Kannibalismus am Bau

Nationaler Alleingang: In der Bundesrepublik gelten für Arbeitsmigranten andere Regeln als in vielen Ländern der Europäischen Union

Einen "Kannibalismus auf dem deutschen Arbeitsmarkt", insbesondere in der Baubranche, hat der finanzpolitische Koordinator der SPD, Hans Eichel, entdeckt. Als einen "Rückfall in die Sklavenhaltergesellschaft" wertet der IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel den Umgang mit ausländischen Arbeitnehmern.

So machten erst vor einigen Wochen italienische Bauarbeiter in Leipzig mit einem Hungerstreik auf ihre verzweifelte Situation aufmerksam. Sie hatten drei Monate lang keinen Lohn erhalten und mußten zusammengepfercht in Baucontainern wohnen. Die einzige Unterstützung, die ihnen nach Wochen von deutschen Behörden angeboten wurde, war eine kostenlose Rückfahrkarte nach Italien.

Der Vorfall in Leipzig ist kein Einzelfall, nach Angaben der IG Bau werden in Ostdeutschland nur noch 20 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Insbesondere ausländische Arbeitnehmer schuften bis zu 70 Stunden in der Woche. Unbezahlte Überstunden, mangelnde Arbeitsschutzbestimmungen, fehlende Krankenversicherung und Stundenlöhne, die häufig unter zehn Mark die Stunde liegen, sind die Regel. Und immer häufiger werden die Arbeitsmigranten Opfer rassistischer Angriffe: Nach Einschätzung der Leiterin der Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen Brandenburg (RAA), Hilde Schramm, haben die Arbeitsmigranten in weiten Teilen der neuen Länder als Haß- und Angriffsobjekt die Asylbewerber abgelöst. An kaum einem anderen Beispiel läßt sich deutlicher illustrieren, wie staatliche und ökonomische Diskriminierung dazu führt, daß der Rassismus sich eine neue Opfergruppe sucht. Arbeitsmigranten werden durch Politik, Wirtschaftsverbände und bestimmte Medien gewissermaßen zum Abschuß freigegeben.

Das wurde auch auf einem Tagesseminar der RAA zum Thema des "Zusammenwirkens von EU-Freizügigkeitsregelungen und Aggressivität gegenüber Arbeitsmigranten" in Potsdam deutlich. Die soziale und rechtliche Absicherung der Arbeitsmigranten innerhalb der EU sei höchst unterschiedlich, erklärte Frieder Otto Wolf, Abgeordneter der Grünen im Europäischen Parlament (EP).

Erst drei Jahre nach dem Entstehen des EU-Binnenmarktes hatte das EP im September 1996 die europäische Entsenderichtlinie verabschiedet, die die Rahmenbedingungen für die innereuropäische Arbeitsmigration definierte. In dieser Richtlinie ist festgelegt, daß für die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer das Empfängerlandprinzip zu gelten hat - Arbeitsmigranten müssen also zu den Tarifen und sozial- und steuerrechtlichen Bedingungen des Landes beschäftigt werden, in dem sie arbeiten.

Die Bundesregierung versuchte dieses EU-Gesetz zu verhindern und setzte schließlich eine nationale Ausnahmeregelung bis 1999 durch. Deutschland ist daher seit 1995 das einzige Land in der EU, das die Entsenderichtlinie nicht umsetzt und weder gesetzliche Mindestlöhne noch tarifliche Vereinbarungen, die sich auch auf Arbeitsmigranten erstrecken, kennt.

So ist in Frankreich seit 1994 vorgeschrieben, daß ausländische Bauarbeiter dieselbe Bezahlung wie französische Beschäftigte erhalten müssen. In den Niederlanden gibt es bereits seit 1982 derartige Regelungen. Dort sind die Generalunternehmer haftbar, wenn ihre Subfirmen keine Sozialabgaben leisten. Für alle Arbeitnehmer ist nach einem Monat Beschäftigung die tarifliche Bezahlung vorgeschrieben.

Lohndumping sei daher in den Niederlanden im Gegensatz zur BRD kein Problem, erklärte W. Ritmeijer vom niederländischen Wirtschaftsinstitut der Bauindustrie auf der RAA-Tagung. Diese Vorschrift gilt auch bei geringfügiger Beschäftigung und Zeitarbeit, die in Holland stark expandieren. Bei Bauaufträgen sind die Sozialabgaben außerdem vor Beendigung der Arbeiten abzuführen. Das Problem der Scheinselbständigkeit sei zu lösen, betonten Ritmeijer und Wolf, wenn die vollen Abgaben vom Selbständigen selbst abgeführt werden müssen. Ein Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Jobs - in Deutschland sank ihre Zahl in den letzten fünfzehn Jahren von 32 auf 28 Millionen - konnte so in den Niederlanden verhindert werden. In der BRD werden hingegen mit Hilfe neuer Beschäftigungsformen ausländische und zunehmend auch inländische Arbeitskräfte von den Sozialsystemen ferngehalten, um anfallende Kosten des Sozialleistungssystems auszulagern. Dies hat gravierende Folgen für das gesamte Tarif-, Arbeits- und Sozialsystem, sind doch in der Baubranche in Deutschland neun Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigt.

Nicht nur geringfügige Beschäftigung ist ein dauerhaftes Schlupfloch für die deutschen Arbeitgeber. Auch die weiterhin fehlenden sozial- und rentenrechtlichen Regelungen für die Wanderarbeiter innerhalb der EU stellen nach Ansicht von Wolf ein ungelöstes Problem dar. Die europäische Arbeitsmigration sei insgesamt von ethnischer Segmentierung und Hierarchisierung der Arbeitskraft gekennzeichnet. Innerhalb Deutschlands gibt es eine klare Hierarchie zwischen deutschen Arbeitnehmern, EU-Ausländern sowie legalen und illegalen ausländischen Arbeitnehmern.

Für die schlechte Situation der ausländischen Arbeiter im Baugewerbe sind nach Ansicht von Herrn Fischer vom Arbeits- und Sozialministerium in Brandenburg vor allem die Behörden verantwortlich. Meldungen über illegale Beschäftigung würden nicht weitergegeben; solange die Hinweise auf die verantwortlichen Arbeitgeber fehlten, bliebe nichts anderes übrig als illegal Beschäftigte auszuweisen. Da hilft die entsprechende Weisung der Landesregierung wenig, die seit zwei Jahren vorsieht, an entsprechende Firmen keine Verträge zu vergeben: Im selben Zeitraum wurde keine einzige Firma auf die Schwarze Liste gesetzt, Bußgelder werden häufig erst gar nicht eingetrieben. Die Bundesanstalt für Arbeit verkauft ihre Bußgeldforderungen deshalb zu 60 Prozent des Nennwerts an professionelle Schuldeneintreiber.

300 000 Bauarbeiter sind derzeit arbeitslos, in den nächsten beiden Monaten kommen vermutlich weitere 100 000 hinzu. Daher fordert die SPD in einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit der IG Bau zu einer Gesetzesinitiative auf, die Bußgelder bei illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit zu verdoppeln. "Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt" müßten wiederhergestellt werden.

Die Zuständigkeit der Arbeitsämter für Kontrollen soll gefestigt und ausgeweitet, die Zusammenarbeit aller beteiligten Verfolgungsbehörden verstärkt werden. Generalunternehmer sind haftbar zu machen, wenn Subfirmen die Sozialbeiträge, Steuern oder tarifliche Mindestlöhne nicht zahlen, illegale Beschäftigung soll künftig automatisch eine Strafanzeige nach sich ziehen. Von einem einheitlichen europäischen Sozialsystem ist dagegen nicht die Rede.

Daß diese Initiative ausreicht, um die Lage der Arbeitsmigranten zu verbessern, ist zu bezweifeln. Die Initiative der SPD und der IG Bau hat in guter deutscher Tradition nur den Kampf gegen illegale Beschäftigung im Blick, anstatt wie in den Niederlanden oder Frankreich die Situation für alle Beschäftigten zu verbessern.

Als verantwortlich für die gegenwärtige Situation erweist sich auch der Bund der Arbeitgeber (BDA). Der BDA verhindert seit Jahren die im Baubereich vereinbarten Tarife und Ecklöhne. Um mit dem BDA überhaupt noch zu Tarifvereinbarungen zu kommen, wurden die vereinbarten Löhne von 25 Mark in der Stunde auf 15 Mark herabgesetzt. Erst danach stimmte der BDA der Allgemeinverbindlichkeit der Tarife zu - doch selbst diese ist den Arbeitgebern noch zuviel. So fordern die ostdeutschen Baubetriebe einen gänzlichen Ausstieg aus den aufgeweichten Tarifverträgen und aus den Sozialabgaben.

Ob die IG Bau von den erfolgreichen Beispielen Frankreich und den Niederlanden lernen wird, muß sich erst noch zeigen. Der Berliner Senat scheint jedenfalls davon nicht viel zu halten. Nach einem Beschluß von letzter Woche werden künftig alle Aufträge unter einer Million Mark nicht mehr international ausgeschrieben. Sie sollen statt dessen ohne weitere Kriterien - etwa tarifliche Bezahlung oder ein Verbot von Leiharbeit oder Sozialdumping - an Berliner "mittelständische" Firmen vergeben werden.