Wir waren bloß die Portiers der Modernisierung

1967 - 1968 - 1969 und dreißig Jahre danach.

Der Gestus der Rebellion benötigt heute keine Feier. Er ist marktfähig. Das Public-Relation-Vorprogramm im Kino wirbt für Apple mit Bildern von Ghandi und jungen Männern mit Dreitage-Bart, aus San Francisco, London oder Berlin, alles ausklingend in dem Motto "Think different".

Die taz erschien Ostern 1998, geschrieben von Alt-68ern. Ist diese Zeitung ein Mausoleum der Studentenbewegung...? fragte ich mich bestürzt. Auf Seite 3 hundert Zeilen über Rudi Dutschke, verfaßt von sechs Autoren, angeführt von Rainer Langhans. Am Schluß heißt es visionär: "Wir haben euch alle lieb". Ist Rainer Langhans der Guildo Horn der Revolte ?

Sie fragen: Wer ist Rainer Langhans? Ich frage: Wer ist Guildo Horn?

Und dennoch war 1968 der Wendepunkt im Leben aller, die die Veränderungen in sich selbst und in ihrer Welt wahrgenommen haben: Im Januar dringt die Tet-Offensive des Vietkong bis nach Saigon vor, im März beginnt der "Prager Frühling", der einen "Kommunismus mit menschlichen Antlitz" verheißt, im April wird Martin Luther King erschossen und Rudi Dutschke durch eine Kugel lebensgefährlich verletzt, im Mai bricht in Paris die Revolte in einer Straßenschlacht auf dem Boulevard Saint-Michel aus, im Juni wird Robert F. Kennedy durch einen Schuß tödlich verletzt, im August rollen sowjetische Panzer in Prag ein, im Oktober erschießen Soldaten in einem Massaker Hunderte von Demonstranten in Mexico-City, im November wird in Hannover auf der SDS-Konferenz der "Rechenschaftsbericht des Weiberrats" verteilt ("Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen"), am 31. Dezember 1968 gründet ein dissidenter Altkommunist die "KPD-Marxisten-Leninisten".

Das soll alles gewesen sein, jenes mythische Jahr 1968? Es war mehr, und es begann, als Massenbewegung, früher: 1967. Wir lebten in einer dichten, emphatischen Gegenwelt aus Raubdrucken, Musik und Buttons und glaubten, die Veränderung der Gesellschaft zu erleben. Die Zukunft gehörte uns, und wir meinten, Geschichte zu machen. Wir lebten in dem Enthusiasmus, dem Rausch, die Welt zu verändern, und wir lasen von der Rebellion überall: Mexico- City, Tokio, Buenos Aires, San Francisco, Bukarest, Prag, Paris, London und Rom, wir fühlten uns von einem globalen Strom der Revolte umgeben.

Wir waren jung, energisch und blind. Wir wollten eine Welt, wie sie Welt noch nicht gesehen hat (Dutschke). Mit heißen Köpfen saßen wir nachts über den "Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" von Karl Marx und lasen das Kapitel von der "Ursprünglichen Akkumulation" oder entdeckten in den "Pariser Manuskripten" die Theorie der Entfremdung vom menschlichen Gattungsleben.

Vietnam war für uns der Schauplatz des Krieges einer Macht, an die wir den Glauben verloren hatten, aber wir glaubten, unsere Flugblätter enthielten eine atemberaubende Message.

Morgens schrieben wir eine Wandzeitung im "besetzten Institut", mittags bewaffneten wir uns mit Steinen für eine Straßenschlacht, abends sahen wir gebannt die Verdoppelung unseres Lebens in den Fernsehnachrichten, ARD, schwarzweiß, und nachts redeten wir uns die Köpfe heiß, über Aufklärung durch Aktion, die nächste Kampagne und über die Arbeiter, diese rätselhafte Klasse, im Hintergrund "Revolution" von den Beatles oder "Time Is On My Side" von den Stones.

Wo es nötig war, sprachen wir uns Mut zu. Zuerst mit Hölderlin ("Wo aber Gefahr ist, wächst/Das Rettende auch") und später mit einem trotzigen Vers aus den Bauernkriegen ("Geschlagen ziehen wir nach Haus/ Die Enkel fechten's besser aus").

1968 führte Hans-Jürgen Krahl vor Gericht in seinen "Angaben zur Person" aus: "Dieser Verfall des bürgerlichen Individuums ist eine der wesentlichen Begründungen, aus der die Studentenbewegung den antiautoritären Protest entwickelte. In Wirklichkeit bedeutete ihr antiautoritärer Anfang ein Trauern um den Tod des bürgerlichen Individuums, um den endgültigen Verlust der Ideologie liberaler Öffentlichkeit und herrschaftsfreier Kommunikation." 1968 gelang uns die Entdeckung eines neuen Kontinents - die Kritische Theorie, aber auch Karl Korsch, Rosa Luxemburg, aber auch Walter Benjamin, Trotzki, aber auch Bakunin, Kropotkin. Auch: daß es auf uns selbst ankommt. Dies alles passierte uns in einer Gesellschaft, in der es gestern noch als ebenso unanständig galt, das Wort "Kapitalismus" auszusprechen wie Fisch mit dem Messer zu essen.

Aber schon 1969 war das Jahr einer wirren Demobilisierung, der Desorganisation und einer Demoralisierung, die aus der Angst vor dem Verlust kommt vor dem Verlust unserer Selbstgewißheit. "Organisationsdebatte" hieß plötzlich die allgemeine Losung, und viele nahmen auch jetzt noch ihre Wünsche für die Wirklichkeit, für die Wirklichkeit ihrer historischen Maskeraden - ob KPD oder KBW.

Wir wollten uns nicht eingestehen, daß der Höhepunkt der Revolte längst überschritten war, als wir mit Flugblättern und dem Prolet-Kult-Blick vor den Fabriktoren standen, ebensowenig ahnten wir, daß die Parole "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will" längst überholt war, weil Profit nicht mehr so entsteht, wie in der "Kurzgefaßten Geschichte der Arbeiterbewegung" zu lesen war. Und wie der Weg in die postindustrielle Gesellschaft führt, ahnten wir nur verschwommen. Die Arbeiterklasse entdeckten wir kurz vor ihrem Verschwinden.

Das Scheitern des SDS 1969 und die Flucht in die Lager der Marxisten-Leninisten gehören eng zusammen (die Flucht in den bewaffneten Kampf: RAF und ML sind zwei Seiten einer Medaille). Wir hatten zuviel eingesetzt, um jetzt aufgeben zu können: oft Ausbildung oder Beruf verlassen, der Bruch mit den Eltern und den Chefs - es gab keine Rückkehr in die bürgerliche Welt für uns. Und später schämten wir uns, daß wir uns den Ritualen des ML unterworfen hatten, Haltungen, die nie zu uns gehört haben - Antiintellektualismus, Selbstverleugnung und ein militärischer Gehorsam.

Das Beste der Revolte, Phantasie, Witz und Lebendigkeit, war jetzt verpönt, statt dessen: "politische Selbstkritik", in den siebziger Jahren die Vorform der "Political Correctness" der Neunziger. "Das bin ich gar nicht gewesen", sagt man später erschrocken, und wer dieses Trauma im nachhinein nicht bearbeitet, dem droht das Schicksal der Verdrängung und anderer psychischer Deformationen. ML hat bei vielen zu einer Entpolitisierung geführt, die zwanzig Jahre und länger dauerte.

Heute, dreißig Jahre danach, ist es das Feuilleton, das gerne über die Studentenbewegung räsoniert, und Claudius Seidl schreibt in der Süddeutschen Zeitung davon, wie Frankfurter Studenten am 27. Mai 1968 das Germanistische Institut der Universität stürmten und besetzten. "Dieter Kunzelmann hatte eine Stereoanlage mitgebracht und spielte Popmusik. Und unter den Studenten zirkulierte ein Papier der 'Ad-hoc-Gruppe-der Germanistik', das, unter anderen, auch folgende Fragen stellte: 'Was können wir mit unserer Arbeitskraft anfangen? Wie stellen wir uns sinnvolle Arbeit vor?' Die Antworten kennen der Bundesbildungsminister und die Leute aus den Unternehmensberatungen."

Ich las es und dachte: Manches darunter erfundene Revolutions-Anekdoten. Aber was er sagen will, ist richtig. Begonnen hatte in den siebziger Jahren das Zeitalter der Elektronik, der Medien, und gesucht wurde nicht mehr der Typ des unterwürfigen Angestellten aus den fünfziger Jahren, sondern "Querdenker", selbstbewußte, rebellische Köpfe, die in Garagen Computer zusammenbauen. In Europa hieß das noch "EDV", und diese elektronischen Systeme verlangten nach mehr Frauen für die Arbeit als zuvor, und so war es nur konsequent, daß die zweite Hälfte der siebziger Jahre der feministischen Bewegung gehörte, erfolgreicher als ihr Vorläufer, die Studentenbewegung.

Mit Schrecken müssen wir heute eingestehen: Wir haben 1968 nichts verändert. Wir waren bloß die Portiers der Modernisierung. Ich habe das 1974 in der Literaturzeitschrift alternative beschrieben. Der Essay hieß "Die Geschichte des Emanzipationskampfes der Germanistik ist eine Geschichte der Niederlagen". Wir sagten damals den Studienanfängern: "Wir können nur dem zum Studium der Germanistik raten, der bereit ist, es zu verändern." Dichtung war noch vermeintlich im Besitz des gebildeten Bürgertums und hatte eine weihevolle Aura.

Mein Professor in der Frankfurter Universität hieß Burger. Er war uralt für uns Zwanzigjährige, und er machte es uns einfach, ihm die Stirn zu bieten, weil er, wie alle, die in den dreißiger Jahren gelernt hatten, bestenfalls auf der Höhe der fünfziger Jahre war. Burger erklärte Hölderlin mit Heidegger und raunte vom "Ganz-Anderen, dem Exorbitanten". Wir setzten am Germanistischen Seminar der Johann-WolfgangGoethe-Universität die Politisierung der Literatur dagegen, auch ihre Erweiterung. Nicht nur Hölderlin und Goethe gehöre in den Kanon des Lehrstoffs.

Die Germanistik der sechziger Jahre, sagten wir, produziere Interesse an der Literatur als Desinteresse an der Gesellschaft. Was ist Walter von der Vogelweide gegen Hollerith - oder Microsoft? Wir proklamierten: Schafft die Germanistik ab! 1973 antwortete der Wissenschaftsrat bedächtig, ernst und mit Nachdruck: Jawohl, wir schaffen die Germanistik ab. An die Stelle dieser altväterlichen Wissenschaft von den höheren Werten soll eine Technologie sprachlicher Kommunikation treten. Natürlich, fuhr der Wissenschaftsrat ruhig fort, gehören alle geschriebenen Texte, ob Bild-Zeitung oder andere Gebrauchstexte, in das Interesse des Studenten, und der Germanist heißt ab jetzt "Fachmann für Kommunikation in deutscher Sprache". In seine Ausbildung gehören von nun an "Sprachkompetenz" und "literarisches Kommunikationsvermögen".

Ich beschrieb diesen Prozeß 1974, wollte aber nicht wahrhaben, daß die Studentenrevolte überall ähnlich gescheitert ist. Ich verspürte diese Angst, wie sie Ostdeutsche gegenwärtig durchleben: die Angst vor der Entwertung der Lebensgeschichte. Alles umsonst?

1975 hatten wir auf der ganzen Linie verloren: Der SDS hatte sich aufgelöst, Deutschland war keine Rätedemokratie, West-Berlin nicht "frei" geworden, die Drittelparität in der Universitätsverfassung durch ein höchstrichterliches Urteil revidiert, an Schulen und Universitäten herrschte das Berufsverbot, und die Rote Armee Fraktion kämpfte gegen eine hochgerüstete Polizei.

Für Frankreich, wo die Revolte mit zehn Millionen im Generalstreik die Gesellschaft viel mehr als in Deutschland aufgemischt hatte, gilt das gleiche: Die "Angstwahlen" im Juni 1968 endeten mit einem überwältigenden Triumph für die Regierung. Sozialisten und Kommunisten verloren die Hälfte ihrer Mandate. Sie brauchten dreizehn Jahre, um sich von diesem Schlag zu erholen. 1998 lautete in Frankreich die Frage: Wärt ihr selbst '68 gern dabeigewesen? 54 Prozent der 18- bis 30jährigen antworteten mit: Nein.

Woher kommt es, daß man heute dennoch den Satz aussprechen kann, 1968 war "die erfolgreichste Niederlage der Geschichte" (Peter von Becker)?

Eine hübsche Formulierung, und sie bringt mir die Umkehrung dieser rhetorischen Figur in den Kopf: Die 89er sind die erfolglosesten Sieger der Geschichte. Aber wie so oft, ist es nur der Charme der Formulierung, der überzeugt. Sachlich ist sie falsch, denn wenn man schon historisch so weit ausholt, ist sicher die 48er Revolution die erfolgreichste Niederlage der Geschichte.

Aber haben nicht 1848 und 1968 etwas gemeinsam, haben sie nicht einen Stein ins Rollen gebracht? An 1848 haftet zwar der Ruch des Scheiterns, aber was ist Sieg und Niederlage im historischen Kontext? Volkssouveränität, Freiheit und eine Öffentlichkeit ohne Zensur, die 1848er haben Maßstäbe gesetzt, an denen man sich später orientierte. Hannah Arendt schrieb in einem Brief an Karl Jaspers: "Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848."

1968 riefen Schwule in Berlin auf Demonstrationen mit den Leuten vom SDS: "Freie Sexualität für alle!" In San Francisco hieß es zur gleichen Zeit: "Ho-Ho-Homosexual - the status quo is ineffectual!" Und siehe da: Der Paragraph 175 wurde in Westdeutschland 1969 abgeschafft. Nicht nur das: Am 1. Dezember 1966 hatte die Vereidigung der Regierung der Großen Koalition stattgefunden, und Gustav Heinemann Richard Jäger als Bundesjustizminister abgelöst, einen Hardliner, der es heute mit Schönbohm oder Gauweiler aufnehmen könnte.

Im Mai 1968 beschloß der Bundestag ein Gesetz zur Änderung des politischen Strafrechts. Die meisten Straftatbestände des Abschnitts "Staatsgefährdung" verschwanden (Kontakt und Meinungsdelikte, "Geheimbündelei" etc.). Die Gesellschaft wurde ziviler, offener und toleranter, was man leicht im Vergleich mit der DDR feststellen konnte, jenem "Deutschland minus 68" (Kraushaar).

Allerdings war 1968 nicht das, was Verleger und Lektoren palavern, wenn sie über ihre Jugend reden, bei der Vorstellung eines Buches über jenes Jahr: die goldenen Sechziger, Pop und Revolution, eine Zeit, die alles in Deutschland verändert hat, die Studentenrevolte als Gründungsmythos der Republik. Anschließend wird Sekt und Lachs gereicht.

Vor ein paar Wochen nahm

ich in Baden-Württemberg an einer kuriosen Begegnung teil: Es trafen sich frühere Mitglieder des SDS Tübingen - viele Männer, einige Frauen. Ich fragte die einzelnen süffisant: "Wie dient ihr heute der bürgerlichen Gesellschaft?" Die meisten verteilten sich auf die Berufe der sozialen Arbeit und der Kultur. Als sie von sich erzählten, mußte ich an meine Freunde in Afrika denken, die dort in der Entwicklungshilfe arbeiten. Sie geben viel Geld aus, oft versickert es in den unergründlichen Kanälen der Korruption, aber was am Ende sicher ist: Entwicklungshilfe fördert die Entwicklungshelfer. Meine Freunde gewannen in Afrika offensichtlich an Fähigkeiten der Diplomatie, der Verhandlung und Organisation, sprachen geläufig Weltsprachen wie Stammesdialekte, kurz, sie waren gewachsen, wie ich es nie geahnt hätte.

Daran mußte ich denken, als ich ehemaligen SDSlern aus Tübingen begegnete. Wir hatten nicht die Welt verändert, aber uns selbst. Übermütig und ironisch skandierten wir 1968 auf Demonstrationen: "Wir sind eine kleine radikale Minderheit" - ursprünglich eine Haßparole des Westberliner Bürgermeisters Klaus Schütz. Wir konnten so siegesgewiß sein, weil wir mehr von der Veränderung der Welt ahnten als Springers Bild. "Gewiß", schreibt Italo Calvino, "wir haben die Politik vielleicht jahrelang übertrieben wichtig genommen, während das Leben doch aus so vielen Dingen besteht. Aber diese gutbürgerliche Leidenschaft hat unserer kulturellen Bildung ein Gerüst gegeben. Wenn wir uns für viele Dinge interessiert haben, dann genau deswegen."

Beschreibe ich hier gesellschaftsblind ein Happy End von '68 ? Keineswegs. Ich weiß, daß sich die Veränderungen Ende der sechziger Jahre in einer Gesellschaft der grenzenlosen Mitte vollzogen. Heute leben wir in einer reichen Gesellschaft der Knappheit. In Ostdeutschland gibt es eine breite rassistische Subkultur der Jugend - No-go-areas für Schwarze und Gelbe.

Aber nehmen wir Berlin als Beispiel. Die Stadt ist durchsetzt von zahllosen Gesprächsgruppen, halböffentliche, regelmäßige Treffs, die in keinem Veranstaltungskalender stehen. Früher war es das Tabakcollegium oder der Salon, und heute nehmen an diesen Meetings mal 20, mal 200 Menschen teil. Aber fast all diesen Gruppen fehlt der Katalysator zur politischen Öffentlichkeit. Ich glaube, daß der Umzug der Regierung nach Berlin mehr verändern wird, als wir heute ahnen. Vielleicht wird es eine Revitalisierung politischer Kultur außerhalb der Parteien geben, auch jenseits der One-Point-Movements. Ein alter Freund von '68 sagte mir neulich: "Wir müssen nicht im Erfolg, wir müssen im Risiko leben." Ich hätte ihn in die Arme nehmen können für diesen Satz.

Peter Mosler lebt als freier Autor in Berlin.