»Low intensity warfare«

Interview mit Roberto Mart'nez, Direktor des American Friends Service Committee, über die Migranten an der Grenze zwischen Mexiko und den USA

Nach dem Inkrafttreten des NAFTA-Abkommens über eine Freihandelszone zwischen Kanada, den USA und Mexiko dürfen sich Waren und Kapital zwischen den Ländern weitgehend frei bewegen. Für Menschen gelten andere Gesetze. In Tijuana, der größten mexikanischen Grenzstadt zu den USA, warten Tausende Mexikaner in Elendsvierteln auf eine Gelegenheit, der Armut zu entfliehen und die Grenze zu den USA zu überqueren. Für sie ist die Grenze eine oft tödliche Barriere. Sonderprogramme der Grenzpolizei wie "Gatekeeper", "Guardian" oder die Verstärkung der Grenzanlagen um eine dreifache Mauer sollen den Strom der Flüchtlinge aufhalten, den die schwerste Wirtschaftskrise in Mexiko seit 60 Jahren in Gang gesetzt hat. In San Diego, der Grenzstadt auf der US-Seite, sprachen wir mit Roberto Mart'nez. Er ist Direktor des US-Mexiko-Grenzprojektes American Friends Service Committee in San Diego (USA), einer Organisation, die Diskriminierungen der Migranten dokumentiert und ihnen Hilfe leistet.

Die Behörden der USA richten an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Befestigungsanlagen auf, die an die Berliner Mauer erinnern. Die Bemühungen der US-Regierung, sich gegen die Armutsflüchtlinge aus dem Süden abzuschotten, hat zum Teil katastrophale Folgen für die Migranten...

Wir haben gemeinsam mit der Universität Houston eine Studie verfaßt, aus der hervorgeht, daß von 1993 bis 1996 1185 Leute an der Grenze umgekommen sind. Allein in der Region San Diego gab es in diesem Zeitraum 193 Tote . Dieses Jahr sind hier bis September 60 Personen gestorben.

Spezialoperationen wie Gatekeeper drängen die Leute vom Grenzgebiet zwischen Tijuana und San Diego nach Osten, in die Wüste und in die Berge. Viele Migranten sterben bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, durch die extremen klimatischen Schwankungen. In der Wüste steigt die Temperatur im Sommer bis auf 49 Grad Celsius, in den Bergen auf 44 Grad. Im Winter aber sinkt sie unter den Gefrierpunkt. Die Migranten, die aus Mexiko und Zentralamerika kommen, wissen nicht, daß nicht das gesamte Grenzgebiet Flachland ist. Sie denken, daß alles wie in Texas und Arizona aussieht. Wenn es schneit, haben sie keine Chance, weil sie normal angezogen kommen. Und im Sommer nehmen sie oft kein Wasser mit. Wir haben zum Teil Gruppen von fünf oder zehn Personen gefunden, alle tot.

Doch die Kontrollen sollen weiter verschärft werden. Es gibt eine Gesetzesvorlage aus Ohio, die vorsieht, 10 000 Soldaten an die Grenze zu verlegen. Ganze Gemeinden wären dann komplett vom Militär besetzt. Denn bereits jetzt patrouillieren in San Isidro überall die Nationalgarde, die Grenzpolizei und die regulärePolizei.

Während der letzten Wahlkampagne propagierten Demokraten und Republikaner in Kalifornien eine harte Politik gegen Immigranten.

Viele Politiker fahren an die Grenze, deuten nach Mexiko und sagen, daß es eine Invasion aus Mexiko gebe, daß Mexikaner den Steuerzahler Millionen Dollar kosteten, daß sie für die Kriminalität verantwortlich seien. Sie versuchen, mit diesem Populismus Stimmen zu fangen.

Menschenrechtsorganisationen in Mexiko weisen auf das brutale Verhalten der US-Grenzpolizei hin. Nehmen die Menschenrechtsverletzungen durch US-Behörden mit der Verschärfung der Gesetzeslage und dem weiteren Aufbau der Grenzbefestigungen zu?

In den achtziger Jahren gab es eine Spezialeinheit, deren Aufgabe darin bestand, Migranten vor Verbrechen zu schützen, denn sie werden oft überfallen und ausgeraubt. Diese Einheit aber tötete zwischen 1984 und 1989 mindestens 40 Migranten und verletzte dreimal so viele, so daß sie 1989 aufgelöst wurde. Zuletzt wurden 1993 drei Migranten von einer Grenzpatrouille umgebracht. Seitdem hat es zwar keine Toten mehr gegeben, aber Mißhandlungen stehen auf der Tagesordnung. Wir stellen auch immer mehr Vergewaltigungen von Frauen durch die Grenzpolizei und den INS (Immigration and Naturalization Service) fest.

Kürzlich wurden drei Grenzpolizisten und INS-Agenten zu Strafen zwischen 25 Jahren und Lebenslänglich wegen Vergewaltigung von Migrantinnen verurteilt. Wir sehen immer öfter körperliche und psychologische Folter in den Verhaftungszentren. Dort müssen die Männer nackt in den Zellen stehen, während der Nacht werden die Klimaanlagen so kalt wie möglich gestellt, während der Hitze des Tages aber werden sie abgeschaltet.

Timothy Dunn, ein US-amerikanischer Autor, hat ein Buch über die Militarisierung der Grenze geschrieben und nennt es low intensity warfare, Kriegsführung auf niedriger Stufe. Uns bleibt nur übrig, jährlich Hunderte von Fällen physischer Mißhandlung und sexuellen Mißbrauchs zu dokumentieren. Wir machen das seit vierzehn Jahren und es hat sich nichts verbessert.

Viele illegalen Migranten schaffen es trotz der Abschottungspolitik zumindest vorübergehend, Arbeit in den USA zu finden. In welchen Sektoren arbeiten sie, wie sind ihre Arbeitsbedingungen?

Die beiden Hauptfaktoren, die viele Leute in die USA treiben, sind Arbeit und Familienzusammenführung. Viele haben Jobs in der Landwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Produktion, zum Beispiel in Los Angeles. Andere gehen Richtung Osten, nach Florida und New York. Oder in mittleren Westen, nach Nebraska, Ohio und Wyoming, wo sie in Fleisch- und Wurstfabriken arbeiten. Die meisten wollen wegen der Migrationspolizei nicht im Grenzgebiet bleiben. Sie ziehen es vor, weiter nach Norden zu gehen.

In der Region von San Diego arbeiten die meisten im Hotel- und Gaststättengewerbe und in der Kleinindustrie. Dort verdienen sie mehr und die Jobs sind längerfristig. Gleichzeitig sind sie aber auch häufiger Razzien durch die Migrationspolizei ausgesetzt. In der Landwirtschaft sind in der Region San Diego weniger als zehn Prozent der Migranten tätig, viele davon Ind'genas aus Guatemala und aus den armen südlichen Staaten Mexikos. Die meisten sind Saisonarbeiter, haben Greencards und können ein- und ausreisen. Sie leben in den Armen-Stadtteilen von Tijuana und fahren jeden Tag rüber, da es zu teuer ist, dort zu leben, wo sie arbeiten. Manchmal tun sich mehrere zusammen, um in San Diego eine Wohnung in Migranten-Camps zu mieten, in ärmlichen Verschlägen mit Pappwänden.

Welche Auswirkungen hat die neue Sozial- und Migrationsgesetzgebung auf diese Immigranten?

Im letzten Jahr wurden zwei wichtige Gesetzespakete verabschiedet, die Reform des Sozialleistungssystems und die neuen Einwanderungsgesetze. Damit verlieren die Menschen, die sich bereits in den USA befinden, Sozialleistungen und Vorzüge, die sie vorher besaßen. Es ist nun schwieriger, ihre Familienangehörigen in die USA nachkommen zu lassen. Sie müssen selbst US-Bürger sein und können auch dann nur ihre Eltern nachkommen lassen.

Unter der neuen Gesetzgebung kann direkt an der Grenze darüber entschieden werden, ob jemand ein Recht auf Einwanderung oder politisches Asyl hat. Bei negativem Bescheid kann die Person sofort abgeschoben werden.

Was die Sozialleistungen betrifft, habe ich gerade einen Anruf von einer Frau bekommen, die seit sieben Jahren in den USA lebt und zwei Kinder mit US-Staatsbürgerschaft hat. Ihr wurde die medizinische Versorgung für ihre Kinder verweigert. Der Sozialarbeiter, den sie kontaktiert hatte, benachrichtigte die Einwanderungsbehörden. Sie ist jetzt in San Diego im Frauengefängnis inhaftiert und kann abgeschoben werden. Das Gesetz 187 fordert Sozialarbeiter, Erzieher und medizinisches Personal auf, jeden, den sie verdächtigen, illegal im Land zu sein, dem INS zu melden. Das ist Teil des Rassismus. Der auf Aussehen oder Sprache basierende Verdacht reicht, um die Denunziation zu rechtfertigen.

Wie wirkt sich der Rassismus gegen die Mexikaner auf das Alltagsleben in Kalifornien aus?

Er spaltet die Gesellschaft. Operationen wie "Gatekeeper" hier in San Diego oder "Blewing up" in Süd-Texas zwingen die Leute, 60 Meilen östlich von San Diego die Grenze zu überqueren und in Privatland einzudringen. Die Anwohner bewaffnen sich und schießen auf die Migranten. Im Norden, in Fallbrokes, hat der White Arian Resistance (WAR, Weißer Arischer Widerstand) seinen Sitz und ist für viele Morde an Migranten verantwortlich. In San Diego gibt es eine rechtsradikale Miliz, die mir kürzlich zwei Morddrohungen zugeschickt hat, da ich die Regierung und die Grenztruppen kritisiert habe. In Orange County existiert eine Gruppe namens American Spring (Amerikanischer Frühling), in der Nazi-Skins und Ku-Klux-Klan-Leute organisiert sind. Sie kamen bewaffnet zur Grenze und griffen Migranten an. Wir haben Demonstrationen organisiert und viele Auseinandersetzungen mit ihnen gehabt, bis sich die Polizei und Grenztruppen entschieden haben, gegen sie vorzugehen.

Aber Millionen von Menschen glauben die Falschinformationen, die ihnen über Migranten vorgesetzt werden. Das hat Geschichte, am Anfang des Jahrhunderts wurden hier die Iren, Italiener, Deutschen, eigentlich alle ethnischen Gruppen diskriminiert. Das ist nichts Neues, das ist die Geschichte Amerikas.