Volle Kraft zurück!

Nach dem Ende der Export-Industrialisierung in Südkorea stehen die Gewerkschaften mit dem Rücken zur Wand

"Das Volk fühlt den wahren Schmerz noch nicht. Der echte Schmerz wird erst noch kommen." You Jong-Keun, Wirtschaftsberater der neuen südkoreanischen Regierung, erklärte kürzlich, was die Beschäftigten zu erwarten haben: Um die Krise in den Griff zu bekommen, hat Präsident Kim Dae-Jung an den bisherigen Grundlagen der staatlichen Wirtschaftspolitik gerüttelt. Für die "Chaebols", wie die von Familienclans geführten Mischkonzerne in Südkorea heißen, soll es in Zukunft keine Vergünstigungen mehr geben. Die Verkettung der Unternehmen und ihre massive staatliche Unterstützung gilt in Südkorea als eine Ursache für die Schulden- und Währungskrise. Im Februar wurde eine Deregulierung des Arbeitsmarktes beschlossen: Betriebsbedingte Entlassungen sind nun möglich, eine Beschäftigungsgarantie wird es künftig nicht mehr geben. Mitte April traten fast 14 000 Arbeiter des angeschlagenen Autokonzerns Kia-Motors in den Streik, um einen Verkauf des Unternehmens zu verhindern. Die sozialen Verbesserungen, die von der Gewerkschaftsbewegung in harten Konflikten erst während der neunziger Jahre durchgesetzt wurden, sollen nun wieder zurückgenommen werden.

Dabei waren die südkoreanischen Arbeiter vor kurzem noch stolz auf das "Wirtschaftswunder" ihres Landes gewesen und hatten den Versprechungen eines langfristig wachsenden Wohlstand geglaubt. Der ökonomische Aufstieg wurde zwar in den vergangenen Jahren mit einer ökologischen Verwüstung erkauft: mit verpesteter Luft, vergifteten Flüssen und abgeholzten Wäldern. Dennoch ließen sich die Menschen von der Aussicht verlocken, der alten Armutskultur zu entkommen. Viele Arbeiter aus den Kernbelegschaften der südkoreanischen Weltmarkt-Konzerne konnten sich zum ersten Mal Autos, Kühlschränke und Fernseher leisten; ein Fernziel für die übrige Bevölkerung. Und jetzt soll das Wunder zu Ende gehen, bevor es überhaupt richtig begonnen hat?

Doch die "harten Reformen", die You Jong-Keu angekündigt hat, sind nur das vorläufige Ergebnis einer Krise, die das Land schon lange vor dem Börsencrash ergriffen hat. Die Industrialisierung Südkoreas stand von vornherein auf tönernen Füßen, weil sie bereits Bestandteil der Globalisierung auf einem hohen Entwicklungsniveau des Weltmarkts war. Die staatliche Steuerung nach dem Vorbild Japans konnte zwar zunächst eine nationalökonomische Entwicklung durch die Exportindustrien vortäuschen; aber diese Option wurde schneller als erwartet von der Globalisierung wieder aufgehoben.

Weil die staatliche Rahmenplanung dem Konzept der Export-Industrialisierung folgte, begünstigte sie einseitig die großen Weltmarkt-Konzerne wie Daewoo, Goldstar, Samsung, Hyundai usw. Diese Chaebols hatten von Anfang an kein Interesse an einer ausgeglichenen Binnenstruktur der südkoreanischen Wirtschaft. Sowohl die Militärs als auch die Chefs der Konzerne kannten nur ein Ziel: möglichst schnell auf dem Weltmarkt Erfolg zu haben. Deshalb setzten sie voll auf ihren einzigen Vorteil: niedrige Löhne und miserable Arbeitsbedingungen. Alle Versuche gewerkschaftlicher Organisierung wurden mit brutalen Mitteln zerstört. Aber dieses Mittel funktionierte nur solange, wie sich der Export auf die Produkte der Leichtindustrien (Textilien, Schuhe usw.) beschränkte. Mit dem Übergang zu Schwerindustrien (Stahl, Schiffbau) und High-Tech-Industrien (Elektronik, Autos) mußten nach einer längeren Inkubationszeit die Schwächen dieses Modells zum Vorschein kommen.

Obwohl die südkoreanische Regierung und die Chaebols formal langfristig planten, war ihre strategische Orientierung in Wirklichkeit bloß auf kurzfristige Erfolge und auf eine plumpe quantitative Ausdehnung programmiert. Der qualitative Unterschied zwischen billiger Massenware und High-Tech-Produkten wurde nicht berücksichtigt. Diese Fehleinschätzung schlug sich in einer kurzsichtigen Wachstumspolitik nieder, deren Erfolge schon lange zurückliegen und nun in eine negative ökonomische Kettenreaktion umschlagen.

Die Chaebols konzentrierten sich auf wenige Branchen, um in den High-Tech-Industrien durch billige Exporte das Muster der früheren leichtindustriellen Exportoffensive zu wiederholen. Sie vernachlässigten den Aufbau eines breiten Spektrums von Industrien und machten sich von relativ wenigen Produkten abhängig. Um Kosten zu sparen und schnell mit großen Produktmengen auf die Weltmärkte zu drängen, verzichtete man in den ausgewählten Branchen auf die Beherrschung der gesamten Fertigungstiefe. Auf diese Weise ist Südkorea selbst in seinen vermeintlichen Erfolgsbranchen immer von der Einfuhr japanischer und westlicher Technologie abhängig geblieben.

Die kurzfristige und rein quantitative Orientierung führte zu einer ständigen Erweiterung der Produktion ohne ausreichende Steigerung der Produktivität. Der hohe Einsatz von Kapital wurde von einem ebenso hohen Einsatz von Arbeitskraft begleitet, ohne daß die Kapitalintensität wesentlich stieg. Wie in einem Baukastensystem reihte sich Fabrik an Fabrik; es gab zu viel Erweiterungs-Investitionen und zu wenig Rationalisierungs-Investitionen. Südkorea mußte also auch in den High-Tech-Industrien gegen die alten Industrieländer fast ausschließlich mit anachronistischen Billiglöhnen und mit Hilfe des Wechselkurses konkurrieren.

Um die quantitative Exportoffensive nicht mit Kosten zu belasten, vernachlässigte der Staat den Ausbau der Infrastruktur. Gemessen an der Steigerung seines Exportvolumens hat Südkorea heute viel zu wenig Straßen, zu schlecht ausgebaute Flugplätze, Seehäfen, Eisenbahnlinien, Kommunikationsnetze usw. Auch das Schul- und Universitätssystem und die Institutionen der technischen Ausbildung sind weit zurückgeblieben. Gleichzeitig verzichtete die Regierung weitgehend auf eine Entwicklung der Landwirtschaft; Südkorea wurde von Lebensmittel-Importen abhängig.

Es ist kein Wunder, daß diese kurzatmige Offensive auf den Weltmärkten zum Stehen kommen mußte. Konnte Südkorea in den achtziger Jahren dank der "Voodoo-Ökonomie" von Präsident Ronald Reagan und des damit verbundenen extrem hohen Dollar-Kurses seine inneren Schwächen noch mit einer Exportflut in die USA kaschieren, so war das Modell der rein quantitativen Steigerung in den neunziger Jahren nicht mehr lange durchzuhalten. Durch die primitive Strategie der ständigen Erweiterungs-Investitionen wurden wegen der Vernachlässigung des Ausbildungssystems auch die qualifizierte Arbeitskraft besonders knapp. Entsprechend mußten die Löhne sukzessive ansteigen. Auf diese Weise erweiterte sich zwar der Binnenmarkt sehr schnell, aber nicht für die südkoreanische Industrie selbst. Denn wegen ihrer Fixierung auf die Exportoffensive hatten sich ja die Chaebols auf wenige Produkte konzentriert, und so konnten sie jetzt nicht ausreichend auf die Erweiterung des Binnenmarkts umschalten. Statt dessen kam die zusätzliche Kaufkraft der südkoreanischen Arbeiter hauptsächlich ausländischen Anbietern zugute, die den wachsenden Binnenmarkt überschwemmten. Nicht nur auf den Sektoren der Technologie und der Lebensmittel, sondern auch bei industriellen Konsumgütern wurde Südkorea von Importen abhängig.

Das quantitative Exportmodell wurde also von mehreren Seiten in die Zange genommen. Die Chaebols verloren ihren Hauptvorteil, die niedrigen Löhne, ohne daß sie andererseits den Vorteil des wachsenden Binnenmarktes entsprechend wahrnehmen konnten. Gleichzeitig verteuerte sich der Import japanischer und westlicher Technologie, während umgekehrt die Preise für die südkoreanischen Endprodukte verfielen.

So ist es leicht erklärbar, warum das jährliche Defizit der Handelsbilanz in den neunziger Jahren rasch von sechs auf zwölf und schließlich auf 30 Milliarden Dollar stieg. Die Chaebols haben längst auf die veränderte Situation reagiert und von der Perspektive einer nationalökonomischen Export-Industrialisierung unter Staatsregie auf die neue, transnationale Existenzweise als global players umgeschaltet. Soweit die Montage mit unqualifizierter billiger Arbeitskraft betrieben werden kann, wird sie nach Vietnam und China ausgelagert. Gleichzeitig kaufen die Konzernchefs Werke in den USA und in Europa auf, um nicht durch protektionistische Maßnahmen ausgesperrt zu werden und die bessere europäische Infrastruktur auszunützen. Schon 1994 begann Daewoo in Polen mit dem Bau eines großen Werkes für die Produktion von Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräten. 1995 gab Lee Kun Hee, der Chef von Samsung, die Parole aus: "Die Produkte für Europa sollen künftig in Europa produziert werden." Seitdem kauft Samsung in Europa Firmen wie Brötchen auf. Gleichzeitig sind die Chaebols ebenso wie westliche und japanische Konzerne massiv in die globale Finanzspekulation des "Kasinokapitalismus" eingestiegen. 1994 entfielen nicht weniger als 58 Prozent des Umsatzes von Samsung auf Finanz- und Informationsdienste.

Für die südkoreanische Nationalökonomie bedeutet die rapide Globalisierung der Chaebols eine zusätzliche Verschärfung der angespannten sozialökonomischen Situation. Der starke Abfluß von Kapital entzieht der Regierung die Kontrolle über die weitere Entwicklung. Durch die Verlagerung der Investitionen ins Ausland wurden Massenentlassungen unvermeidlich. Die südkoreanische Elite reagiert nach bewährter Manier mit "harter Hand" auf die Wachstumskrise. Die Fata Morgana von industriellem Wohlstand, sozialem Konsens und demokratischer Normalität verblaßt. Das jüngste Mitglied der OECD scheint von der Diktatur der Entwicklung zur Diktatur der Krise überzugehen.