Die entsorgte Zeit

Michael Ruetz' Bildband "1968 - Ein Zeitalter wird besichtigt"

Michael Ruetz war der Pressefotograf des Studentenprotestes, der Paparazzo der 68er. Neugierig, wie er war, tummelte er sich immer dort, wo in Berlin demonstriert und diskutiert wurde, vor allem heftete er sich an die Fersen der Rebellenpromis, er drückte im entscheidenden Augenblick auf den Auslöser, Rudi Dutschke war sein Lieblingsobjekt, er hat aber auch Andreas Baader und Fritz Teufel, Herbert Marcuse und Erich Kuby abgelichtet. Der Paparazzo hat ein liebevolles Verhältnis zu den Menschen, die er verfolgt, Michael Ruetz war Teil der Revolte.

Aus seinem Archiv hat er nun einige schwarzweiße Aufnahmen für den Bildband "1968 - Ein Zeitalter wird besichtigt" ausgewählt, die man deshalb nicht noch einmal sehen möchte, weil ihnen der Klassikernimbus anhaftet, Fotos, die Magazine wie Spiegel und stern zur Illustration ihrer Rückblicke verwendet haben. Es gibt aber auch unbekanntere Schnappschüsse in dem bei Zweitausendeins erschienenen Buch, die den Geist jener Zeit gegen nachträgliche Umdeutung sichtbar machen.

Fotos sind Ausschnitte aus der Wirklichkeit; mal ist das Bild mehr Konstruktion des Reporters, mal ist das Foto ein mehr oder weniger unmittelbares Abbild der Situation. Der Pressefotograf will immer die Bewegung der Menschen aufs Papier bannen, ohne daß die Abgelichteten den Aufnahmevorgang bemerken. Die Illusion der Intimität ist wesentlich für das Bild.

Die besten Aufnahmen aber sind solche, die einen Produktionsprozeß festhalten, der gestört worden zu sein scheint, weil die Akteure sich nicht an die üblichen Regeln der Pressefotografie gehalten haben. Eines dieser für den Journalismus eigentlich unbrauchbaren Produkte ist das Foto, das Michael Ruetz 1967 während einer Veranstaltung auf dem Campus der Freien Universität Berlin aufgenommen hat.

Die Bildaufteilung ist perfekt: In der linken Hälfte stehen die SDSler Henning Kuhlmann, der das Megaphon trägt und in den Himmel blickt, und Rudi Dutschke mit dem Mikrophon in der einen und dem Redemanuskript in der anderen Hand. Der Rest des Bildes ist mit sitzenden Studenten ausgefüllt, die zum Redner aufschauen; im Hintergrund weht ein Banner mit der Aufschrift "Benno Ohnesorg erschossen". Unheimlich allein ist der Blick Rudi Dutschkes, denn während er in die Kamera starrt, scheint er für einen Moment innezuhalten, der Redefluß ist gestoppt, der Star kann sich nicht inszenieren, er nimmt den Fotografen ausschließlich als Fremdkörper wahr.

"Ein Paparazzo ist Michael Ruetz nie gewesen", schreibt Rolf Sachsse im Vorwort zu "1968 - Ein Zeitalter wird besichtigt". Die Bilder von Michael Ruetz beweisen das Gegenteil. Das aber ist keine Schande, die Bilder von Ruetz sind genauso kritisch oder unkritisch wie die fotografierten Köpfe selbst.

Weil der Fotograf um die Aussagekraft seiner Werke weiß, hat er den Lichtbildern 30 Jahre später Titel verliehen, die sarkastisch sein wollen oder beschwichtigen sollen, ihn jedenfalls von der verfänglichen Affirmation freisprechen. Die zahlreichen Aufnahmen der Kongresse, Straßenschlachten und Kommunen zeigen nicht nur die Vorzüge dieser Epoche, sondern verweisen auch darauf, wie wenig oppositionell die politische Opposition sich derzeit verhält. Daß er in einem Nachwort zu seinem Bildband die eigene Kunst lobt, mag man als schlechten Stil abbuchen, seine Ausführungen über die politischen Verhältnisse von damals und heute sind erbärmlich: "Dreißig Jahre nach Achtundsechzig ist die Zeit weitgehend parolenfrei." Über die Propaganda für die gute Sache läßt sich trefflich streiten, nur sind die Parolen nicht generell verschwunden, die reaktionären sind lediglich übriggeblieben.

Die scheinbar unbeholfenen Bildtitel von Michael Ruetz bestätigen die Verschiebung der öffentlichen Meinung. Menschen, die sich einen "Kiesinger für Deutschland" wünschen, nennt Ruetz schlicht und einfach "Mehrheitsvertreter" und "Demonstranten"; Fotos protestierender Studenten heißen hingegen "Sturm und Drang", "Neinsager" und "Sozialistisches Lager"; die Aufnahmen blökender Omas, die einen "HARTEN KURS gegen den SDS" fordern, werden mit dem Lob der "Altersweisheit" belegt. Damit kein Mißverständnis entsteht: Kommentator Ruetz meint es ernst. "Auch ich schreibe meine Meinungen nicht um; ich lasse die bestehen, die ich damals hatte, nebst denen, die sich immer wieder bilden", behauptet Michael Ruetz. Wenn man ihm und vielen seiner ehemaligen Genossen glaubt, dann fand 1968 der größte Aufstand der Jungen Union statt.

Gegen "Sprachregelungen" wendet sich der philosophierende Fotograf, und doch spricht er dieselbe Polit-Sprache wie Henryk M. Broder, der ein Geleitwort für den Bildband verfaßt hat. Der erste Satz darin lautet: "Verglichen mit den zwölf langen und spannenden Jahren von 1933 bis 1945 ging es in der Bundesrepublik von 1945 bis in die Mitte der sechziger Jahre zu wie in einem Altersheim, dessen Bewohner gelegentlich einen gemeinsamen Kegelabend unternehmen, um etwas Aufregendes zu erleben." Die Nazis im Kanzleramt und auf den Richterstühlen hat es nicht gegeben, der Adenauer-Muff war gar nicht muffig, Frieden und Freiheit allerorten, bloß die verwöhnten Studis fühlten sich im Paradies auf Erden nicht wohl. Verwendet ein Schreiber oder Sprecher das Allzweckprädikat "spannend", obwohl weder ein Krimi noch ein Actionthriller gemeint ist, handelt es sich in der Regel um ein grauenvolles Statement, wer allerdings die Zeit des Grauens "spannend" nennt, dem ist alles zuzutrauen, dem sind alle Mittel recht, um Eindruck beim Arbeitgeber zu schinden: "In 20, 30 Jahren werden wir uns wieder bei der Vorstellung gruseln, was wäre, wenn ... und vielleicht sogar Helmut Kohl dankbar sein, daß er so lange durchgehalten hat."

Mit "Dressur" sind zwei Fotos von Michael Ruetz unterschrieben. Auf beiden sind Kinder zu sehen: Kinder (1969), die mit Fingerfarben eine Wand bemalen, und Kinder (1966), die Hand in Hand an einem Handtaschengeschäft vorbeiwandern. Die Kinder grinsen, es scheint ihnen gut zu gehen. Von Dressur keine Spur. Die Bilder lügen nicht, sie sperren sich gegen die idiotische Interpretationshilfe des Aufnahmeleiters. Statt gesellschaftliche Zwänge zu kritisieren, hält man die Kritik für zwanghaft und verliert den Bezug zur Realität. Die unaufdringlichen Angaben über die fotografierten Orte, Zeiten und Personen, die im Anhang zu finden sind, hätten als Erklärung ausgereicht.

Auch wenn die Bildaussage nicht übertextet werden kann, so verlieren die Fotos von Michael Ruetz durch das ideologische Supplement dennoch ihren ästhetischen Reiz. Was für ein Motiv: Rainer Langhans mit Struwelmähne und Muschelkette auf einem Sofa unter dem Bild von Lee van Cleef. Das Kunstwerk büßt jedoch jede Komik ein, wenn es mit "Pascha" abgestempelt wird; das bunte Wort macht das schöne Schwarzgrau-Foto häßlich.

Michael Ruetz: 1968 - Ein Zeitalter wird besichtigt. 323 Photographien mit Texten von Rolf Sachsse, Henryk M. Broder und Michael Ruetz. Zweitausendeins, 1997 Frankfurt a. M., 387 S., DM 55