Bedrohlicher als Bomben und Raketen

Armut und Arbeitslosigkeit in Israel - fast ein Fünftel der Bevölkerung lebt am Rande des Existenzminimums

Ehud Barak ist der Gegenspieler von Benjamin Netanyahu. Zumindest will der Vorsitzende der israelischen Arbeitspartei dies sein. Und wie sein Gegenpart, der konservative Ministerpräsident, so ist auch Barak im eigenen Lager umstritten. Weder er als Person noch seine Partei repräsentieren für große Teile der israelischen Öffentlichkeit die Alternative zum Likudblock. Ende März stellte Ehud Barak sein großes Projekt eines "Sozialvertrags" vor. Austüfteln ließ er es von der Friedrich-Ebert-Stiftung der deutschen SPD. Es gelte, erklärte Barak, Ghettos in Israel zu verhindern, "Ghettos der Immigranten, der Ultra-Orthodoxen und der Armen".

Das Ziel, das sich Barak von der Ebert-Stiftung austüfteln ließ, ist, "daß sich die Menschen in Entwicklungsstädten und benachteiligten Wohngegenden selbst helfen." Dafür will Baraks Arbeitspartei Hunderte von freiwilligen Aktivisten gewinnen, die in die Siedlungen gehen und mit anpacken. "Grassroot" wird die Initiative, die sowohl in der Jerusalemer Parteizentrale als auch in Bonn ausgeheckt wurde, genannt.

"Der Krieg der Kulturen", sagte Ehud Barak, als er sich vor die etwa hundert Freiwilligen stellte, "ist näher herangerückt, als wir wahrscheinlich denken, und die Gefahr, daß unsere Gesellschaft auseinanderfällt, ist größer als die Drohung durch arabische Armeen, Raketen oder biologische Waffen." Bei Reisen in sozial benachteiligte Gegenden Israels sei er überzeugt worden, daß die Menschen dort nicht länger bereit seien, den Widerspruch zwischen den Versprechungen der Netanyahu-Regierung und der Realität zu akzeptieren.

Was Barak neu entdeckt zu haben glaubt, ist aber in Israel schon ein altes Thema: die Armut. Schätzungen, die die Regierung Ende letzten Jahres veröffentlichte, gehen von fast 700 000 Menschen unter der Armutsgrenze aus, das sind etwa 17 Prozent der Bevölkerung. Statistisch beginnt in Israel die Armut, wenn eine Person weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdient. Das lag für den Zeitraum des Berichts - der Vergleich zwischen 1995 und 1996 - bei ungefähr 1 300 Shekel, das sind etwa 750 Mark, wobei sich die Preise in Israel auf westeuropäischen oder US-amerikanischen Niveau bewegen.

Der Gewerkschaftsdachverband Histadrut spricht davon, daß "jedes fünfte Kind in Armut lebt". Auch konservative Blätter wie die Jerusalem Post oder die rechtskonservative Hatzofeh halten die Zahl von 300 000 Kindern, die unter Bedingungen unterhalb der Armutsgrenze aufwachsen, für realistisch. Wie dramatisch die Situation ist, wird deutlich, schaut man sich die neueste Arbeitslosenstatistik an, die die Regierung Ende April dieses Jahres vorlegte. Die offizielle Arbeitslosenquote beträgt 6,5 Prozent, was bei einer Armutsrate von fast 17 Prozent zeigt, wie stark sich das Lohnniveau nach unten bewegt hat und auch Menschen mit vollem Arbeitsverhältnis faktisch auf die Wohlfahrt angewiesen sind.

Im März 1998 suchten 163 400 Israelis und Palästinenser in den Gebieten, die von der Autonomiebehörde verwaltet werden, einen Job. Am stärksten betroffen sind kleine Städte im Westjordanland. Zusätzlich zu den Arbeitslosen drücken auch etwa 250 000 Gastarbeiter und 100 000 palästinensische Arbeitsmigranten, die sich oft als Tagelöhner verdingen, das Lohnniveau. Neue Antworten auf diese Entwicklung hörte man bislang weder von der Histadrut noch von der Arbeitspartei. Die geben vor allem der Likud-Regierung von Benjamin Netanyahu und der Zentralbank die Schuld. Histadrut-Vorsitzender Amir Peretz, der auch für die Arbeitspartei in der Knesset sitzt, sagte, die Zentralbank "unterdrückt die Inflation, indem sie Zehntausende Familien ohne Einkommen unterdrückt". Gefordert wird von der Histadrut ein Sofortprogramm in Höhe von zwei Milliarden Shekel, etwa eine Milliarde Mark, um Arbeitsplätze zu schaffen.

Solch keynesianischen Vorschläge drohen aber auch in Israel an der Krise der Staatsfinanzen zu scheitern. Politiker der erst vor wenigen Monaten aus der Koalition ausgetretenen Gesher-Partei fordern deshalb ganz neue Konzepte. Deren Knesset-Abgeordneter Maxim Levy erklärte: "Die Netanyahu-Regierung hat keinen Blick für soziale Themen, und die Histadrut hat ihre Fähigkeit verloren, die Arbeiter zu beschützen." Und: "Die Zeit ist reif für einen Kampf zur Rettung der israelischen Gesellschaft." Levy wird auch bei der nächsten Histadrut-Wahl um den Vorsitz gegen Amir Peretz antreten. Diese Kandidatur wird auch von der linken Meretz-Partei unterstützt. Da Peretz selbst schon des öfteren seine Unzufriedenheit mit der Arbeitspartei kundtat und sogar schon öffentlich über die Gründung einer neuen Linkspartei nachdachte, sieht nun die Arbeitspartei ihre Felle wegschwimmen.

Vor diesem Hintergrund hat nun die Arbeitspartei rund um Ehud Barak zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung ihr neues kommunitaristisches Konzept des "Sozialvertrags", der von freiwilligen Sozialarbeitern realisiert werden soll, ausgetüftelt. Wenn das klappte, könnte Barak das werden, was er gerne wäre: die personifizierte Alternative zu Benjamin Netanyahu.