»Kann ich das mal sehn?«

Oder: Was tun, wenn der Mann vom Sozialamt kommt? Einen Blick in die soziale Wirklichkeit zwischen Kleidergeldanspruch und Bedürftigkeitsprüfung wagte

Zehn nach zehn, es klingelt pünktlich an der Haustür. "Schuber*mein Name, ich komme vom Bezirksamt, hier mein Ausweis." Der Mann hält ein gelbes Plastikkärtchen hoch. Er ist um die Vierzig, recht groß, trägt einen Schnauzbart und ist nicht nett, aber freundlich. Keine Überraschungen also. Axel M.* ist trotzdem etwas nervös, schließlich ist Herr Schubert gekommen, um zu prüfen, ob Axels Antrag auf Kleidergeld, den er vor wenigen Wochen beim Sozialamt gestellt hat, auch wirklich berechtigt ist. Axel entschließt sich, ebenfalls freundlich zu bleiben: "Kommen Sie doch rein." Herr Schubert sortiert seine Unterlagen. "Ich muß mir erstmal ihre bisherigen Sachen angucken", sagt er und steuert auf Axels Schlafzimmertür zu.

Axel M. ist seit gut einem halben Jahr arbeitslos. Das Arbeitslosengeld reicht zum normalen Leben aus, doch große Sprünge sind damit nicht zu machen. In diesem Winter beantragte Axel deshalb Kleiderbeihilfe beim Sozialamt. Weil er nach seinem Status nicht leistungsberechtigt ist, bekommt er das Geld für Mantel, Schuhe, Hose, Mütze, Schal und Pullover nur als Darlehen. Später muß er die 540 Mark, die nach Listenpreisen errechnet werden, in kleinen Raten wieder zurückzahlen. Für einen Mantel gibt es auf der Liste 200 Mark, für neue Stiefel 150 Mark und so weiter.

Im zweiten Anlauf soll das Sozialamt Axel eine Matratze, zweimal Bettwäsche und fünf neue Handtücher vorfinanzieren. Die Prozedur geht wieder von vorne los: zum Amt, warten, Antrag abgeben, sich mit Sachbearbeiterinnen streiten. Diesmal kommt der Scheck von der Bezirkskasse jedoch nicht so reibungslos ins Haus. Herr Schubert kündigt sein Erscheinen eine Woche vorher an.

Axel zeigt seine Habe her. Mit Blick auf die bescheidene Schlafstatt schlägt Herr Schubert vor: "Möchten Sie nicht auch noch ein Bett mit beantragen?" Auch die anderen vorhandenen Dinge sind ausreichend zerschlissen. Mit geübtem Auge entdeckt Herr Schubert noch ein Handtuch hinter der Badezimmertür. "Nein, das gehört der Frau D.*"

Axel wohnt zusammen mit Gabi D. in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Berlin-Friedrichshain. "Menschen ohne Job und ohne Hoffnung stehen mit der Bierflasche auf der Straße", schreibt die B.Z. über die Rigaer Straße, die gerade ein paar hundert Meter von hier entfernt ist. Friedrichshain ist zwar nicht der ärmste Bezirk der Hauptstadt, doch besonders gut geht es den Leute hier nicht. Von den rund 58 000 Friedrichshainer Erwerbspersonen waren im Februar 10 112 ohne Arbeit. Das liegt nur wenig über dem Berliner Schnitt.

Bei der Zahl der Sozialhilfe-Empfänger steht der Bezirk sogar ganz gut da. 46,04 kommen durchschnittlich auf tausend Einwohner. Ein Wert, der in der Nähe dessen der eher als gutbürgerlich bekannten Westberliner Quartiere Wilmersdorf und Steglitz sowie des Hauptstadtbezirks Mitte liegt. Die meisten Berliner Sozi-Empfänger wohnen im Wedding. Auf tausend Einwohner kommen hier 168,39 Leistungsbezieher. Im benachbarten Kreuzberg sind es 157,65, im wüsten Neukölln 109,37. Es sind also eher die pittoresk verfallenen Häuserfassaden, die die lokale Presse im Zuge der Zusammenlegung von Friedrichshain und Kreuzberg bei der nächsten Bezirksreform von der "Schaffung von Elendszonen" faseln lassen.

Das Haus, in dem Gabi und Axel wohnen, sieht auch nicht gerade toll aus, aber die Wohnung ist okay. Abgezogene Dielen, frischgekacheltes Bad, funktionierende Gasetagenheizung. Daß die beiden hier zusammen wohnen, machte das Sozialamt skeptisch: Handelt es sich hier um eine WG? Oder besser noch um eine eheähnliche Gemeinschaft? Da könnte doch noch jemand sein, der für Axels Unterhalt haftbar zu machen ist.

Herr Schubert stellt pflichtgemäß seine Frage: "Wohnen Sie hier in einer Wohngemeinschaft?" Nee, in einer Mietergemeinschaft. Der Satz klingt wie einstudiert. "Na, dann muß ich jetzt prüfen, ob Sie eine Wohngemeinschaft oder eine Mietergemeinschaft sind." Der Blick in das Zimmer der Mitbewohnerin bleibt versperrt. "Wie machen Sie das denn mit Einkauf, Abwasch und so?" Natürlich ist alles getrennt. Es folgt der obligatorische Kühlschranktest: "Kann ich das mal bitte sehen?" Säuberlich wurde alles in verschiedene Fächer sortiert, zweimal Butter, zweimal Käse, alles liebevoll arrangiert, es fehlen nur die Aufschriften auf den Frühstückseiern: "Gabi" und "Axel". Aber das wäre vielleicht etwas zu dick aufgetragen gewesen.

Sozialhilfe ist ein hartes Geschäft in Deutschland. Wer später einmal in der Bild-Zeitung stehen will, muß klein anfangen. "65 000 Mark abgezockt! Schon wieder Sozialhilfebetrüger erwischt!" So oder ganz ähnlich steht es dort fast jede Woche geschrieben, und man fragt sich: Wie machen die das nur? Wenn man nämlich mal einen ganz normalen Sozialhilfe-Empfänger befragt, bekommt man immer nur die Schwierigkeiten auf dem Amt vorgehalten: Ewiges Warten in vollen Fluren, unfreundliche Beamte, die so tun, als verteilten sie ihr eigenes Geld, erfolglose Anträge und fehlende Unterlagen, die später nachgereicht werden müssen. Kommen Sie am besten gleich nächste Woche wieder! Wie soll man da nur 65 000 Mark zusammenbekommen? Eigentlich eine beeindrukkende Leistung.

Von der anderen Seite aus sieht die Sache auch nicht viel besser aus. Ständig einen Flur voller wartender Klienten, viele der Antragsteller sind schon so fertig, daß sie ihre Unterlagen nicht mehr vernünftig zusammenbekommen, der ständige Druck von oben, die geringen Budgets einzuhalten, und dann sind da auch noch die ganz Schlauen, die sich besser als man selbst im BSHG auszukennen meinen.

Herr Schubert arbeitet nicht nur für das Sozialamt, sondern für alle Abteilungen des Bezirksamtes. "Die geben uns einen konkreten Auftrag, und wir prüfen die Notwendigkeit." Eine Empfehlung wird er nicht abgeben, sondern nur einen Bericht, in dem steht, was er vorgefunden hat. "Der ist dann nächste Woche beim Sozialamt." Zu besonderen Zwischenfällen sei es bei seiner Arbeit bisher noch nicht gekommen. "Aber ich denk' mal, damit ist zu rechnen. Die Klientel ist nicht immer so einfach wie hier, sondern da gibt es auch Alkoholiker und so", vor deren Unberechenbarkeit sich der stämmige Herr Schubert offensichtlich fürchtet. Er geht auch einem etwas merkwürdigen Beruf nach. In seiner Rolle als Bedürftigkeitskontrolleur ist er schließlich der natürliche Feind der Antragsteller. Daß die über eine Woche Zeit haben, um ihre Wohungen den vermeintlichen Ansprüchen des Prüfers entsprechend herzurichten, weiß auch Herr Schubert. Was kann man da schon groß prüfen?

"Na, das war's denn schon", sagt Herr Schubert und hält kurz inne. Für den Fall, daß Axel in der nächsten Zeit weitere Anträge auf Haushaltsgegenstände oder Möbel stellen will, macht er noch schnell eine Inventur des Zimmers. "Damit wir dann nicht nochmal kommen müssen." Ein vorausschauender Mensch.

*Die Namen wurden geändert und sind der Redaktion bekannt.