Steuern oder Leben

Mit einem neuen Krisenprogramm will die russische Regierung den Staatsbankrott verhindern

Dill und Kartoffeln aus den zahllosen Datschen bewahren die russischen Haushalte derzeit vor dem Zusammenbruch - nicht die 670 Millionen US-Dollar, die der Internationale Währungsfonds (IWF) in dieser Woche nach Moskau überweist. Schon seit acht Monaten haben zahlreiche Bergarbeiter und Staatsangestellte keine Gehälter mehr gesehen. Doch auch von anderer Seite droht der Regierung Jelzin Gefahr. Der Wert der Aktien an der Moskauer Börse ist seit Jahresbeginn um 60 Prozent gefallen, die Leitzinsen stiegen zeitweise auf astronomische 150 Prozent. Die Devisenreserven der Zentralbank betragen noch zwischen zehn und 16 Milliarden Dollar - ihnen stehen rund 20 Milliarden Dollar an ausländischen Staatsanleihen gegenüber. Sollte dieses Geld aus Rußland abgezogen werden, wäre eine Rubelabwertung unausweichlich. Die Regierung würde damit endgültig in ihren Auslandsschulden versinken - schon jetzt muß der Staat ein Drittel des Haushalts für den Schuldendienst aufwenden, obwohl im Budget nur 25 Prozent vorgesehen waren.

Vergangene Woche blieb Premierminister Sergej Kirijenko daher nichts anderes übrig, als mit großem Getöse ein Krisenprogramm vorzustellen, das den Anforderungen des IWF entspricht. Zum wiederholten Mal verspricht die Regierung, endlich Steuern von ihren Bürgern und den Unternehmen einzutreiben, die Staatsausgaben um acht Prozent zu verringern und die Einnahmen um vier Prozent zu erhöhen. Einhundert Milliarden Rubel mehr Steuern als bisher sollen damit eingenommen werden.

Die geringen Steuereinnahmen sind seit Jahren der Schwachpunkt des russischen Budgets. Nach Schätzungen der Steuerbehörde zahlen etwa 90 Prozent der Russen keine Abgaben. Allein Gasprom, der landesweit größte Öl- und Gasförderer, hat bei der Steuerbehörde Ausstände von etwa 4,2 Milliarden Rubel (1,23 Milliarden Mark). Und alle privaten Steuerzahler zusammen zahlten 1997 nur etwa 75,6 Milliarden Rubel, etwas mehr als 22 Milliarden Mark.

Auf Boris Fjodorow, ehemaliger Finanzminister und seit einem Monat Chef der Steuerbehörde, lasten jetzt die Hoffnungen der russischen Regierung. Zwar gibt sich Fjodorow gelassen, wenn es um die Frage geht, wie er mit den einflußreichen Moskauer Geschäftsleuten umgehen wird, die häufig auch über eigene Medienunternehmen in der Lage sind, Stimmung gegen Entscheidungen zu machen, die ihre Geschäfte beeinträchtigen. Es sei ihm völlig egal, sagte er in einer Rede vor der Amerikanischen Handelskammer in Moskau, welcher "Oligarch" Anteile an welchen Unternehmen besitze: "Alle werden Ziel der Untersuchungen sein, aber ich würde gern fünf sehr berühmte Leute in Handschellen sehen, zumindest eine Nacht lang. Das würde einen guten Eindruck machen." Doch zugleich gestand er ein, daß er von den 350 000 Angestellten, die in seiner Behörde arbeiten, mehr als die Hälfte für überflüssig halte . Auch seien sie mit ihren niedrigen Gehältern äußerst anfällig für Bestechungsversuche.

Mit welchen Hindernissen Fjodorow zu kämpfen haben wird, zeigte sich Anfang Juni, als der Chef des staatlichen Statistikamtes, Jurij Jurkow, unter Bestechungsverdacht festgenommen wurde. Ihm wird vorgeworfen, amtliche Wirtschaftsstatistiken gefälscht zu haben, um Unternehmen Steuern zu ersparen. Als die Polizei seine Villa stürmte, fand sie dort Schmuck und Bargeld im Wert von 1,5 Millionen US-Dollar. Die Wirtschaftskolumnistin des Magazins Expert stellte daraufhin die Frage, wieviel Geld wohl direkt bei der Steuerbehörde landet, wenn selbst an das unwichtige Statistikamt schon derart hohe Bestechungssummen fließen.

Das Krisenprogramm sieht nun vor, eine allgemeine Mehrwertsteuer in Höhe von 20 Prozent einzuführen und die Steuerlast von den Produzenten auf die Konsumenten zu verlagern. Bisher werden zum Beispiel bei Ölfirmen Steuern fällig, sobald der Rohstoff gefördert ist - auch wenn sie dafür vom Abnehmer noch keine Kopeke gesehen haben. Die Ölförderer, größte Einnahmequelle des Staates, zahlen daher kaum Steuern, weil sie auf die Zahlungen ihre Kunden warten müssen. In Zukunft soll die Steuer auf das Benzin aufgeschlagen werden, das bisher nur etwa 80 Pfennig pro Liter kostet. Gleichzeitig soll eine Steuer auf Tauschgeschäfte erhoben werden, die Umsatzsteuer komplett entfallen und die Gewinnsteuer sinken, um die Unternehmen zu entlasten und Investitionen zu erleichtern.

Alle diese Vorschläge sind nicht neu, und schon seit Monaten verspricht die Regierung, einschneidende Maßnahmen umzusetzen, um den Staatshaushalt zu entlasten. Dennoch sind die Steuereinnahmen im ersten Quartal 1998 um 14 Prozent gesunken, die monatlichen Steuereinnahmen liegen etwa fünf Milliarden Rubel unter dem angestrebten Ziel von 15 bis 17 Milliarden Rubel. Schuld daran sind allerdings auch die gesunkenen Weltmarktpreise für Öl: Im Juni kostete das Barrel 12,30 Dollar - der niedrigste Stand seit zehn Jahren.

Die einzige Möglichkeit, die Staatsausgaben deutlich zu senken, ist jedoch für die Regierung sehr gefährlich: Vier Fünftel aller Staatsbediensteten sollen entlassen werden. Bereits im Mai platzte den Bergarbeitern im Osten des Landes der Kragen, da sie seit Monaten kein Geld mehr gesehen hatten. Obwohl Jelzin den Arbeitern vorwarf, selbst zum Niedergang des Landes beizutragen, war er gezwungen, lang ausstehende Gehälter zu zahlen. Manche Firmen wurden von der Polizei mit Waffengewalt gezwungen, Bargeld aus ihren Safes und Vorräte aus ihren Kantinen an die Arbeiter zu verteilen. Das reichte jedoch lange nicht aus, um die Ausstände zu begleichen.

Bereits seit zwei Wochen campieren nun Bergarbeiter vor dem Weißen Haus, dem Regierungssitz in Moskau. Häufig finden sich Wissenschaftler, Studenten und Oppositionsparteien zu Solidaritätsbekundungen ein. Sollte der Staat nun tatsächlich Millionen von Bediensteten auf die Straße setzen, könnte niemand sagen, welche sozialen Konsequenzen dies nach sich ziehen würde.

Doch zuerst muß das Krisenprogramm das Parlament passieren. Jelzin will es noch vor dem Beginn der Sommerpause Mitte Juli durchboxen. Die Jabloko- und Unser Haus Rußland-Fraktionen haben ihre Unterstützung angekündigt, während Kommunistenchef Sjuganow erwartungsgemäß drohte, den Entwurf durchfallen zu lassen. Jelzin ist sicher, daß er das Gesetz durchsetzen wird. "Wenn die Duma nicht zustimmt, dann eben auf eine andere Weise", sagte er auf einer Pressekonferenz, was als kaum verhüllte Drohung verstanden werden konnte, das Parlament im Falle des Widerstandes aufzulösen. Im März hatte der Präsident auf diese Art bereits erfolgreich seinen Premierministerkandidaten Kirijenko ins Amt gehoben - der jetzt der Lage so hilflos gegenübersteht.