig gut. Ein autobiographischer Spielfilm. Ein fiktives Dokument. Ein Kreuzüber ästhetisch wie sexuell wie kulturell. Die Filmgelder sind im Heimatland Indien ausgegeben. Mitnichten problembewußt. Lustige wie traurige Geschichten sind zu einem Glücksgewebe verwoben. Im sechsten Himmel wird die Welt aus der Perspektive des kleinwüchsigen Rollstuhlfahrers wahrgenommen. Die Kamera ist in der Höhe des Kinderkopfes. Vom athletischen Jungmann nimmt sie als erstes den Hosenschlitz wahr. Beugt sich in dieser Perspektive der unvermutete Lover zum freudig erregten Helden herunter, dann scheint er wahrlich vom Himmel gesandt. - Ein unbitteres Märchen und trotz der Themenvorgabe: lebenslustig. Meine Sympathie!

Windy Themen in Windy City. John Hurt fand seine Paraderolle in dem voll eleganten, ironisch verspielten britisch-kanadischen Film "Love and Death on Long Island". Seine Rolle: hochgeachteter Staatsschauspieler, begnadeter Shakespeare-Interpret. Der Stolz der Nation. - Er vernarrt sich im falschen Kino in einen unbedarften, aber hübschen Nebendarsteller aus der fiktiven, aber wahren Serie der "Hot Pants College"-Filme. - II war es, glaube ich. - Ein nettes Überkreuz von Personen und Kulturen.

Lustvoll gibt Regisseur Richard Kwietnowski die antrainierte Rolle korrekten ästhetischen Verhaltens auf und identifiziert sich probeweise voll mit der Ästhetik und Krudität des College-Films, leicht ironisch abgesichert. Wenn man so will, proben hier zwei Kinokulturen den Kontakt; auch der alte Achenbach hatte sich im "Tod von Venedig" in die Jugendkultur gewagt, allerdings beim Jungmachen explizit zu viel Rouge aufgelegt. Anders als Achenbach gibt sich Hurt nicht auf. Der Kontakt zum Mainstream-Hollywood-Jungmann bleibt zwar unerfüllt, Hurt jedoch am Leben. Eine Anekdote, erfolgreich zum besten gegeben von einem Hurt, der wie damals Bogarde den Film durcheilt. Die Fipresci-Jury biß an und vergab eine lobende Erwähnung.

Ein Jüngerer vergafft sich in einen Älteren. Genauer: der Sohn in den Vater. In der Ruhezelle der Sauna gibt es als einziges Accessoire eine Klopapierrolle. Die braucht der Vater, um sich nach dem Ficken die Hände und dem Sohn Bauch und Schwanz sauber zu wischen. Kein Wort fällt. Gemessene, ruhige, väterliche Bewegungen. Der Junge noch immer an die Brust der Älteren gekuschelt. Ein Akt voller Zärtlichkeit und Geborgenheit. Lang gesucht und in der Anonymität gefunden. Dann erst macht der Vater in der Dunkelzelle das Licht an und wirft den endlich identifizierten Partner hinaus. Die Kälte hält wieder in die Familie Einzug. Das Glücksgefühl hält womöglich an. - Regisseur Tsai Ming-liang hat diesen wortkargen, bildkräftig erzählten Film ("He liu", The River; Taiwan) mit Motiven der (somatischen?) Krankheit, der (symbolischen?) Umweltverschmutzung, ja mit dem Medium Film selbst (die Dreharbeiten in den Eingangssequenzen) unterfüttert. - Ein gewaltiges Werk. Leider war die Industriejury dafür zuständig.

Und dann geschah eine Kreuzung, die alle für unmöglich gehalten hatten und die doch völlig geglückt war: die Kreuzung von globaler popular culture mit europäischem Erziehungsroman in einem Hongkong-Film und dazu noch im banalen, alltäglichen Wohnzentrum, eben der "Kitchen". Der egozentrisch-exentrische Pop-Jungfriseur (Jordan Chan) gibt das Styling auf und lernt es, sich für die Partnerin (Yasuko Tomita) verantwortlich zu fühlen. Währenddessen werden die Bilder immer weniger schrill, und die Vernünftigkeit trägt gedeckte Farben. - Irgendwie schade. Aber selbstverständlich richtig.

Auch meine Jury verhielt sich vernünftig und vergab den Fipresci-Preis an einen vernünftigen Film. "La vie de Jésus", der schon in Cannes reüssiert hatte, zeigt eine Gruppe Jugendlicher, die in einer französischen Kleinstadt die Zeit sowie einen Ausländer totschlägt. Wie kommt es dazu? Die Sprachlosigkeit! Vor der Filmkamera sagen die Laien jedoch Sätze, die man versteht, aber natürlich nicht billigt; außerdem ist der Kurzhaarschnitt schon sehr extrem. In den Ausnahmesituationen wurden Profis eingesetzt: Im Abspann wird die Position Sex-Stunts genannt. Damit sind die Fickszenen gemeint, in denen perfekt ausgeleuchtet und mit klinischer Genauigkeit sowie in eindeutigen Großaufnahmen die Betätigung der Geschlechtsorgane beim Heterostandardsexualakt gezeigt wird. - Nun wissen wir endlich, wie es klappt, wenn es perfekt sein soll. Lehrbuchmäßig. Vorbildlich. - Die Profi-Szenen sind zwar etwas fremd zwischen den vielen Totalen der munteren Laienspielschar. Aber richtig, wenn schon Unterbrechung, dann statt Kommerzwerbung lieber Normaloporno. Doch, finde ich auch. Aber jede Wette: im Fernsehen wird der Film ohne die Sex-Blöcke laufen.

Wir waren richtig gut und haben den Amerikanern in Chicago die franko-europäische Perspektive aufgezeigt. Bloß mir kam das Sendungsbewußtsein abhanden. Weswegen ich mir back from the USA und völlig unvernünftig die alten Mingus-Platten wieder auflegte: "Passions Of Man", ATL 60 143.