Die Fehler der Skinheads

Die offizielle Politik sagt den Glatzen den Kampf an, aber der staatlich sanktionierte Rassismus bleibt tabu. Matthias Spielkamp über die Russische Nationale Einheit, Polizeigewalt und die Konkurrenz um die "russische Idee".

Es ist ruhig in Woronesch an diesem Samstag im Juli. Bereits am Morgen ist es so heiß, daß nur wenige Menschen zum Wochenendeinkauf ins Zentrum der Provinzhauptstadt 600 Kilometer südlich von Moskau gekommen sind. Wer nichts Dringendes zu erledigen hat, ist zu Hause geblieben oder auf der Datscha. Um die Mittagszeit wird die Temperatur 32 Grad erreichen. Es ist ein Tag, an dem man helle, leichte Kleidung trägt. Die etwa 70 Männer und Frauen, die sich vor dem Filmtheater Spartak am Leninplatz versammelt haben, sind einheitlich in Schwarz gekleidet. Ihre Haare sind millimeterkurz geschnitten, eine signalrote Binde am rechten Arm weist sie als Mitglieder der Russischen Nationalen Einheit (RNE) aus. An diesem Wochenende findet in Woronesch der RNE-Regionalkongreß statt, zu dem Abgeordnete aus den Gebieten Woronesch, Rostow, Orlow, Tambow, Lipjetsk, Kursk, Brjansk, Belgorod und der Ukraine zusammengekommen sind. Es ist die letzte Versammlung vor dem großen Kongreß im Herbst in Moskau, zu dem die Partei 5 000 Deputierte aus dem ganzen Land zusammenbringen will, um Stärke zu demonstrieren und ihren Chef, Alexander Barschakow, zum Präsidentschaftskandidaten aufzubauen. Doch nicht nur mit der martialisch auftretenden RNE sind in Rußland Nationalismus und Faschismus wieder ins Blickfeld der Politik gerückt, auch die rechtsextreme Gewalt im Alltag hat die Presse aufmerken lassen. Zu einem Thema allerdings wurde die Bestrebungen der Rechtsextremen in Rußland erst, nachdem Medien im Ausland darüber berichtet hatten. Im Mai wurden Anschläge auf eine Moskauer Synagoge und eine orthodoxe Kirche in der Region Kostroma verübt und ein jüdischer Friedhof im sibirischen Irkutsk verwüstet; Skinheads verprügelten einen schwarzen Angehörigen der amerikanischen Botschaft auf einem gut besuchten Markt in Moskau. Zwar sind Schwarze und Kaukasier häufig Ziel brutaler Überfälle, doch in diesem Sommer rückte das Thema in ausländischen Medien in den Vordergrund. Daß Boris Jelzin in einer Rede Ende Juni das Thema Rechtsradikalismus aufgriff, wird als unmittelbare Reaktion auf die Berichterstattung des Auslands gewertet. "Vor einem halben Jahrhundert hat unser Land die Welt vor dem Faschismus gerettet", sagte der russische Präsident am Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, "aber gerade in Rußland erhebt der Faschismus erneut sein Haupt und versucht, junge Menschen zu betören. Es bereitet mir Sorge, daß nicht alle die Gefahr des Extremismus in Rußland erkennen, dennoch gibt es diese Gefahr, und sie bedroht die russische Gesellschaft." Daß Jelzins Politik, vor allem der Tschetschenien-Krieg, dieser Entwicklung Vorschub geleistet hat, ist offensichtlich. In immer neuen Aufrufen hatte der Präsident an den Patriotismus und das Nationalgefühl der Russen appelliert, "und nun suchen sich diese Gefühle eine Ideologie", interpretiert Alexeij Malaschenko die Entwicklung der vergangenen Jahre. Malaschenko arbeitet im Moskauer Büro der Carnegie-Stiftung, einer amerikanischen Forschungseinrichtung, die ihre Untersuchungsergebnisse Politikern und Journalisten zur Verfügung stellt. "Jede Partei versucht", so Malaschenko, "den Trumpf des Nationalismus auszuspielen, egal, ob es sich dabei um Jelzin handelt, Moskaus Bürgermeister Luschkow oder den gerade zum Gouverneur gewählten Alexander Lebed. Nur war der Nationalismus in der Sowjetunion gegen Juden und gegen den amerikanischen Imperialismus gerichtet, und jetzt sind die Menschen aus dem Kaukasus die bequemsten Gegner." Doch die Gewalt gegen Menschen aus dem Kaukasus geht nicht allein von Skinheads aus. In Rußland geben die Glatzen ein populäres Feindbild in den Reden der Politiker ab, die damit die staatlich sanktionierte Ausländerfeindlichkeit, den Rassismus und dessen Ausmaße zu kaschieren versuchen.

Im vergangenen Jahr untersuchte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Praktiken der Moskauer Polizei im Umgang mit Flüchtlingen und Menschen aus den Regionen der Russischen Föderation und den GUS-Staaten und konstatierte einen Abgrund von Brutalität und Willkür. Daß Angehörige von Minderheiten jederzeit fürchten müssen, ohne besonderen Anlaß von der Miliz kontrolliert zu werden, ist die Grundlage staatlicher Willkürmaßnahmen. Sollten die Kontrollierten es wagen, nach dem Grund der Überprüfung zu fragen, müssen sie damit rechnen, mißhandelt zu werden. Ebenso selbstverständlich ist, daß die Polizei zur Kontrolle in Privatwohnungen eindringt und sich auch mit Gewalt Zutritt verschafft. Anschließend werden von den Bewohnern monatliche Schutzgelder erpreßt, damit sie zukünftig in Frieden gelassen werden. Allein in der Zeit von Januar bis Mai 1997 wurden in Moskau mehr als eine Million Wohnungen kontrolliert. Diese Zahl wird auch von der russischen Statistikbehörde bestätigt. Grundlage für diese Praktiken ist ein Erlaß des Moskauer Bürgermeisters Jurij Luschkow, der eine Aufenthaltsgenehmigung für die Hauptstadt vorschreibt. Für Tschetschenen oder GUS-Bürger ist es praktisch unmöglich, die Lizenz zu erhalten. Zwar ist in der russischen Verfassung die freie Wahl des Wohnortes für Russen garantiert, doch wird dieses Recht in Moskau ignoriert. Die Moskauer, sagt Diederik Lohman, Direktor des dortigen Büros von Human Rights Watch, stehen dieser diskriminierenden Regelung wohlwollend gegenüber: "Wenn die offizielle Politik so gleichgültig reagiert oder solche offensichtlich illegalen Praktiken sogar aktiv unterstützt, ist es kein Wunder, daß sie von so wenigen als falsch empfunden werden." Seit fünf Jahren engagiert sich Gabriel Kotschofa gegen die staatliche und alltägliche Diskriminierung. Er gehört zu den Gründern der Vereinigung internationaler Studenten, die sich vor allem um die Belange von Studierenden aus Afrika, Asien und dem Mittleren Osten kümmert. "Die Polizei hilft niemals, wenn Menschen aus diesen Ländern in Gefahr sind oder sogar zusammengeschlagen werden", sagt er, "sie kommt immer erst, wenn alles bereits vorbei ist." 1993 wurden dem Verein drei Angriffe gemeldet, jetzt sind es monatlich etwa 30. Erst am Vortag sind zwei Somalier in der Butlerowa-Straße, nahe der für Überfälle berüchtigten Metro-Station Jugo-Sapadnaja, von etwa 20 Skinheads zusammengeschlagen worden, berichtet Kotschofa. Für ihn sind die Reaktionen der Miliz so erniedrigend wie die Angriffe selbst: "Kürzlich habe ich mit einem Polizeioffizier gesprochen, der mir hinter vorgehaltener Hand sagte, die Ausländer seien selbst schuld, wenn sie verprügelt werden, weil sie sich an Drogenhandel und Prostitution beteiligen. Helfen wollte er nicht." Die Polizei unternimmt wenig, solche Vorwürfe zu entkräften; so gab Alexeij Ogoreljuschew, der als verantwortlicher Beamter den Überfall auf den amerikanischen Botschaftsangehörigen untersuchte, gegenüber der Presse freimütig zu verstehen, daß die Skinheads den Fehler machten, sich das falsche Opfer auszusuchen: "Ein amerikanischer Staatsbürger und noch dazu jemand, der in der Botschaft arbeitet - das ist eine explosive Mischung, die sie in Schwierigkeiten gebracht hat. Ein Russe wäre wegen so etwas nicht zur Polizei gelaufen." Auch die RNE brüstet sich gern damit, im Zweifelsfall auch vor Gewalt nicht zurückzuschrecken. Während des Putsches im Herbst 1993 beteiligten sich RNE-Mitglieder unter Führung von Alexander Barschakow am Sturm auf das Fernsehzentrum Ostankino und an der Besetzung des Weißen Hauses. Barschakow selbst wurde verhaftet, verbrachte aber nur kurze Zeit im Gefängnis, bevor er im Zuge einer Generalamnestie wieder auf freien Fuß kam. In den Bombenanschlag auf die Moskauer Synagoge scheinen Mitglieder der RNE ebenfalls verwickelt zu sein. In einem Bekenneranruf bezichtigte sich die Organisation des Anschlags. Daß Barschakow wiederum eine Beteiligung bestreitet, deutet weniger auf die Nicht-Beteiligung als auf die mangelnde Organisation der RNE hin. Die Versammlung der RNE in Woronesch kann diesen Eindruck zumindest nicht zerstreuen. Trotz martialischer Kleiderordnung und militärischen Umgangsformen klappt hier wenig. Als ein Leiter die schwarze Formation im Befehlston in den Saal beordert, rührt sich nichts. Deshalb wird umdisponiert, und man läßt zuerst die Medienvertreter ein. Sie können beobachten, wie die etwa 100 RNE-Mitglieder so auf die Sitzreihen verteilt werden, daß der Saal gut besucht wirkt. Der Vorsitzende Barschakow ist nicht erschienen, ersatzweise verkündet sein Pressesprecher die "Befehle 31.01. und 31.02", worin ein Verzicht auf gewalttätige Aktionen angeordnet wird. Statt dessen fordert man Agitation und Unterwanderung.

Nach dem Pressesprecher treten die Abgeordneten ans Mikrofon, um in ihren Reden die Stärke der RNE und ihre großen Chancen auf dem Weg zur Macht herauszustreichen. Sprachgewalt und Eloquenz gehören nicht zu ihren Qualitäten; stotternd und zögerlich verlesen die Redner ihre Manuskripte. Nach eigener Darstellung hat die RNE 50 000 Mitglieder. Das Panorama-Forschungszentrum in Moskau allerdings geht von insgesamt nur 10 000 Mitgliedern bei allen faschistisch orientierten Verbänden aus, und auch Alexeji Malaschenko von der Carnegie-Stiftung hält die Zahl für zu hoch gegriffen: "Vielleicht haben sie 25 000 Mitglieder, aber selbst wenn es tatsächlich 50 000 wären, ist das keine große Zahl für ein Land wie Rußland." Dennoch werde hier eine sehr beunruhigende Tendenz sichtbar, denn rechtsextreme Parteien seien lediglich der erste Schritt auf dem Weg zu einer Renaissance des Nationalismus.

So werde in allen politischen Lagern die "russische Idee" beschworen, doch wisse eigentlich niemand, worum es sich dabei handele, so Malaschenko: "Ich weiß es nicht, und die meisten Politiker, die das Wort im Munde führen, wissen es auch nicht, aber es gibt Bestandteile, die nicht neu sind: Rußland ist von Feinden umgeben, aber eine sehr starke Macht, die eine große Rolle in der Welt spielen muß - alle diese Ideen wurden schon in der Sowjetunion verbreitet, und das ist auch der Grund, warum die Kommunisten hier mit auf den Zug springen." Allerdings sei die kommunistische Idee in Rußland diskreditiert, weshalb die Kommunistische Partei Gennadi Sjuganows versuche, sich mit einer Art Mischung aus Kommunismus und radikalem Nationalismus zu profilieren, die auf starke soziale Aktion setze. "Aber auch der Faschismus wird in den kommenden Wahlen stark an Bedeutung gewinnen", prognostiziert Malaschenko für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000.

Zwar hat Präsident Jelzin im vergangenen Oktober eine Kommission damit beauftragt, Gruppierungen und Publikationen auf mögliche extremistische oder faschistische Bestrebungen hin zu untersuchen; ihre Arbeit kommt aber nur sehr schleppend voran. Einerseits fehlen klare Definitionen, was als "extremistisch" oder "faschistisch" zu gelten hat, andererseits sieht die russische Verfassung keine Möglichkeit vor, Publikationen eine Lizenz zu verweigern. Auch möchte sich die für die Lizensierung zuständige Staatliche Pressekommission nicht in ihren Rechten beschneiden lassen. Als Ausweg will das Justizministerium von Artikel 13 Gebrauch machen. Danach können Organisationen verboten werden, wenn sie die nationale Sicherheit gefährden. Ob es gelingt, die faschistischen Gruppierungen nach diesem Merkmal zu klassifizieren und zu verbieten, ist allerdings fraglich. Bislang beruft sich das Justizministerium lediglich auf formale Kriterien; dem RNE etwa wurde die offizielle Anmeldung als landesweite Partei nicht wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, sondern wegen Formfehlern verwehrt. Solange die RNE nicht verboten ist, kann sie in ihren Regionalgruppen Mitglieder werben. Das Moskauer Anti-Faschismus-Zentrum schätzt, daß weiterhin etwa 150 Zeitungen und Magazine veröffentlicht werden, die extremistisches Gedankengut verbreiten. Daß diese Propaganda Wirkung zeigt, bezweifelt angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Rußland zwar kaum jemand, doch in der offiziellen Politik werden solche Zusammenhänge nicht offen angesprochen.

Bereits 1995 warnte der Vorsitzende der Pressekommission, Sergeij Grusnow, in einem Artikel in der Literaturnaja Gazeta vor dem Rechtsextremismus. Man müsse Rußland nur mit der Weimarer Republik vergleichen, schrieb er, die Parallelen seien deutlich: Der Zusammenbruch einer großen Nation, Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit, Produktionsrückgang und eine schwache Regierung - all das ereigne sich in Rußland und sei ausreichend Grund, Alarm zu schlagen. Zwei Wochen später kündigte Viktor Tschernormyrdin die Entlassung Grusnows an, und nur eine Kampagne liberaler Zeitungen und Intellektueller konnte seine Absetzung verhindern. Seitdem sind drei Jahre vergangen, und Rechtsradikale sind zum offiziellen Feindbild avanciert. Alexeij Malaschenko sieht darin lediglich eine Form von symbolischer Politik. "Faschismus und Nationalismus sind zwei sehr unterschiedliche Dinge," so der Politologe, "und mir bereitet es die größte Sorge, daß es in Rußland zur Zeit keine politische Kraft gibt, die das Land vor dem radikalen Nationalismus schützen kann oder will."