Die Mysterien des Casinos

Spekulation von New York bis Ulan Bator: Dem Kapitalismus steht der Aufprall auf dem harten Boden der Realität noch bevor.

Seit mehr als fünfzehn Jahren boomt nun schon der globale Kasino-Kapitalismus. Das Verhältnis von realer Produktion und Finanzökonomie hat sich verkehrt. Nicht mehr das Wachstum der Märkte für Konsum- und Investitionsgüter bestimmt das Wachstum der Finanzmärkte, sondern genau umgekehrt: Die scheinbar verselbständigte Wucherung des spekulativen Geldkapitals diktiert die Konjunktur von Industrie und Dienstleistungen. Während die Weltwirtschaft pro Jahr durchschnittlich um zwei bis drei Prozent wächst, steigen die Kurse der Aktien um das Zehn- bis Zwanzigfache, und zwar in permanenter Progression.

Zwar hat es Wellen der Spekulation schon früher gegeben, aber noch niemals in einem derartigen Ausmaß und über einen derart langen Zeitraum hinweg. Nicht nur an den zentralen Börsenplätzen in den USA und Westeuropa jagt ein "Allzeithoch" das andere. Seit Mitte der neunziger Jahre verdoppelten sich die Aktien-Indizes von New York und Frankfurt; der Dow Jones explodierte von 4 000 auf knapp 9 000 Punkte, der Dax von 2 000 auf 6 000 Punkte. Die frohe Botschaft von der Erlösung durch das kapitalistische Spielkasino hat sich schneller über die Erde verbreitet als die Lehre Christi. Auch an der Peripherie des Weltmarkts, mitten in den Ozeanen der Armut, blüht das Wetten mit Wertpapieren. Trotz des Mexiko-Crashs ist wieder "Fresh Money" an die Börsen Lateinamerikas geflossen. Selbst dort, wo realökonomisch kein Gras mehr wächst, finden sich finanzkapitalistische "Emerging Markets", die aus der ganzen Welt mit nach Anlage suchendem Geldkapital bedient werden. Am Ende der Welt, in Ulan Bator, handelt die mongolische Börse mit surrealen Privatisierungs-Zertifikaten einer darniederliegenden Wirtschaft. In der Ukraine, in Bulgarien oder Rumänien werden dubiose Papiere nicht selten in ebenso dubiosen Hinterzimmer-Banken mit Erfolg plaziert. Hatte die Warschauer Börse schon 1994 einen Weltrekord mit der Steigerung ihres Aktien-Index um mehr als 1 300 Prozent hingelegt, so brachte es der Moskauer MT-Index im Sommer 1997 trotz anhaltender Talfahrt des Sozialprodukts immerhin noch auf eine Steigerung um 180 Prozent.

Nichts ist unmöglich: Sogar im Hunger- und Bürgerkriegs-Kontinent Afrika entsteht eine neue Börse nach der anderen. In einer Reportage über den Wertpapiermarkt in Sambia, dessen "liberales Regelwerk lockt", schrieb das Handelsblatt: "Der unscheinbare Eingang zur sambischen Börse, der Lusaka Stock Exchange (Luse), liegt bezeichnenderweise zwischen einem Schlips- und Kurzwarenhändler. Hinter einer Tür und einem Stufenaufgang tritt der Besucher in ein Zimmer mit ein paar Schreibtischen, einem Kopiergerät und einigen Computern. Wer nach dem Börsenparkett fragt, wird verwundert angeschaut. Schließlich steht der Besucher mittendrin. Trotz der beschränkten Räumlichkeiten besteht kein Grund zum Hochmut. 1996 stieg der Umsatz der Luse um fast das Zehnfache." Ob Nordkap oder Äquator: Das Risikospiel um Geld ist zum allgemeinen Faszinosum geworden, wenn auch mit höchst unterschiedlichen Volumina. Die Hoffnung auf Glück im Spiel kennzeichnet inzwischen den Zeitgeist. Dabei kann jeder, dem die Fähigkeit zu logischem Denken nicht völlig abhanden gekommen ist, sehen, daß der neue Finanzkapitalismus keinen Boden unter den Füßen hat.

Auf die Dauer ist es unmöglich, daß nur die "Arbeit" als sozialer Faktor für sich allein in der Krise ist, während das Geldkapital munter weiter akkumuliert. Denn was das Kapital akkumulieren kann, ist letzten Endes nichts anderes als in Geld verwandelte "Arbeit". Eine überdimensionierte Hausse der Aktienmärkte ist nur dann substantiell gerechtfertigt, wenn sie einen großen historischen Boom der realen Ökonomie vorwegnimmt. Als sich die Aktienkurse in Deutschland Anfang der fünfziger Jahre in kurzer Zeit verzehnfachten, wurde diese damalige Expansion durch das wenig später folgende "Wirtschaftswunder" gedeckt.

Heute aber ist von einer großen historischen Expansion der realen Ökonomie weit und breit nichts zu sehen. Die Weltwirtschaft dümpelt auf einem niedrigen Niveau des Wachstums unter drei Prozent, während die strukturelle Massenarbeitslosigkeit ansteigt. Es ist gerade die mangelnde Rentabilität zusätzlicher Realinvestitionen, die immer größere Massen von Geldkapital in das Spielkasino der Finanzmärkte strömen läßt. Der Kapitalismus ist gewissermaßen im obersten Stockwerk seines babylonischen Turmes aus dem Fenster gesprungen. Die große Frage ist, warum der Aufprall auf dem harten Boden der Tatsachen bis jetzt nicht stattgefunden hat.

Diese Verzögerung läßt sich durchaus erklären. Ein wichtiger Grund besteht darin, daß das Geld im Laufe des 20. Jahrhunderts seine eigene Wertsubstanz verloren hat. Bis zum Ersten Weltkrieg waren alle Währungen durch Gold gedeckt, das als eigentliches Weltgeld fungierte. Durch diese Bindung an die objektive Wertmasse des Goldes war eine Art "automatische Bremse" gegen eine schrankenlose Ausdehnung der Geldmenge in das Finanzsystem eingebaut. Die Kriegsökonomien der ersten Jahrhunderthälfte zwangen jedoch die Staaten, ihre Währungen vom Gold zu entkoppeln, um die immensen Kosten der Kriegführung finanzieren zu können.

Als das staatliche "deficit spending" auch in Friedenszeiten die Konjunktur ankurbeln mußte, wurde bald deutlich, daß es kein Zurück zum Gold geben konnte. Solange der Dollar als neues Weltgeld noch goldkonvertibel war, blieb das globale Finanzsystem trotzdem wenigstens indirekt durch das Gold verankert. Seitdem aber 1973 diese letzte Bremse ausgebaut wurde, konnte sich nicht nur die Staatsverschuldung, sondern auch die Spekulation in einer früher nicht für möglich gehaltenen Dimension von der Realökonomie entkoppeln.

Damit ist aber die grundsätzliche Logik des Systems keineswegs ausgehebelt, die das Wachstum des Geldkapitals an die Substanz der (kapitalproduktiven) "Arbeit" bindet. Der Absturz der scheinbar verselbständigten Akkumulation von Geldkapital findet dann eben aus einer größeren (inzwischen geradezu stratosphärischen) Höhe mit umso schlimmeren Folgen statt. Das Karussell der Börsen kann sich nur weiterdrehen, solange immer neue Liquidität nachfließt. Sobald der Strom zusätzlicher Liquidität versiegt, kommt der große Krach und die irreale Wertschöpfung verdampft.

Woher stammt die riesige Liquidität, die gegenwärtig die Aktienmärkte speist? Im wesentlichen handelt es sich um den historischen Überhang der Geldvermögen aus der Zeit des "Wirtschaftswunders" in den westlichen Ländern. Gemessen an der staatlichen und privaten Verschuldung müßte dieses Geldkapital gesellschaftlich längst entwertet sein, aber scheinbar handelt es sich um die positive Größe von realen Guthaben. Es sind die von der Hausse geblendeten Generationen der 30-50jährigen, die diese Gelder heute aus den konservativen Anlageformen ihrer Eltern und Großeltern (Sparguthaben, Staatsanleihen etc.) in die Risiko-Märkte der Aktienspekulation umschichten. In Deutschland zahlten kleine Anleger allein im ersten Halbjahr 1997 mehr als 15 Milliarden Mark in Aktienfonds ein; nach Schätzungen können insgesamt etwa 2 000 Milliarden Mark Geldvermögen eingesetzt werden. Auch in den USA flossen den Aktienfonds in den ersten sieben Monaten 1997 fast 140 Milliarden Dollar zu. Das sind die Treibsätze der globalen Spekulationsblase von der Wallstreet bis zu den dubiosen hinterwäldlerischen Wettbüros.

In den vergangenen Jahren versuchten die Staaten, mit einer neoliberalen Politik auf die heraufdämmernde Systemkrise zu antworten. Gerade durch diese Politik einer Kombination von Sparmaßnahmen, Zinssenkungen und Deregulierung der Finanzmärkte haben sie jedoch mitgeholfen, die gegenwärtige paradoxe Situation herbeizuführen. Während durch die permanenten Einsparungen die stagnative und deflationäre Tendenz der Realökonomie überall verstärkt wurde, öffnete gleichzeitig die Deregulierung alle Schleusen für die Spekulation. Die Staaten können jedoch nicht ewig auf dem gegenwärtigen niedrigen Zinsniveau sitzenbleiben. In dem Maße, wie sie selber "Fresh Money" benötigen, müssen sie die Zinsen anheben. Damit treten sie notgedrungen in Konkurrenz zu den Aktienmärkten, die Vervielfachung der Spekulation durch billiges Geld wird unmöglich und die riesige Masse fauler Kredite können nicht länger versteckt werden. Das unvermeidliche Desaster hat bereits in den entzauberten Ökonomien Ostasiens begonnen.