Stabil in die Deflation

Die Preise sinken, die Löhne ebenfalls. Der Wettlauf um die schrumpfenden Märkte könnte nach der Asienkrise in eine Depression führen

Werden sich die Tigerstaaten in D-Mark zurückholen, was sie in Won, Baht oder Rupiah verloren haben? Wirtschaft und Verbände wollen dies nicht ausschließen. Asiatische Importeure könnten versuchen, mit Preisnachlässen für Autos, Farbfernseher oder Sportschuhe größere Marktanteile zu gewinnen. Natürlich käme dies den Konsumenten zugute, die aber als Produzenten um Einkommen und Arbeitsplatz bangen müßten. Denn die kurzatmige Konjunktur würde alles andere vertragen als Importkonkurrenz und Einbußen beim Export.

Eine derartige Gefahr sei wenig wahrscheinlich, wenden Chefökonomen und Wirschaftsforscher ein; der fernöstliche Handelsanteil sei dafür einfach zu gering. Zudem sorge das aus Asien zurückgeflossene Kapital für einen flexiblen Finanzmarkt, der Banken und Unternehmen genügend Spielraum verschaffe. Allerdings könnte diese Entwicklung, kritisieren Konjunkturanalytiker, schnell zu Überkapazitäten führen, denn die Nachfrage sei durch Arbeitslosigkeit und Sozialabbau geschwächt.

Das Gespenst der Deflation will daher nicht aus den Wirtschaftskommentaren weichen, sooft Bundesbank und Bundesregierung auch versuchen, es zu verscheuchen. Während einer Deflationsphase sinken die Marktpreise für Güter und Dienstleistungen - was wiederum als Anlaß für Lohnkürzungen und drastische Kapazitätsvernichtungen dient.

Das kann sich endlos fortsetzen, weil Rückschläge am Finanzmarkt sowie restriktive Haushalts- und Fiskalpolitik diese Entwicklung noch zusätzlich anheizen könnten. Verfallen die Warenpreise? Sicher ist jeder erworbene PC nach einem halben Jahr bereits zwei-, dreihundert Mark günstiger, eine Jeans auch für die Hälfte ihres alten Preises zu erhalten. Signalisieren diese Preiskämpfe schon eine Umkehr in Richtung Deflation?

"Jeder, der in den letzten 60 Jahren geboren wurde, kennt nur die ständig steigenden Preise", erinnert Roger Bootle, Chefökonom der Hongkong-Shanghai Banking Corporation, "und die Menschen gehen wie selbstverständlich davon aus, daß es in der Zukunft ähnlich wie in der jüngsten Vergangenheit sein wird." Die Verfechter der bisherigen Stabilitätspolitik müßten jedoch feststellen, berichtet Dietrich Zwätz, US-Korrespondent des Handelsblatts, daß es immer weniger Inflation zu bekämpfen gibt. Trotz der rasanten US-Konjunktur dümpelten die Verbrauchspreise bei zwei Prozent vor sich hin, während die Erzeugerpreise schon längst im Minusbereich liegen würden. "Für die offizielle Stabilitätspolitik ist das kein gutes Vorzeichen. Wenn Volkswirtschaftler schon das Ende aller Preissteigerungen deklarieren, wenn die Erzeugerpreise deflatorische Tendenzen zeigen, dann gibt es für die Verteidiger der Geldwertstabilität kaum Chancen, für ihre Politik Verständnis zu finden", erklärte Zwätz.

"Die Inflation ist so niedrig geworden", gibt der US-Notenbankchef Alan Greenspan in der Financial Times zu bedenken, "daß die Verantwortlichen darüber nachdenken müssen, an welchem Punkt eine effektive Preisstabilität erreicht ist." Die Entwicklung des Preisniveaus ist von den Lebenshaltungskosten abhängig, die für Beschäftigte ebenso zutreffen wie für Sozialhilfe-Empfänger. Die Statistik ist daher ein heikler Punkt. Im vergangenen Jahr stiegen die Verbraucherpreise laut Bundesbankbericht um 1,8 Prozent im Westen, während sich die Kosten im Osten um 2,1 Prozent verteuerten.

Aber was bliebe von dieser "Inflation" übrig, wenn die Sonderfaktoren abgezogen würden? In den neuen Bundesländern sind die völlig überzogenen Mieten und kommunalen Abgaben nicht marktkonform. Und die Steuer-, Abgaben- und Preispolitik der öffentlichen Hand wird von ihrer Finanzmisere diktiert. Mit diesen Korrekturen nähern sich die Verbraucherpreise sehr schnell den derzeitigen Erzeugerkosten - und diese waren 1997 mit 0,5 Prozent rückläufig. Natürlich gehen diese statistischen Probleme, die mittlerweile in den USA, in Frankreich und Großbritannien eingestanden werden mußten, an den Interessen der Haushalte und Einkommensbezieher vorbei, aber für die offizielle Haushalts- und Verteilungspolitik sind sie maßgeblich. Die Bundesbank berief sich Anfang der neunziger Jahre ohne Rücksicht auf andere Indikatoren auf den Anstieg der Verbraucherpreise und schränkte die Wirtschaft zinspolitisch ein.

Mit diesen Blessuren sollte Europa noch Jahre zu kämpfen haben. Aber wie sollen rückläufige Preise und fortschreitende Lohnverluste in das wahlpolitisch gewünschte Bild von heute passen? "Stabilität ist immer gut", macht Helmut Kohl deutlich, "und ich bin der Kanzler der Stabilität." Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist davon überzeugt, daß sich die deutsche Wirtschaft geradewegs in eine Deflation manövriere. Die einseitige Strategie der Exportorientierung und Kostensenkung gehe zu Lasten der Binnennachfrage. Mit der Politik der Lohnsenkung und Haushaltskonsolidierung würde sich die Marktwirtschaft, so DIW-Konjunkturexperte Heiner Flassbeck, selbst um ihre Spielräume bringen.

"Es gibt nicht nur eine Lohn-Inflations-Spirale bei zu hohen Lohnabschlüssen", ergänzt Claus Noe in der Zeit, "sondern ebenso eine Lohn-Deflations-Spirale bei Lohnabschlüssen unterhalb des Produktivitätszuwachses." Alles halb so schlimm, entgegnet den Berliner Wirtschaftsforschern Karen Horn in der FAZ. Von Deflation zu reden, sei nicht angebracht. Ihre Argumente: Die Preise sinken nicht, der Lohnrückgang gleiche nur einen vormaligen Zuwachs aus. Die Kapitalmärkte seien liquide und auf die Bundesbank schließlich Verlaß. Zweifellos geistern durch diese Experten-Debatte auch Erinnerungen aus der Zwischenkriegszeit.

In den späten zwanziger Jahren boomten und rationalisierten die USA, die Kurse an der Wall Street schossen nach oben. Aber die Landwirtschaft lag darnieder, und den Rohstofflieferanten ging es weltweit nicht viel besser. Die Wirtschaftspolitiker in Washington und New York waren stolz auf stabile Preise und sinkende Löhne. Auch noch während der Weltwirtschaftskrise glaubte sie, mit Entlassungen, Lohnkürzungen und Währungsabwertungen den Wettlauf mit den schrumpfenden Märkten zu gewinnen. Unter solchen Bedingungen könnten Preise, Löhne und Zinsen beliebig weit abfallen, räumt Karen Horn ein, ohne daß Nachfrage, Beschäftigung und Investitionen positiv reagieren würden. Und die FAZ-Redakteurin gesteht: "An der Klärung der Frage, warum diese üblichen, von der neoklassischen Theorie vorgesehenen Reaktionen ausbleiben und die Rückkehr zum Vollbeschäftigungsgewicht so schwerfällt, haben die Keynesianer großen Anteil."

Über die Gefahr einer weltwirtschaftlichen Krise läßt der internationale Finanzier George Soros keinen Zweifel: "In Amerika ist die Wirtschaft nach wie vor sehr stark, und in Europa erholt sich die Konjunktur. Nun müssen wir mit einer Flut billiger Einfuhren auf diesen Märkten rechnen, die uns von der Notwendigkeit einer Zinserhöhung befreit. Die amerikanische Volkswirtschaft profitiert davon, solange der deflationäre Druck nicht zu groß wird und die Verbraucher nicht weniger kaufen, in der Erwartung, morgen werde es billiger. Das ist in Japan passiert. In dem Fall wäre in der Tat eine Rezession denkbar, die zu einem Kollaps des Welthandelssystems führen könnte. Aber die Entwicklung ist keineswegs unaufhaltsam."

Allerdings wundert sich der Wall-Street-Broker darüber, mit welch blindem Vertrauen ein Gleichgewicht auf den Finanzmärkten erwartet wird. "Aber an den Finanzmärkten", erklärt Soros, "geht es immer um das Erahnen künftiger Preisentwicklungen, da gibt es kein Gleichgewicht."